Nataly von Eschstruth

In Ungnade - Band I


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der Klang von Hader und Streit bis in die tiefsten Träume verfolgte.

      Und dann kam eine Zeit bleierner Ruhe. Seine Mutter war in unbeschreiblich gereizter Stimmung und schloss sich viel ein, — der Oberstleutnant war selten zu Hause, entweder versah er seinen Dienst, oder er huldigte seiner Passion auf dem Rennplatz.

      Wie still, wie entsetzlich öde war es in dem grossen Haus! Aurel sass noch tief in der Nacht bei seinen Arbeiten, und er lehnte die heisse Stirn auf die verschränkten Arme und hätte aufschreien mögen vor Herzeleid. — Wie Heimweh überkam ihn die Sehnsucht nach einem einzigen lebenden Geschöpf, welches er mit aller Überzeugung lieb haben könnte! Und wär’s nur ein Hund, ein treuer, braver Hund, er wollte sich an ihn klammern, wie an eine Planke inmitten der wirbelnden Lebensflut, welche ihre ekelhaften Untiefen von Falsch, Gemeinheit und Verrat nur zu oft schon vor seinen jungen Augen aufgerissen! Nur ein einzig lebendes Geschöpf, das er lieben kann, und das ihn wieder liebt! — Seine Augen brennen, er möchte weinen und aufschreien in seiner Verlassenheit.

      Da laufen eilige Schritte über den Korridor, vor seinem Zimmer zögern sie momentan. Dann wird die Thüre aufgerissen. Die alte Christiane steht vor ihm, einen wunderlichen Ausdruck im Gesicht, halb boshaft, halb mitleidig.

      „Sie sind noch munter, Herr Aurel? Na, dann kommen Sie nur mal mit und sehen Sie sich die Geburtstagsbescherung an, die Ihnen die Mama für morgen aufgetischt hat! Hihi, ein Brüderlein! ein kleiner Dahlen! Nun ist es nichts mehr für Sie mit der dereinstigen Erbschaft! — A bah, werden sich schon selber durchs Leben schlagen, Sie sind ja ein so kluger, junger Herr.“

      Aurel starrt sie an wie im Traum. „Richtig, morgen ist ja mein Geburtstag“, murmelte er, „und was hat man mir aufgebaut? Ein Brüderlein? Was heisst das?“ Und dann wie in jähem Verstehen aufspringend, umklammert er den Arm der Alten und schreit auf wie in gellendem Jubel: „Einen Bruder, einen kleinen Bruder habe ich?“

      „Na na, für Sie ist die Freude dabei wohl nicht so arg“, schüttelt Christiane seine Hand unwirsch von sich ab. „Warten Sie nur noch ein paar Jährchen, dann werden Sie schon sehen, was das kleine Maul Ihnen für einen fetten Brocken wegschluckt!“

      Aurel hörte kaum noch, was sie sagt, sein Herz klopft ihm hoch im Hals, er hat nur das Gefühl, als müsse er die widrige Schwätzerin mit Fäusten zu Boden schlagen und dann zu dem kleinen Bruder eilen, diesem Himmelsgeschenk, welches der barmherzige Herrgott selber für ihn, den Armen, Einsamen, in die Wiege drunten gelegt!

      Leise, vorsichtig tritt er in das matterleuchtete Gemach, weit entfernt von dem Schlafzimmer seiner Mutter, in welches man die Wiege mit dem Neugeborenen gestellt. So feierlich ist es ihm kaum zu Mut gewesen, wenn er Sonntags in die Kirche getreten; er hält den Atem an und blickt starr auf die grünseidenen Vorhänge, hinter welchen ein Wesen atmet, das ihn wie durch Zaubergewalten zu sich heran zieht. Ein unendlich zartes, aber frischkehliges Geschrei begrüsst ihn, und wie Aurel behutsam die Stofffalten beiseite zieht, blickt er hochklopfenden Herzens in ein Kindergesichtchen, hochrot und ärgerlich verzogen vom Weinen, und zwei kleine, wunderkleine Händchen regen sich auf der Decke, als ob sie sich dem Bruder vorwurfsvoll entgegen heben wollten, „du siehst, wie man mich vernachlässigt, komm und hilf mir!“

      Voll Entzücken fasst Aurel das winzige Patschchen, und Wunder über Wunder, der Kleine umklammert den Finger mit kräftigem Fäustchen, hält sich fest, ganz fest an ihm und schliesst die Augen zum Schlaf, als sei er nun zufrieden gestellt.

      Wie ein Aufjubeln unbeschreiblicher Freude geht es durch das Herz des einsamen Knaben, er hält die Hand regungslos, zieht sich mit der Linken leise einen Stuhl heran und setzt sich neben der Wiege nieder.

      Die Amme kommt und sieht nach dem Kind; es schläft, und die Bäuerin stampft träg und müde in das Nebenzimmer zurück.

