Ulrike Sprenger

Das Proust-ABC


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Brief zu Beginn der Entflohenen ein, der den Erzähler erst nach der Nachricht von Albertines Tod erreicht. Im Todesjahr Agostinellis schreibt Proust an seinen früheren Geliebten und Freund Reynaldo Hahn: »Alfred liebte ich wirklich. Es genügt nicht zu sagen, dass ich ihn liebte, ich betete ihn an. Ich weiß nicht, warum ich das in der Vergangenheitsform schreibe, denn ich liebe ihn noch immer.« Das hier beschriebene Trägheitsmoment der Gefühle, die den noch lieben, der schon tot ist, und später dennoch den vergessen, den sie noch lieben, wird eines der Hauptthemen sein, mit dem sich der Roman anlässlich von Albertines Tod auseinandersetzt.

       Aimé

      Aimé (wörtlich: der Geliebte) ist Oberkellner im Grand-Hôtel in Balbec und eine der wichtigsten Figuren im Milieu der Kellner, Liftboys, Chauffeure, Boten, Zimmermädchen und Wäscherinnen, deren erotische Reize den Erzähler immer wieder beschäftigen. Er trägt eine konservative Geisteshaltung zur Schau, ist ehrbarer Familienvater und überzeugt von ►Dreyfus’ Schuld. Geliebt aber wird er von diversen Figuren des Romans ( Saint-Loup, Charlus und auch dem Erzähler) vor allem wegen seiner Bereitschaft, für ►Geld alles zu tun, insbesondere diskrete Spitzeldienste zu leisten. In Aimé verkörpert sich einmal mehr der ►moralistische Befund, dass man das schätzt, was einem nützlich ist, und dass Liebe immer mit Eigenliebe zusammenfällt: Er gehörte »zu jener Kategorie von Leuten aus dem Volk, die auf ihren Vorteil bedacht sind, denjenigen die Treue halten, denen sie dienen, sich um keinerlei Moral bekümmern, und von denen wir – weil sie, falls wir sie gut bezahlen, in ihrer Unterwerfung unter unseren Willen, in der sie alles aus dem Weg räumen, was ihm in der einen oder anderen Weise entgegenstehen könnte, ebenso unfähig zu Indiskretion, Nachlässigkeit oder Unredlichkeit sind wie frei von Skrupeln – zu sagen pflegen: ›rechtschaffene Leute‹.« In Die Entflohene beauftragt der Erzähler Aimé damit, Beweise für Albertines Homosexualität zu sammeln; als dieser sie ihm verschafft, ist er jedoch keineswegs erlöst: Einerseits muss er aufgrund der prinzipiellen Käuflichkeit Aimés am Wahrheitswert der Enthüllungen zweifeln, andererseits werden Albertines Äußerungen, die Aimé ihm wörtlich hinterträgt, zu einer neuen Obsession. Den Satz »Ah, du bringst mich in den siebten Himmel«, den sie einer Wäscherin gesagt haben soll, muss er sich ständig wiederholen, er wird zum Symbol einer Lust, die er nie teilen oder kontrollieren konnte.

      Neben Informationen und Gerüchten liefert Aimé in seinem Versuch, sich gewählt auszudrücken, auch die exquisitesten ►Sprachschnitzer des Romans.

       Akazienallee

      Die Allee duftender Bäume im Bois de Boulogne, in dem der Erzähler als Kind Madame Swann, die Mutter seiner geliebten ►Gilberte, immer wieder beobachtet, erscheint ihm wie die Kulisse eines Tiergeheges, vor der sich erst die aufregende Schönheit der bewunderten weiblichen Kreatur in ihrer ganzen Pracht entfaltet. Die wechselseitige Verstärkung von Schönheit der Natur und Schönheit der Frau in den Augen des (in Mutter wie Tochter) verliebten Kindes illustriert zwei nicht hintergehbare Prinzipien der Wahrnehmung, die immer wieder vom Roman vorgeführt werden: erstens die Abhängigkeit der Wahrnehmung von der augenblicklichen, subjektiven Befindlichkeit des Wahrnehmenden – nur mit den Augen der Liebe gesehen scheinen Madame Swann und die Allee füreinander geschaffen zu sein –, aber zweitens auch die Relativität und Unzuverlässigkeit einer solchen subjektiven Perspektive. Die Erscheinung, die auf das Kind noch perfekt, erhaben und unnahbar wirkte, kann der rückblickende Erzähler im gleichen Atemzug als verblühende Lebedame entlarven: »in der Hand einen malvenfarbenen Schirm, auf den Lippen ein vieldeutiges Lächeln, in dem ich nichts anderes sah als das Wohlwollen einer Hoheit und in dem doch ganz und gar die Herausforderung einer Kokotte lag …« Mit dem hier zur Schau gestellten Wissensvorsprung des gealterten Erzählers wird zugleich auch die Vergänglichkeit seiner eigenen Schönheitsempfindung schmerzhaft spürbar. Als der Erzähler Jahre später die Akazienallee wieder besucht, erlaubt ihm sein nun abgeklärter Zustand nicht mehr, in der neuen Mode jene Schönheit wahrzunehmen, die ihn an Madame Swann bezauberte: »Und in alle diese neuen Akte des Schauspiels vermochte ich nicht mehr den Glauben zu setzen, um ihnen Zusammenhang, Einheit, Existenz zu verleihen; sie zogen verstreut an mir vorbei, zufällig, inhaltsleer, enthielten keinerlei Schönheit, die meine Augen, so wie damals, hätten versuchen können zusammenzufügen.« Der Erzähler erkennt aber, dass diese Trostlosigkeit nicht etwa an der mangelnden Schönheit der neuen Kleider und Frauen liegt oder an der veränderten Natur, sondern am Verlust der verliebten Stimmung: »Doch wenn ein Glaube verwelkt, so überlebt ihn – und zunehmend lebhafter, um den Mangel an Kraft, die uns verlorengegangen ist, zu kaschieren, den neuen Dingen Wirklichkeit zu verleihen – eine götzendienerische Anhänglichkeit an die vergangenen Dinge, die er beseelt hatte, als ob in ihnen und nicht in uns das Göttliche wohnte […].« Nur in der ►Erinnerung, in der die damalige subjektive Stimmung und die wahrgenommene objektive Wirklichkeit eines vergangenen Zeitpunkts gemeinsam aufbewahrt sind, ist die vergangene Schönheit wiederzubeleben. Am Übergang von Auf dem Weg zu Swann zu Im Schatten junger Mädchenblüte lässt die Beschreibung der Akazienallee schon deutlich spüren, wie neben dem Thema der Erinnerung allmählich jene Überlegungen zu ►Alter, Vergänglichkeit, ►Vergessen und der Begrenztheit der menschlichen Wahrnehmung an Gewicht gewinnen, die sich in Sodom und Gomorrha noch verstärken und in Die Entflohene und Die Gefangene den Roman ganz beherrschen.

