geglaubt, vollständig verbraucht war. Herr von Dahlen aber hatte sein grosses Vermögen dem Sohn Ortwin sichergestellt und seiner Gemahlin, mit welcher er sehr unglücklich gelebt, nur eine bescheidene Rente ausgesetzt. Da war Aurel durch den Leichtsinn der Mutter zum völlig mittellosen Menschen gemacht; an Studieren war kein Gedanke mehr, und mit knirschenden Zähnen, voll unsagbarer Erbitterung, musste sich der junge Mann entschliessen, in billiger, weltferner Garnison als Avantageur einzutreten. Ein alter Onkel von ihm, leidenschaftlicher Soldat, versprach den Neffen zu unterstützen, falls er sich entschliessen wolle, Offizier zu werden und in seinem alten Regiment einzutreten. Aurel wurde ungern Soldat. Er fühlte sich herausgerissen aus den Bahnen seiner ureigentlichen Bestimmung, und das machte den so wie so schon ernst und finster beanlagten jungen Mann noch unzugänglicher und pessimistischer, als zuvor. Von Ortwin aber trennte er sich nicht. Wie ein Verzweifelter bekämpfte er die Schwierigkeiten, welche ihm Ortwins Vormundschaft in den Weg legte, und setzte es nach langen Mühen durch, dass der Stiefbruder ihn in die norddeutsche Garnison begleitete, die dortige Schule zu besuchen. Er selber hatte sich anheischig gemacht, für die Studien des jungen Dahlen zu sorgen, und da man seinen Kenntnissen sorglos vertrauen durfte, so liess man ihn nicht nur Vater und Bruder, sondern auch Lehrer des Knaben sein. Die Geselligkeit der kleinen Stadt existierte nicht für ihn, er zog sich völlig zurück und widmete jede dienstfreie Minute dem Bruder. Man nahm es ihm seltsamerweise nicht übel, im Gegenteil, das rührende Verhältnis dieses ungleichen Brüderpaares bildete lange Zeit das Gesprächsthema der ganzen Stadt, und manches Frauenauge weilte voll herzlichen Wohlgefallens auf den beiden, wenn sie einträchtiglich und voll inniger Zärtlichkeit Arm in Arm daher wandelten.
Wie zu einem lieben, unfehlbaren, andächtig verehrten Meister blickte der goldblondlockige Knabe mit dem rosigen Gesicht und den blauen, lachenden Augen zu dem jungen Offizier empor, der hoch, schlank, blass und ernst an seiner Seite schritt und dennoch so unbeschreiblich zärtlich zu dem Kleinen herniederlächeln konnte.
Man sprach viel darüber, auch über die mehr als sonderbare Mutter der beiden, deren Leumund ein erschreckender war, dessen schrille Missklänge selbst bis hierher in die weltferne kleine Stadt getragen waren. Die jungen Damen schwärmten heimlich für den interessanten Herrn Heusch von Buchfeld, welcher so gar keine Notiz von ihnen nahm, sondern mit seinem kalten, finsteren Blick so gleichgültig über sie hinweg und an ihnen vorüberschaute, als wandle er mutterseelenallein durch ein Feld von Kohlköpfen.
Verlangte es die kameradschaftliche Pflicht, dass er in geselligem Kreise im Haus seiner Vorgesetzten erschien, so stand er nach steifem Kompliment vor den anwesenden Damen, mit irgend einem älteren Herrn in mehr oder minder lebhafter Unterhaltung in einer Ecke, und musste er eine Dame zu Tisch führen, so war er ein so schweigsamer Nachbar, dass den Gastgebern der Angstschweiss ausbrach, und er das nächste Mal als überzähliger Herr den chevaleresken Verpflichtungen enthoben wurde.
Man nahm es ihm nicht übel; er war nun einmal solch wortkarger, wunderlicher Heiliger, und gerade dieses damenfeindliche Schweigen machte ihn so interessant und gab ihm in den Augen der Mütter und Töchter einen ganz besonderen Nimbus. Nun sollte und musste er erobert werden!
Die bildschöne, etwas leichtlebige Frau eines Kameraden versuchte es mit Kokettieren, — einmal und nicht wieder. Es lag ein so unbeschreiblicher Ausdruck in den düsteren Augen, welche ihr schier zornig entgegenflammten, ein so verächtliches Zucken um die schmalen Lippen des jungen Offiziers, dass es der „Madame Potiphar“ höchst unbehaglich über den marmorweissen Nacken rieselte. Sie ward verlegen, belachte ihren riskierten Scherz allein und wandte sich nach einem zweiten missglückten Versuch, ihren unzugänglichen Nachbar mit feurigsten Augenblitzen zu entflammen, zu ihrem Tischherrn, um demselben mit schaudernd hochgezogenen Schultern zu recitieren: „Mich friert, mich friert, ich möcht’ zu Hause sein!“ Sie fand bei ihm glücklicherweise mehr Verständnis für „leben und leben lassen“, und als sie später an das Klavier trat und in ihrer Soubrettenmanier die modernsten Couplets sang, da zuckte ihr Blick voll Ironie zu dem „prüden Joseph hinüber“, als sie mit schelmischem Knix trillerte:
Überm Baum, unterm Baum
D’s Eichelkatz springt.
