gescholten hatte, wenn sie nicht schnell genug mit der Frisur fertig war; wie sie die Ärmste oft zur Verzweiflung gebracht, wenn sie den Kopf auf die Romane neigte und dennoch jähzornig schalt, wenn die Kammerfrau jammerte: „Es ist unmöglich! Vicomtesse müssen das Köpfchen hoch und gerade halten!“ —
Nun hielt sie den Kopf hoch und gerade, aber es war ihr dennoch unmöglich, das Haar zu bändigen. Voll Heftigkeit schüttelte sie es schliesslich in den Nacken zurück. „Nun gut — dann hänge, wie du hängen willst!“ und sie band es mit einer Schleife zusammen und freute sich, dass sie künftig hin schneller fertig sein werde. — O Himmel, welch eine Last ist es doch, für sich selber sorgen zu müssen! Jeder abgerissene Knopf, jedes Band, jeder Nadelstich werden zu den schwierigsten Hindernissen! Aglaë sehnt Madame Laurence nicht zurück. Die Person hat unendlich viel Wohlthaten von ihr genossen, und dennoch versetzte auch sie der toten Löwin noch den Eselstritt beim Scheiden! — Brutal, impertinent markierend, dass aus der Millionärin eine Bettlerin geworden, so verabschiedete sich Laurence ebenso wie alle anderen Dienstboten, welche es Aglaë zuerst in nacktester, ungeschminktester Klarheit zeigten, dass nur das Gold krumme Rücken erzwingt, und dass es ein gar kläglich Ding ist, arm und verlassen zu sein! —
Seit ihren bösen Erfahrungen, welche sie in der Gesellschaft gemacht, hatte Aglaë den Glauben an die Menschheit verloren und das Benehmen ihrer Dienstboten erbitterte sie vollends und riss noch den letzten rosigen Schleier von ihren Augen, welcher die Welt in lichten Farben erscheinen liess. — „Des Daseins ganzer Jammer“ fasste sie an, ein Gefühl grausamster Ernüchterung stahl sich in ihr Herz, und am schwersten und herbsten, was sie in all ihrer Armut betraf, empfand sie den Verlust ihres Glaubens an die Menschheit. — Das Benehmen ihrer Dienstboten hatte sie immer noch mit der Ungebildetheit dieser Leute entschuldigen wollen, aber die Erfahrungen, welche sie auch in den Kreisen derer machte, welche sie für ihre Freunde gehalten, die nahmen ihr auch noch den Rest der freudigen Zuversicht, mit welcher sie ihre neue Laufbahn betreten. —
Welch absonderliches Gefühl, als Aglaë Besuche abstatten wollte und kein Diener, kein Kutscher und keine Equipage mehr da waren, welche ihrer Befehle harrten. — Der Gedanke, eine Droschke oder gar eine Pferdebahn besteigen zu müssen, war ihr entsetzlich, sie zog vor, stolz zu Fuss zu gehen. —
Wenn man in dem weichen Atlaspolster eines Wagens liegt, kennt man keine Entfernung, aber wenn man die langen Strassen Schritt für Schritt messen muss, dann merkt man erst, wie weit das Ziel ist. —
Todmüde erreichte Aglaë die Wohnung der ersten Säugerin, welche früher so manches Diner im Hause des Kommerzienrats besucht und sich stets himmlisch dabei amüsiert hatte! — Lehnberg hatte ihr einmal als Dank für ein Lied ein Brillantarmband überreicht’, welches mehr wert war, wie das ganze Vermögen, welches die Vicomtesse jetzt noch ihr eigen nannte. —
Das Kammerzöfchen musterte die ihr wohlbekannte verarmte Millionärin mit neugierig dreisten Blicken und schien es als grosse Huld zu betrachten, wenn sie sich überhaupt die Mühe nahm, sie zu melden. —
Nach recht langer Zeit erschien sie wieder und brachte die schnippische Antwort, dass ihre Herrin beim Frühstück sei, und da sie Gäste bei sich sähe, könne sie sich nicht gut stören lassen! Wenn Frau von Saint Lorrain ein Anliegen habe, möge sie sich doch schriftlich an ihre gnädige Frau wenden.“ —
Das Blut stieg Aglaë in die Wangen und raubte ihr fast die Besinnung; sie neigte kurz den Kopf und ging. —
Bei einer andern Künstlerin traf sie es nicht viel besser. Sie begegnete ihr allerdings auf der Strasse, aber Fräulein Dornée schien sie zuerst gar nicht zu erkennen und entschuldigte sich alsdann recht malitiös, sie habe die Frau Vicomtesse wirklich gar zu lange nicht gesehen, — als der Herr Kommerzienrat geadelt worden sei, habe sie ihren Besuch gemacht, um zu gratulieren, aber sie habe nie wieder etwas von den Herrschaften gehört! — Die junge Frau glaubte in den Boden sinken zu müssen vor Verlegenheit und begriff es selber nicht, wie sie den Mut gefunden, dieser Dame von ihren Zukunftsplänen zu sprechen. „Wie? Sie wollen zur Bühne? Singen Sie denn überhaupt? O — ja! ich entsinne mich jetzt — eine kleine, zarte Stimme! Mon Dieu, damit wollen Sie eine Opernpartie riskieren? Undenkbar, Verehrteste! ich rate Ihnen energisch ab! Warum werden Sie nicht Schauspielerin? Sie haben dabei doch bedeutend mehr chance! Sie glauben, ich könne etwas für Sie thun? O, Teuerste, welche Naivität! Ich bin einer Regie und Intendanz gegenüber direkt machtlos! — Bedaure sehr, Ihnen bei dieser Carriere absolut nicht behilflich sein zu können!“ —