      So war Aurels Platz seit der ersten Stunde an der Seite des kleinen Bruders gewesen, und er blieb es sein Leben lang. Als Ortwin der Amme entwachsen war und Tag und Nacht mit gar kräftig durchdringendem Stimmlein das Elend durchbrechender Zähne beklagte, als die Kinderfrau in unwirscher Weise über den Schreihals klagte und seine Mutter ebensowenig Zeit hatte, wie ehemals für den ältesten Sohn, da wunderte man sich kaum und verwehrte es durchaus nicht, als Aurel eines Tages das Kinderbettchen mit starken Armen fasste, es in sein Zimmer neben sein eignes Lager zu tragen. Da nahm er stummen, aber energischen Besitz von dem Brüderchen, und dieweil er über seinen Arbeiten sass, bewegte er mit der freien Hand den Babywagen, unterbrach sich, den Kleinen mit rührender Geduld zu speisen, mit ihm auf dem Arme stundenlang in der Nacht umher zu wandern, ihn zu hegen und zu pflegen. Man freute sich eines solch braven Bruders, der nie ein Wort darüber verlauten liess, ob ihm ein solch mühevolles Kinderwarten Last oder Vergnügen sei, dessen Augen aber in unbeschreiblichem Entzücken strahlten, sobald ihr Blick auf dem kleinen Herzblatt ruhte. Er stürmte aus dem Gymnasium heim, warf die Bücher von sich und hob das Brüderchen voll schier mütterlicher Zärtlichkeit an die Brust empor, wenn der Kleine ihm voll Jubel entgegenkrähte; jede freie Minute gehörte Ortwin, und je mehr das stramme, blonde Bürschchen heranwuchs, je fester und inniger verschmolzen die Bruderherzen in Liebe und treuer Kameradschaft. Aurel war dem Kleinen alles. Anfänglich teilte er zwar noch des Brüderchens Liebe mit dem Oberstleutnant, welcher in seiner Art das Söhnchen verhätschelte und viel herzliche Freude an dem heranwachsenden Bübchen hatte, als aber eines Tages der Vater im stolzen roten Kleid zur Parforcejagd geritten und nicht mehr heimgekommen war, sondern mit gebrochenem Rückgrat im kleinen Jagdschloss Föhrheide lag — da war Aurel dem verwaisten Knaben Vater und Bruder zugleich geworden. Nun gehörte ihm Ortwin ganz und gar zu eigen, und niemand machte ihm mehr seinen Besitz streitig, denn die verwitwete Frau von Dahlen liess ihrer Reisepassion nun vollends die Zügel schiessen, und Ortwin hörte nur von seiner Mutter, wenn der Bruder ihm aus flüchtiger Postkarte vorlas, wo Mama sich zur Zeit amüsiere.

      Aurel lebte nur noch für sein Brüderchen; jede Faser seines Herzens gehörte ihm. Er pflegte ihn während seiner Krankheiten, er spielte und lernte mit ihm, er wachte über ihn, wie über ein Heiligtum. Da war kein Gedanke in Ortwins Herzen, welchen der abgöttisch geliebte und verehrte, stille, ernste Bruder nicht gewusst hätte, und wie ein Vater seinen Liebling vor jedem Gifthauch der Welt hüten möchte, so hielt Aurel die Hände über das einzige Wesen, welches ihm Leben und Dasein lieb machte, voll eifersüchtiger Angst bemüht, ihn allem fern zu halten, was Weib hiess, denn die Frauen waren die düstern Schatten, welche ihm Herz und Seele seit Kind auf in Nacht gehüllt hatten.

      Ortwin wuchs empor, ein frisches, glückseliges Kind, ein Knabe von sprudelnder Heiterkeit, voll Lebenslust und reicher Begabung, dem aber zu Aurels heimlichem Kummer auch jener eine Tropfen leichten Blutes als mütterliches Erbteil überkommen, welcher sich flott und gewissenlos über Schranken hinweg setzt, welche die Pflicht zieht. Aurel erkannte die Gefahr, und wie ein guter Gärtner war er rastlos bemüht, dieses eine Pflänzlein Unkraut zu roden und auszumerzen, eine Arbeit, welche der liebe Herrgott zu segnen schien, denn das liebe, sorglos lachende Gesicht gewöhnte sich daran, ernster zu schauen und zu denken, als man bei so grosser Jugend verlangen konnte. Aurel erweckte ihm ein fast übertriebenes Ehrgefühl, und aus Sorge nichts zu dulden, was bei Ortwins leichter Beanlagung zum Unsegen für ihn werden könne, erzog er ihn in fast pedantisch strengen Grundsätzen, welche sich wie sichere Anker an des Schmetterlings kecke Schwingen hängen sollten. Möglich, dass er darin zu viel that, aber — kann man des Guten je zu viel thun? Kann Rechtlichkeits- und Pflichtgefühl je zu gross sein?! Aurel meinte es so gut, seine ganze Seele wurzelte ja in dem kleinen Liebling, seine einzige Mission auf der Welt war es ja, im Sorgen, Hüten, Pflegen und Beschützen des Bruders aufzugehen.

      Das einzige Glück, welches er noch neben Ortwin kannte, war sein Studium. Er hatte keinen grösseren Wunsch, als sein Leben im stillen Studierzimmer zu fristen, in ernstem Forschen und Schaffen zum Segen der Menschheit zu werden. Sein Abiturientenexamen war glänzend bestanden, nun sollte es auf die Universität gehen, selbstverständlich auf diejenige der hiesigen Residenz — Ortwins wegen, denn trennen konnte und durfte er sich ja nie von dem Kleinen!

      Da kam ein schwerer Schlag, und wieder war es eine Weiberhand, welche voll sündhaften Leichtsinns all sein geträumtes Glück zerschmetterte. Seine Mutter kehrte hochgradig nervös und übellaunig von ihren Reisen zurück, weil sie der Mangel an Geld heimgetrieben.