Ulrike Sprenger

Das Proust-ABC


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entzieht. Jede folgende Verweigerung, jeder drohende Verlust wird diese Angst wieder zutage bringen und den Erzähler in Panik versetzen; in immer neuer Gestalt wiederholen solche Situationen die Ohnmacht, das Geliebte an sich zu binden und es verlässlich zu machen. Schon die Befürchtung, Albertine könne nicht wie vereinbart nach einem Theaterbesuch noch bei ihm vorbeikommen, erweckt die schreckliche, kindliche Angst aus Combray wieder zum Leben: »Als ich diese entschuldigenden Worte hörte, die klangen, als werde sie nicht kommen, spürte ich, wie das Verlangen, dieses samtene Gesicht, das schon in Balbec alle meine Tage zu dem Augenblick hin lenkte, in dem ich vor dem malvenfarbenen Septembermeer dieser Rosenblüte nahe sein würde, aufs schmerzlichste danach drängte, sich mit einem sehr verschiedenen Element zu vereinigen. Dieses schreckliche Bedürfnis nach einem Menschen hatte ich, in Combray, am Beispiel meiner Mutter kennengelernt, und zwar so heftig, dass ich hätte sterben mögen, wenn sie mir durch Françoise bestellen ließ, dass sie nicht mehr hinaufkommen könne.« Die schönen Bilder, in die sich die Verlustangst kleidet, können den egozentrischen Grundton nicht überspielen. Mehr noch als die Sehnsucht quält den Erzähler die Angst, er könne die Kontrolle über die Geliebte verlieren, sie könne sich ihm endgültig entziehen. Eine solche Liebe, in der sich Angst mit Besitzanspruch paart, führt letztlich zur Gefangennahme Albertines und damit zwangsläufig zum Ende der ►Liebe.

       Antisemitismus

      In dem Maße, in dem der Erzähler sich in der mondänen Gesellschaft von Paris bewegt, wird der sich im Gefolge der ►Dreyfus-Affäre entwickelnde Antisemitismus zunehmend Teil seiner Gesellschaftsbeobachtungen. Sodom und Gomorrha zeigt Juden wie Homosexuelle als »race maudite«, als verfolgte, in der Öffentlichkeit zu ständiger Verstellung verdammte Gruppen. Wie für die ►Homosexualität wurde Proust auch für das ►Judentum die Übernahme einer diskriminierenden Perspektive vorgeworfen, welche sich von der eigenen Identität lossagt. Im Gegenteil erlaubt es jedoch die unbestimmte, nirgends eindeutig festlegbare Position des Erzählers, die unentrinnbare Dynamik sozialer Ausgrenzungsmechanismen nachzuzeichnen, die sich am Anderssein der Juden, noch mehr aber an deren Anpassung stören: Gerade der assimilierte Jude macht sich verdächtig, der vollständig in der Pariser Gesellschaft aufgeht, ja sich wie Swann in deren höchsten Kreisen bewegt. Schon für Combray kolportiert Marcel dieses Klischee von der ›Tarnung‹ der Israeliten aus der Sicht seiner Eltern, die Swann nicht mehr einladen wollen: »Man wird vielleicht als Erklärung anführen, dass die Schlichtheit des vornehmen Swann bei diesem nur eine ausgefeiltere Form von Eitelkeit gewesen sei und dass, wie so manche Israeliten, der frühere Freund meiner Eltern nur abwechselnd die aufeinanderfolgenden Stadien vorgeführt haben mochte, durch die die Angehörigen seiner Rasse hindurchgegangen waren, von einfältigstem Snobismus und gröbster Unmanier zu geschliffenster Höflichkeit.« Die notorische jüdische Wandelbarkeit wird zum zentralen Argument der Ausgrenzung – die Annahme »verschiedener Stadien« kann rückblickend jede Eigenschaft Swanns als oberflächliche Anpassung entwerten und so die Beendigung der Freundschaft rechtfertigen, deren eigentliches Motiv in der Verachtung für die nicht standesgemäße Odette liegt. Selbst Marcels liebenswürdiger Großvater, ein enger Freund der Swanns, folgt dem bis heute gängigen Muster antisemitischer Verschwörungstheorien, wenn er ein allgegenwärtiges, »geheimes« Judentum annimmt, das es gilt, über einen ebenso geheimen Code zu decouvrieren: Hinter jedem neuen Freund Marcels vermutet er einen Juden und summt zum peinlich berührten Entsetzen seines Enkels eine Melodie aus der Oper La Juive, wenn er vermeint, einen Hinweis wahrzunehmen. Auf der anderen Seite wird Marcels Familie durch ihre Unkenntnis von Swanns hoher gesellschaftlicher Stellung davor bewahrt, die antisemitischen Erkennungsmuster auf ihn anzuwenden: »Offenkundig hatten es meine Eltern bei dem Swann, den sie sich zusammengesetzt hatten, aus Unkenntnis unterlassen, eine Menge von Details aus seinem mondänen Leben unterzubringen, die für andere Leute, die mit ihm zusammenwaren, einen hinreichenden Grund darstellten, Vornehmheit in seinen Zügen herrschen und an seiner gebogenen Nase als ihrer natürlichen Grenze enden zu sehen; doch war es ihnen auch gelungen, in diesem von seinem Prestige unberührten, offenen und großflächigen Gesicht, am Grunde dieser unterschätzten Augen, den unbestimmten, süßen Rückstand – halb Erinnerung, halb Vergessen – unserer müßigen Stunden zu versammeln, die wir nach unseren wöchentlichen Diners gemeinsam um den Spieltisch oder im Garten während unserer Zeit ländlicher Gutnachbarschaft verbracht hatten.«

