Rahel Sanzara

Das verlorene Kind


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von Pulsen, ruhte es kühl zwischen seinen heißen, adernklopfenden Händen. Und nun raste sein Herz auf, schwer, mit gewaltigen, stampfenden Stößen. Er konnte nichts mehr retten. Krachend warf er das Kind nieder, er warf sich nieder, er fühlte unter seiner Brust das klopfende Jagen des kleinen Herzens, in hackenden Doppelschlägen antwortete sein Herz, ineinander verfangen rissen beide Herzen ihre Schläge dahin. Alles verging um ihn. Donner umdröhnte sein Ohr, feuergleich durchwogte ihn sein Blut, sein wilder Atem schien Brust und Kehle sprengen zu wollen. Blind und gierig wühlte seine Hand danach, Kleider abzureißen, Fleisch zu zerreißen, Adern, Pulse, klopfende Herzen zu vernichten, eng umpreßte Kehlen zu ersticken im wohligen Druck, und sich auszugießen in weiche, stille Ruhe. Mit grauenhafter Gewalt zerriß sein Körper den zarten Leib des Kindes, während seine rechte Hand mit einem Griff die kleine Kehle zerbrach. Das Kind, vom Lachen zum Schrecken jäh verstummt, stieß nur noch einen kleinen zischenden Seufzer aus. Kein Schrei war erklungen. Die tote Stille herrschte. Das grabesferne Rascheln der nagenden Ratten, der gedämpfte menschliche Laut des tauben Dachdeckers über dem Dache. Das Vogelnest hoch oben im Gebälk war still, wie verlassen.

      Der Mörder erwachte, als er aus dem eben noch vor Durst vertrockneten Mund Speichel in seinen Hals rinnen fühlte. Er zog seine linke Hand zwischen den Gliedern des Kindes hervor, um sich abzuwischen. Sie war voll Blut. Er hielt sie vor die langsam erwachenden Augen. Er entsann sich, daß er am Morgen sich bei den Weiden geschnitten hatte. Er glaubte, die Wunde blute noch immer. Seine rechte Hand, um die Kehle des Kindes gekrampft, hatte er vergessen. Das Kind, tief unter seinem Leib vergraben, hatte er vergessen. In Ermüdung, in wollüstiger Ruhe, im Tod aller Herzen ruhte er aus, gebettet weich auf dem kühlen weichen Grund unter ihm. Er wandte langsam sein Gesicht nach oben, es war geebnet, ruhig, weiß, engelgleich die sanften Züge. Sein müder Blick umfaßte das Stroh vor seinen Augen, ein großer, grüner Käfer bewegte sich mühsam auf ihn zu. Er mußte lachen, im Lachen warf er sich auf den Rücken, sein Leib gab die Leiche der kleinen Anna frei. Er begriff nichts. Kaum sah er. Er fühlte die Unordnung seiner Kleider, und Scham ergriff ihn. Schnell machte er alles gut. Er dachte an seine Arbeit. Er sah umher. In der Dunkelheit erblickte er, ineinander verworren, mattschimmernde Kleider in Unordnung, verrenkte, leblose Glieder. Der Gedanke durchzuckte ihn: »Hier muß Ordnung sein!« Alle Müdigkeit war verjagt. Er rannte zum Tor der Scheune hinaus.

      Draußen blendete das Licht. Heiße, lebendurchbebte Luft zitterte in der Sonne. Der Hof war leer. Seine Glieder waren leicht, besänftigt, unfühlbar sein Herz, ruhig die ausgekühlten Hände. Ganz leise stieg ein sanfter, hoher Ton aus der befreiten Kehle. Er sprang um die Ecke der Scheune, wo unter einem Dachvorsprung die Geräte für die Gartenarbeit hingen. Er ergriff eine Hacke mit langem Stiel und lief zurück. Da sah er über den Hof die Gestalt eines alten Bettlers mit grauem, struppigem Bart, um den Hals einen weithin leuchtenden Streifen wie von rotem Blut oder von einem Tuch, wie er sich vorsichtig dem Garten zuschlich, vielleicht, um ein paar Früchte zu stehlen. Als er Fritz erblickte, erschrak er und floh zum Brunnen zurück, wo er zögernd stehenblieb. Fritz aber schwang drohend die Hacke gegen ihn, und der Alte begann eilig in das Feld zurückzulaufen. Fritz sah ihm nach. »Da muß Ordnung sein!« sagte er vor sich hin und lief eilig zur Scheune weiter.

      Er kehrte zurück in das Dunkel, an dem toten Kinde, dem Haufen verwühlter Kleider und Glieder, lief er vorbei bis in die hinterste Ecke des Raumes. Er begann zu hacken, mit rasend schnellen, scharfen Schlägen. Das Stroh des Bodens spritzte auf, blendete seine Augen. Schneller noch fielen seine Schläge, da endlich kam er auf Erde, kühle, dunkle, tote Erde. Sanfte Ruhe umfing ihn, er kniete nieder, breitete die Arme aus und maß so die Länge einer Grube ab. In grauem Rechteck entstand sie schnell, scharfkantig und sauber ausgeglättet. Er lief zurück zu der Leiche, ergriff sie an den Falten der Kleider und schleifte sie in die Grube. »Es muß Ordnung sein!« flüsterte er vor sich hin.

      Dieser drangende Gedanke, der ihn rettete vor dem Begreifen des Geschehenen, war wie eine triebhafte, erschütternde Rechtfertigung dessen, daß er ahnungslos, aber furchtbar die Ordnung, den Sinn des Seins durchbrochen hatte.