Sucht sich a anner’ Nuss,
Wann’s die a net aufbringt!
Sang’s und that’s.
O, wie hasste, wie verabscheute Aurel diese Weiber mit dem weiten Gewissen und der laxen Moral! Lachen und singen, „immer mit leichtem Sinn tanzen durchs Leben hin“, um dabei mit schneeweissen Händchen das Lebensglück der eignen Kinder zu untergraben! Eine wie die andere. Sie tragen nur verschiedenfarbene Mäntelein, das Truggold der Satanellenflitter damit zuzudecken.
Kokettieren verfing nicht bei dem wunderlichen Patron, das sahen die Damen bald ein, und für „anschmachten“ und „anschwärmen“ hatte er vollends kein Verständnis. Ein ältlicher Blaustrumpf versuchte ihn durch geistvolle Unterhaltung zu reizen, aber sie hatte die Kenntnisse des blassen Leutnants unterschätzt und nicht geglaubt, dass er so nervös und ungeduldig werden könne, wenn eine Dame gelehrten Unsinn redet, darum war sie über seine „schroffe Lehrmeistermanier“ pikiert.
Aurel aber hatte in ihr eine neue, höchst unangenehme Species von Frauen kennen gelernt, und er legte die Hand auf den blonden Lockenkopf des Lieblings und seufzte: „Könnte ich dich doch vor der Schlange im Paradiese schützen, mein Ortwin! Mit den Löwen und Tigern wirst du schon allein fertig werden, aber die Versucherin steckt in gar schillernder Haut und gleitet so sacht — und ringelt sich so fest um die starken Männerherzen, dass sie ihr unterthan werden.
Und wenn er mit Ortwin die Klassiker las, so runzelte er oftmals die Brauen, wenn der heranwachsende Knabe voll feuerblütiger Begeisterung sich seine Ideale unter den Heldinnen wählte. Und welch einen gefährlichen Geschmack hatte er! Eine „Prinzessin Eboli“, eine „Adelheid“ im Götz von Berlichingen, eine „Helena“, die durch ihre treulose Flucht so namenloses Kriegselend heraufbeschworen hatte, interessierten ihn bei weitem mehr, wie eine „Amalia“ oder „Iphigenie“, und wenn Aurel ihm zornblitzenden Auges die Schlechtigkeit und Gefährlichkeit solcher Weiber klar legte, so warf der Bruder mit selig leuchtenden Augen das lachende Angesicht zurück, breitete die Arme weit aus und rief: „Aber sie sind ja so schön, Aurel! Siehst du, die Eboli denke ich mir gerade so, wie die Frau Leutnant von Barning, die den Spitznamen „Madame Potiphar“ bei dir hat. Siehst du, der bin ich heute auf dem Eise eine Stunde lang nachgelaufen, nur um sie anzusehen. Wie war sie so entzückend hübsch, als sie mit deinen Kameraden scherzte und lachte. Und denk doch, mir hat sie auch zugenickt — nicht einmal, nein zweimal!“
Aurel biss die Zähne zusammen, und er ward diesmal so unbarmherzig und erschreckend in seinen Zornreden gegen alles, was da Weib hiess, dass der Bruder ganz erschrocken verstummte. Einmal aber kam er mit hochgerötetem Kopf und strahlenden Augen und hielt ein Buch in der Hand: die Familiengeschichte der Dahlen, welche sein Onkel, der kommandierende General, ihm zur Konfirmation geschenkt hatte. Da stand die alte Familienlegende von dem Kunibert zu lesen, der seiner so treu und hoffnungslos geliebten Prinzessin Emma zum Lebensretter wurde, der stolz seine eigne Brust darbot und, tödlich getroffen, zusammensank mit dem ritterlichen Rufe; „Bin ich ein Schandbub, dass ich ein Weib verrate?!“
„Wenn die Frauen allesamt so schlecht und bösartig wären, wie du meinst, Aurel, würde dann mein Ahnherr eines so herrlichen Todes für die Dame seines Herzens gestorben sein?“ rief er in flammender Begeisterung.
Da war ein schwerer, mächtiger Felsen auf die sorgsam gehütete Lebensbahn geschleudert worden, und wenn Aurel auch dem Bruder an der Hand wissenschaftlicher Forschungen die Nichtigkeit dieser Tradition nachweisen konnte, da die Prinzessin Emma niemals mit Einhard, dem Biographen Karls des Grossen, entflohen ist, so stiess er diesmal auf hartnäckigen, beinahe trotzigen Widerstand bei dem so leicht entflammten jungen Menschen. Gerade in den schwärmerischsten Jahren stehend, hatte er diese herrliche Legende voll Begeisterung aufgenommen, hatte die Worte des Ahnherrn als Devise auf dem Schild geschrieben, unter welchem er für das ewig Weibliche kämpfen und siegen wollte. „Du bist eben kein Dahlen!“ hatte er ungestüm gerufen. „Du hältst das Vermächtnis meiner Väter nicht in Ehren, ich aber will es mein Leben lang thun!“
Das war