      In der kleinen Welt Combrays sieht Marcels Familie in Swann den freundlichen Nachbarn, sein Gesicht assoziiert sich mit den schönen Abendstunden im Garten. Dort jedoch, wo Swanns gesellschaftliche Brillanz bekannt ist, markiert die Krümmung seiner ►Nase zugleich deren Grenzen – Prousts Satz zeichnet die Ausgrenzungsbewegung an ihr nach: Swanns jüdisches Profil zeigt sich erst vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Position, die er beansprucht, es ist ebenso imaginär wie die Gestalt des freundlichen Nachbarn, welche Marcels Familie auf das »offene und großräumige« Gesicht Swanns projiziert. In seiner Zeichnung der Bilder, die man sich jeweils in Combray und Paris von Swann macht, greift Proust eine jahrhundertealte antisemitische Formensprache auf, welche – vor allem in der Malerei – die Gesichtsfläche (Christi) mit dem jüdischen Profil (etwa der Schriftgelehrten im Tempel) kontrastiert. Wenn wir schließlich im kranken, todgeweihten Swann einen »alten Hebräer« sehen, dessen ausgemergelte Wangen einen Halbmond zeichnen, bedeutet das, dass der antisemitische Blick sein Werk vollendet hat – kurz vor Swanns gesellschaftlicher Verbannung und seinem Tod ist selbst für Marcel im ►Salon nur noch der »Jude Swann« sichtbar. Erst nachträglich kann der Erzähler die vielen anderen Seiten des Freundes, nicht zuletzt dessen Ähnlichkeiten mit sich selbst, in der ►Erinnerung auferstehen lassen. Schon in Auf dem Weg zu Swann Welt führt uns Proust den Antisemitismus als mächtigen gesellschaftlichen Wahrnehmungsapparat vor, der unabhängig von persönlicher Kenntnis und persönlichen Beziehungen funktioniert und gerade deswegen beliebig zur Auf- oder Abwertung Anderer genutzt werden kann.

      Auf dem mondänen Terrain von ►Balbec wiederholt sich die Darstellung des antisemitischen Blicks am Beispiel von Bloch: Nicht mehr die Physiognomie, sondern jüdische Sprache und Verhalten stehen jetzt im Vordergrund, und Marcel lässt sich nun als beteiligter Beobachter in den paradoxen Antisemitismus verstricken, der sowohl am Jüdischen als auch an dessen Verkleidungen Anstoß nimmt. Bloch scheint ihm zunächst alle gängigen Vorurteile über das ►Judentum zu bestätigen: Er ist unehrlich und snobistisch, missgünstig dem Erfolg Anderer gegenüber, biedert sich stets bei der feinen Gesellschaft in Balbec an, verleugnet seine eigene Familie, die sich bei einem Besuch des Erzählers wiederum als eine Gruppe unangenehmer Heuchler präsentiert, beständig bemüht, einer Gesellschaft hinterherzulaufen, die sie ausschließen will. Insbesondere irritiert Marcel die assimilatorische Mimikry, die respektlose und übertriebene Imitation der mondänen Kultur – bis hin zur Übernahme von deren Antisemitismus. Während die Cousinen und Schwestern Blochs die neuesten Moden der Sommerfrische auf die Spitze treiben und sich mal als Krabbenfischerinnen, mal als Tangotänzerinnen verkleiden, kombiniert der »ebenso vulgäre wie belesene« Bloch in seiner Sprache Bruchstücke der gesamten Bildungskultur des Abendlandes, spricht bei Wind nur von »Zephyrschwingen«, beschreibt einen Entenbraten als göttliche Opfergabe und präsentiert Saint-Loup seinen Schwestern in epischen Versen: »Hündinnen […], ich stelle euch vor den Ritter Saint-Loup mit dem hurtigen Speer, herbeigeeilt für einige Tage vom marmorschimmernden Doncières, dem rossereichen.« Das Jiddische, jener »halb deutsche, halb jüdische Jargon«, der von der älteren Generation der Familie Bloch gesprochen wird, setzt die unbefangene Aneignung von Versatzstücken verschiedener Kulturen fort. Was den Erzähler zunächst irritiert, fasziniert ihn jedoch ebenso nachhaltig und ändert seine Perspektive auf das Leben in Balbec: Die parodistische Übersteigerung des ►Snobismus, die lustvolle Mischung verschiedenster kultureller Bildungsbrocken, die Kostüme – kurz der Karneval der Blochs führt die Rituale der »feinen Gesellschaft« als Bühnentheater vor und entblößt die Albernheit auch ihrer Posen. Aus der neuen Perspektive erscheint das Verhalten der christlich-französischen Mädchen in Balbec – »mokant und französisch wie die Statuen von Reims« – als eine ebenso übertriebene Karikatur wie die Krabbenfischerinnen und Tangotänzerinnen, allerdings ohne deren provokanten Reiz. Sowohl die Faszination als auch die ständigen Abgrenzungsbemühungen des Erzählers dieser bunten, lebendigen, »eher malerischen als angenehmen« Gruppe gegenüber, die alle aristokratischen