      »Es muß Ordnung sein«, war jetzt der Trieb seiner Seele, wie vorher grauenhafte Zerstörung der Trieb seines Körpers gewesen war.

      Die Grube war zu klein. Ausgestreckt ragte der Kopf des Kindes daraus hervor. Er sah in der Dunkelheit ihn nur als einen kleinen, grauen Hügel, der sich nicht einglätten wollte in die Ebene der Grube. Er beugte sich nieder, griff in die mit hartem Stroh vermengten Haare des Kopfes, hob ihn, drehte den Nacken nach oben, und mit einem Schlag der Hacke zerschmetterte er die zarte Wirbelsäule, das kleine Haupt sank herab, tief bis auf die kleine Brust. Doch durch den Schlag erschüttert, war der kleine Körper weiter geschnellt, die Füßchen ragten jetzt am anderen Ende der Grube über ihren Rand. Mit der Hacke den Leib des Kindes in der Mitte festhaltend, stieß er mit den Füßen dessen beide Knie hoch, so daß die Beinchen, an den Leib angezogen, mit dem Haupt sich fast berührten, einander zugeneigt die kleinen Glieder nun ruhten, wie einst, ungeboren, in der dunklen Grube des mütterlichen Leibes.

      Im Dunkeln schüttete er dunkle Erde auf. Mit den Händen die kühle, schwere Krume fassend, warf er sie in die Grube, dann schichtete er mit der Hacke das hohe, dichte Bodenstroh noch darüber. Doch alles völlig zu ebnen, gelang ihm nicht, noch immer zeigte das kleine Grab an Kopf- und Fußenden geringe Erhöhungen. Heißer, modriger Staub mischte sich in seinen Atem, der alte Durst quälte ihn von neuem; ohne noch einmal zurückzusehen, verließ er die Scheune.

      Der strahlend helle Hof war jetzt voller Leben. Die wenigen Minuten bis zum Melken waren vergangen. Brüllend, stampfend standen die Kühe da und boten die gefüllten Euter den Melkerinnen dar, die Milch schäumte weiß in die blitzenden Gefäße nieder. Aus dem Hause trat der Herr, strich mit dem ruhigen, guten Blick über den Hof und ging dann, begleitet von einer Magd, die einen großen, sauber verdeckten Korb an den kräftigen Armen trug, den Weg zum Wald, wo er den Fällern und den Söhnen die Vesper brachte. Dort wollte er bis zum Abend bleiben und mit den anderen heimkehren.

      Emma stand zwischen Hof und Haustür und zählte die Tröge, die die Laufbuben und Mägde milchgefüllt zum Keller schleppten. Eine junge Magd eilte zur Haustür und läutete die Glocke zur Vesper.

      Von der Scheune Nummer vier kam der alte Güse, der von seinem Dach schon langsam herabgeklettert war, als er die ersten Kühe auf den Hof zutreiben sah. Neben ihm ging langsam Fritz, doch als die Glocke ertönte, stürzte er vor, als erster trat er in die Küche, ergriff gierig seinen Becher mit Milch und trank. Lange hielt er die kühle, süße Flüssigkeit in seinem Mund, ließ sie auf und nieder wogen, ehe er den Schluck in die Kehle rinnen ließ.

      Vom Ententeich herauf kam die kleine Hirtin Minna gelaufen, ließ sich von Emma die Vesper für sich und die Genossin geben und lief wieder davon. Die Frau eilte geschäftig zwischen Küche und Speisekammer einher. Die Beeren, fertig gekocht, mußten in Gläser gefüllt und abgekühlt werden, im Milchkeller der morgendliche Rahm abgenommen und verbuttert, das Futter für den Abend, das Essen für die Nacht zugerichtet werden. Der Herr hatte, nach dem Abschluß des guten Geschäftes mit dem Viehhändler einen Augenblick in die Küche tretend, verkündet, daß Johanni heute abend ein wenig gefeiert werden solle, da die Hammel so gut gehalten und brav gemästet gewesen seien, die er eben verkauft. Die Frau solle die Abendtafel vor dem Hause richten und ein Fäßchen Bier und Beerenwein bereithalten. Daher war alles in freudiger Eile, in festlicher Erwartung. Die Arbeit flog von den Händen, eines half dem andern, der Feierabend sollte bald und in schöner Ruhe begonnen werden.

      Die Nachmittagsstunden vergingen schnell. Nach sechs Uhr kehrte der Herr mit den Söhnen und den Arbeitern aus dem Holz zurück. Die Knaben schleppten große trockene Äste und Abfall von den Stämmen mit sich, liefen geschäftig den Hof hin und her, um einen Scheiterhaufen zu errichten, den sie in der Dunkelheit entzünden wollten zur Feier der Johannisnacht. Karl, der älteste Sohn, lief zum Dachvorsprung der Scheune, wo die Geräte hingen für die Sommerarbeit, um sich eine Axt zu holen, die Zweige und Stämme für den Scheiterhaufen zu behauen. Zu seinem großen Erstaunen fand er da Fritz in tiefem Schlafe auf dem Boden liegen. Er stieß ihn an und weckte ihn. Fritz schlug seine großen, schlafesklaren Augen auf, sprang auf die Beine, ging taumelnd ein paar Schritte, versuchte sich zu besinnen, denn er wußte nicht mehr, wie er hierher und zu dem tiefen Schlaf gekommen war. In kindlicher, schamhafter Verwirrung