      Albaret, Céleste (geb. Gineste, 1891–1984)

      Langjährige und letzte Haushälterin Prousts. Als Zweiundzwanzigjährige heiratet sie den bereits im Dienst Prousts stehenden Chauffeur Odilon Albaret und arbeitet zunächst als Botin für Proust. Als durch häuslichen Streit und den Krieg alle übrigen Dienstboten ausfallen, übernimmt sie die gesamte Haushaltsführung und sorgt unter geduldiger Inkaufnahme aller Launen Prousts bis zu seinem Tod für ihn, organisiert seinen Tagesablauf und bringt mit ihm seine letzten Manuskripte in Ordnung. 1973 erscheinen ihre auf Interviews mit Georges Belmont basierenden Memoiren unter dem Titel Monsieur Proust.

      Céleste (wörtlich: die Himmlische) wird neben früheren Haushälterinnen der Familie Proust zu einem der Hauptvorbilder für ►Françoise, auch für deren zuweilen überfürsorgliche und herrschsüchtige Eigenschaften in den letzten Teilen des Romans. Unter ihrem eigenen Namen kommt Céleste zusammen mit ihrer Schwester Marie Gineste in Sodom und Gomorrha und in Die Gefangene vor, wo sie besonders durch ihre außergewöhnliche ►Sprache auffällt, die eine wilde, unverbildete Poesie besitzt: »[Céleste sagte] zu mir, während ich Croissants in meine Milch tunkte: ›O kleiner schwarzer Teufel mit dem Kohlrabenhaar, o schlimmer Schalk!, ich weiß nicht, woran Ihre Mutter dachte, als sie Sie trug, denn Sie haben alles von einem Vogel an sich. Sieh nur, Marie, würde man nicht sagen, dass er sich die Federn putzt und seinen Hals recht gelenkig hin und her wendet?‹« In der unbewussten Poesie ihrer Sprache ist die Céleste des Romans mit ►Charlus verwandt, der besonders in seinen Wutausbrüchen virtuose Bilder produziert, aber genau wie Céleste nicht fähig ist, sein Talent schreibend umzusetzen. Das leistet für beide erst der von ihnen inspirierte Erzähler.

       Albertine (Simonet)

      Nach ►Gilberte, Odette Swann und Oriane de Guermantes, für die er mehr oder weniger erfolglos schwärmt, die erste und letzte Geliebte des Erzählers. In der Liebesgeschichte – wie man sie wohl nennen darf, auch wenn sich die Forschung darüber streitet, ob ein tatsächlicher Geschlechtsakt angedeutet wird – zwischen Marcel und Albertine wiederholen sich viele Elemente, die man schon aus den früheren Beziehungen im Roman kennt: Ein unbestimmtes Begehren geht dem Kennenlernen voraus, geweckt durch den Zauber des ►Namens einer Unbekannten (wie bei Gilberte und Mlle d’Éporcheville, die sich wiederum als Gilberte entpuppt); der erste Kontakt zwischen den Liebenden ist nicht unmittelbar, sondern wird über die ►Kunst hergestellt und verklärt (wie durch die ►Musik Vinteuils bei Odette, durch Bergotte bei Gilberte, durch das Theater bei Rahel); die folgende Beziehung schließlich ist von ►Eifersucht und Verzweiflung des Mannes geprägt (wie bei Swann und Odette). Das neue, im ursprünglichen Konzept des Romans nicht vorgesehene Liebesverhältnis verändert und steigert jedoch all diese bereits bekannten Momente,