Und so ging es weiter. Bei den meisten Damen ward sie überhaupt nicht empfangen; die eine hatte Migräne — die andere rief mit lauter Stimme im Nebenzimmer: „Sagen Sie, ich sei ausgefahren!“ — Und wo Aglaë angenommen ward und bereits sehr mutlos ihre Bitte vortrug, sie wünsche Stunden zu nehmen, um sich für die Bühne ausbilden zu lassen, da wehrte man mit solcher Hast ab und versicherte, dass jede Stunde „besetzt, — und beim besten Willen keine mehr einzuschieben sei“, — dass es die junge Frau sehr schnell empfand: Man hatte Angst von dieser Bettlerin keine Bezahlung für die Stunden zu erhalten! —
Es war Aglaë zu Mute, als müsse sie laut aufschreien vor Qual, Scham und Verzweiflung. Sie mied die Strassen, wo ihr Bekannte begegnen konnten, sie zitterte in dem Gedanken an neue Demütigungen. — Der Boden brannte ihr unter den Füssen.
Da kam ein letztes, welches ihren Entschluss, die Residenz zu verlassen, zur Reife brachte. — Ein bereits älterer Sänger, welchen sie aus früherer Zeit auch persönlich als einen der cynischsten und frivolsten Menschen kannte, schrieb ihr ein Billet. Er hatte davon gehört, dass sie Gesangstunden nehmen und zur Bühue gehen wollte. Er bot ihr seine Hilfe und Unterstützung an, ja er verlangte nicht einmal sein Stundenhonorar in klingender Münze ausgezahlt! — Der Inhalt und Ton dieses Schreibens trieben Aglaë Thränen der Empörung und der Scham in die Augen. Sie schleuderte den Brief von sich und presste voll leidenschaftlichen Schmerzes die Hände gegen die Brust. „O Hans! Hans!“ stöhnte sie auf, „ja, du hast recht gehabt — Kränkungen bis zur Schmach!“ — und sie trat zum Licht und vernichtete das Billet in der Flamme. Der rote Feuerschein zuckte über ihr bleiches Antlitz, welches den Blick voll stolzer Energie so starr geradeaus richtete, als sähe sie im Geiste eine hohe Männergestalt vor sich stehen wie damals, als sie aus ihres Vaters Hause scheiden musste. — „Ja, Hans — ich bleibe brav und gut!“ murmelte sie. Und dann ging sie energisch an das Werk, ihre Koffer zu packen. — Fort von hier! Hinaus in die fremde Welt, wo niemand sie und ihr traurig Schicksal kennt, wo sie sich flüchten und verbergen kann vor all den Geisselhieben des Spottes und der Erniedrigung, welche sie hier gefoltert haben. Auf die Hilfe ihrer Freunde durfte sie nicht zählen, sie musste vorwärts aus eigener Kraft, vorwärts zum fernen, fernen Ziel. —
An einem Konservatorium kann sie wohl am besten und unbemerktesten ihre Studien machen, und sie wird in jener fremden Stadt unbekannt sein wie all die tausend dunklen, schlichten Frauengestalten, welche arm und verlassen durch die Strassen schreiten, sich ihr täglich Brot zu verdienen. Der hochklingende Name, welcher ehedem ihr höchstes Ziel und ihre stolzeste Sehnsucht gewesen, den wirft sie von sich wie ein schweres, auffallend buntes Gewand, welches bei der Arbeit hindert und der Hand und dem Fuss nur im Wege ist. —
„Aglaë Lorrain“ steht auf dem weissen Papier, welches drei Treppen hoch an der Flurthür der Frau Rätin Barnexius angeheftet ist. — Unter dem Schutz dieser alten Dame, welche möblierte Zimmer an Schülerinnen des Konservatoriums vermietete, lebte die Vicomtesse von Saint Lorrain still und zurückgezogen, voll fiebrischen Eifers studierend von früh bis spät. Und niemand kannte sie, und niemand ahnte es, dass dieses kleine, unscheinbare Fünkchen unter der Asche ehemals ein so hellfunkelnder Stern am Himmel der Millionenanbeter gewesen.
XVI.
Mich friert! Was thut’s? Im Grab ist’s kälter noch als hier! —
(Prophet.)
Das war ein rastloses Lernen und Studieren! Man hatte ihr freilich gesagt, die Stimme sei nicht sehr bedeutend, aber es könne doch wohl noch etwas Brauchbares aus ihr gebildet werden! — Das war der Strohhalm, an welchen sich Aglaë klammerte.
Frau Rätin Barnexius hatte sich anfänglich sehr um ihre