ein und nahmen auch den Transportagenten mit. Und da lagen nun hoch und schön die fünf grossen Segelschiffe. Bei den Dänen wurde noch Proviant aus einer langen Schute gehievt. Und schon waren die Löwensteiner über die Strommitte hinaus. David Parish zählte einundzwanzig Ewersegel, abgesehen von mehreren Dutzend anderen. Jetzt sah man auch, dass die Soldaten rudern mussten, um nicht bei der mässigen Brise von der Strömung zu weit abgetrieben zu werden und überhaupt endlich heranzukommen. Es war ein herrlicher Anblick. Der Tag schön wie im Mai.
Die drei kehrten zu dem wartenden Boot zurück und unterhielten sich mit Jack Hint. Sie waren fast wie er angezogen, mit langen weissen Hosen, kurzer blauer Jacke und rundem, schwarzem, flachem Hut. Nur war der Stoff feiner, der Schnitt enger. Es war die neue Mode, die Kleidung der Revolution, die alle äusserlichen Vorrechte abgeschafft und die Tracht der Einfachsten unter dem Volke, der Hafenarbeiter und Matrosen, zum Vorbilde für alle erhoben hatte.
Sie hörten schnell heraus, dass Jack Hint ein grosses Erlebnis hinter sich habe, einen richtigen, langwierigen Schiffbruch mit langsamem Verhungern und Verdursten, Wahnsinn und endlicher Rettung. Sie konnten gar nicht genug davon hören, vergassen beinahe die Löwensteiner und empfanden es als störend, als plötzlich ein vornehm gekleidetes Fräulein Jack Hint begrüsste und nach Herrn Mackay fragte. Herr Mackay kam aber gerade mit einem rotröckigen Offizier den Strandweg herunter, und das Fräulein eilte ihm entgegen.
„Die waren auch dabei, mein Steuermann und sie“, sagte Jack Hint stolz und jumpte ins Boot, um bereit zu sein.
Mackay hatte soeben der Ansicht des Herrn von Plato beigepflichtet, dass es für einen Mann nur Zukunft gebe und alle Vergangenheit, so schön oder traurig sie sei, ihn nicht hindern dürfe. Damit hatte sich der Hannoveraner selber Trost zureden wollen, und Steuermann Mackay, der schon ewig lange nicht mehr bei seinen Eltern in London hatte sein können, half es, das Heimweh mit der Vision des Kapitänspatentes zuzudecken, das er ohne Urlaub rasch zu erringen hoffte.
Nun sah er auf einmal ein Stück seiner eigenen Vergangenheit wieder vor sich stehen und dazu in schöner Gestalt, die Passagierin der Juno, Fräulein Sanders, die der damalige Erste Steuermann ebenfalls, wenn auch heimlich, Juno getauft hatte wegen ihrer Ähnlichkeit mit der Galionsfigur. Sie trug ein neues, reizvoll dünnes Musselinkleid und einen kleinen Schutenhut und auch den Kaschmirschal, den Mackay ihr zum Andenken an Indien geschenkt hatte.
Der Offizier verhielt seinen Schritt höflicherweise ein wenig, aber sie wandte sich ihm gleich zu, nachdem sie Herrn Mackay die Hand gegeben hatte. Sie bat um Verzeihung, sie wolle nur noch einmal Abschied nehmen, vereinigt mit dem Anschauen des Ereignisses. Herr Schiffsleutnant Mackay sei ein Held, und sie beglückwünsche die Hannoveraner Soldaten zu solcher Begleitung.
Mackay hatte die Schmeichelei, da sie auf deutsch gesagt wurde, nicht verstanden; dennoch schien er ein wenig betreten.
Aus Herrn Parishs Park von oben träufelte ein Harfensolo herab, und dann sang eine volle Frauenstimme die Arie: «Nous sommes nés pour l’esclavage.»
Wir sind geboren zur Sklaverei,
Wer ist ein Mensch, und wer ist frei?
Kein Engel und kein Bösewicht,
Kein Bettler und kein König nicht.
Dem Geld front der eine, der andere der Pracht,
Der Ehre jener und jener der Macht.
Und gelang es mal einem, den Fesseln zu fliehn,
Kommt leise die Liebe und bindet ihn.
Oho, meinte von Plato mit einem verkniffenen Blick auf die Hügelkuppe über sich, durch deren Gesträuch fröhliche Kleider in Krepp, Amarant, Rosa und Ocker mit den Farben des herbstlichen Laubes wetteiferten: Das sei ja aus Gretrys «La Caravane du Caire.» Man habe es in Hannover gut gegeben. Aber es sei wenig taktvoll, von Sklaverei zu singen, wo deutsche Soldaten nach Indien verfrachtet würden.
„Ich hörte es gestern abend in der Oper. Es läuft am Schlusse darauf hinaus, dass wir alle Sklaven der Liebe sind“, sagte das Fräulein. Es stand blass und blond (obschon es zum Zeichen der Abschiedstrauer eine schwarze Lockenperücke aufgesetzt hatte) vor dem stämmigen Steuermann Mackay und sah seine blanken Knöpfe an, als sollten die goldenen Anker darauf den Augenblick in Ewigkeit halten.
Mackay merkte, dass er etwas sagen müsse. Ob die Kassette gut in die Hände des Eigentümers gelangt sei, fragte er, wenngleich er selber dabei war, als sie abgeliefert wurde.
„Mein Onkel hat alles richtig befunden. Oben hält sein Wagen. Hätten Sie nicht noch Zeit, mit uns zu frühstücken?“ antwortete sie rasch, schrak aber im nächsten Wimperschlag furchtbar zusammen; denn die Löwensteiner, nunmehr nach Meinung des Stabes nahe genug herangekommen, feuerten eine dreifache Musketensalve in die Luft.
Wie zur Antwort begannen die Glocken der Nienstedtener Kirche, deren lustiger Turmhelm hinter Parishs Haus aufzog, mit aller Macht zu läuten.
„Um Himmels willen!“ entgegnete Mackay, grüsste mit der Hand und sprang ins Boot. „Es wird ja Zeit!“
Fräulein Sanders schwankte und fiel dem grossen Hannoveraner in seine höflich auffangenden Arme. „Ich werde einst alles erben!“ hauchte sie. Der schöne Offizier, nach einem schnellen Blick in die Runde, die gänzlich mit Tücherwinken, Aufmerksamkeit und Begrüssungsgetümmel auf die Truppenboote gerichtet war, küsste das bleiche Fräulein. Und so salzig auch ihre Lippen von Tränen schmeckten, als er später vor San Domingo in glühender Sonne fieberfrierend lag, da deuchte ihm dieser letzte Kuss auf einen fremden, zufälligen Mädchenmund wie der Inbegriff aller Lieblichkeit, Inbrunst und Zartheit, wie das Sinnbild des Lebens selber und wie der vorweggenommene Abschied von seiner bittersüssen Schönheit.
Jetzt aber, seine Rührung bekämpfend, flüstert er nur: „Ade, ade, liebe Heimat!“
Dann eilt auch er ins Boot. Der junge Matrose stiess kräftig mit dem Riemen ab, und die Parishsöhne, bis dahin entzückt dem Lärm des Stromes zugewandt, wurden aufmerksam und halfen das Boot flottmachen, bedauernd, dass es für ihr Trio keinen Platz mehr habe. Das Fräulein aber, das schwankend dagestanden hatte, lief nunmehr mit geschlossenen Augen dem Knirschen des Sandes nach. Mackay rief ihr zu, ihre Schuhe würden nass. Seine Stimme klang dünn und verschluckt. Sie erstarrte wie aus Traumwandel geweckt, sank nieder und blickte mit weit offenen trostlosen Augen hinter den Entschwindenden her.
Die Knaben sahen noch eine Weile verlegen auf sie hin. Dann liefen sie plötzlich stumm fort und waren froh, als eine Freundesjolle sie anpreite und einlud, mit ins Gewimmel zu schlüpfen, das mehr und mehr anschwoll, da die Marktewer aus Cranz, York, Wedel und der Lühe von Hamburg kamen und nach Haus wollten. Auch strebten einige grössere Amerikaner und etliche Fischerboote seewärts.
Mackay wischte mit einem Tuch aus blauem Kattun über seine Stirn. „Es sind ihre Nerven!“ erklärte er seinem Begleiter, als ob er Fräulein Sanders entschuldigen müsse. „Sie hat sich noch nicht ganz erholt von dem schrecklichen Erlebnis mit der alten Juno.“ Und wie zu seiner eigenen Entschuldigung setzte er hinzu: „Es ist Unsinn, zu heiraten, bevor man Kapitän ist!“
4
Tumult im Strom
Zur rechten Zeit in Schwall und Schwarm,
Zur rechten Zeit allein gehaust,
Zur rechten Zeit ein Liebesarm,
Zur rechten Zeit die Faust!
Vom Orchester in Parishs Park erscholl jetzt der stolze Einzugsmarsch in den Palast des Paschas.
Die rot überfüllten Harburger Ewer querten nun die Buge der Transportschiffe, schwenkten regellos ein und legten sich an die runden Bäuche. Freiherr von Plato angelte mit Mühe das Stabsboot aus dem Knäuel und leitete es zur Juno. Seine beiden Schreiber turnten wie die Meerkatzen von Bord zu Bord, mit heiserem Geschrei nach den Kompanien suchend und die Quartierzettel schwingend, die am Vormittag unter Vorbehalt fertiggemacht waren. Die Fallreepe allerorts verschwanden unter hochkletternden Rotröcken. Die Feldwebel liessen in den Mitteldecks antreten. Aber bei der ungewohnten Raumenge war