Wiesen bis zum Wald gegangen.
»Vielleicht hat sie uns entgegenlaufen wollen bis zum Wald und hat sich verirrt«, sagte er zu den Söhnen. Doch er glaubte nicht an seine Worte. Er wußte, das Kind, vor allem Fremden ungewöhnlich scheu, in seinen Spielen und seinen kleinen Interessen immer an das Haus gebunden, lief nicht so weit fort.
Im Wald begann es schon zu dunkeln. Sie riefen und durchstreiften ihn nach allen Richtungen, doch als Antwort ward ihnen die feierliche Stille der in die sinkende Nacht eingehenden Natur. Sie kehrten zurück auf die Felder, die dargebreitet lagen dem hoch und licht sich wölbenden Abendhimmel.
Sie kamen zum Hof zurück. Es war zehn Uhr und die Nacht nun völlig da. Die Mutter lehnte an der Türe des Hauses und weinte. Das Kind war versteckt, und sie konnte es nur nicht finden. Erst hatte es gelacht, dann war es eingeschlafen, nun würde es irgendwo in seinem Versteck aufwachen, im Dunkeln sich fürchten, nach ihr, der Mutter, rufen, nach ihr, der Mutter, seine kleinen Ärmchen ausstrecken, sie sah es vor sich, seinen kleinen, im Weinen verzogenen Mund, die rinnenden Kindertränen, sie fühlte sein kleines, schluchzendes Herz ihr entgegenschlagen, und sie, die Mutter, fand das Kind nicht. »Wo hat sich nur das Kind versteckt?« jammerte sie, wieder und wieder, und unaufhörlich durchsuchte sie im Dunkeln das Haus.
Christian stand still im Hof. Von allen Seiten der Felder und Wiesen kamen die Suchenden zurück, mit traurigen, langsamen Schritten, und scharten sich stumm um den Herrn.
»Sie kann in den Teich oder in eine der Gruben gefallen sein«, sagte er ruhig.
»Ach Gott!« Leise sagte es Blank, der Wirtschafter, der neben ihm stand, schwer schluckte seine Kehle.
Karl, der Sohn, vor Erregung bebend, ohne doch alles zu begreifen, rief plötzlich mit heller Knabenstimme: »Soll ich den Scheiterhaufen anzünden, zum Leuchten?«
»Lauf!« sagte der Vater.
Der Knabe lief, Freude in seiner jungen Seele, den Scheiterhaufen nun doch noch brennen zu sehen. Als er zu dem Holzstoß kam, der kunstgerecht, wohl zwei Meter im Quadrat, aufgebaut war, erblickte er plötzlich Fritz, am Boden hockend, hinter dem Scheiterhaufen verborgen.
»Warum suchst du nicht mit?« fragte er ihn.
»Ach was«, erwiderte Fritz. Er hatte schon alles zum Anzünden vorbereitet. Eine Flasche Petroleum und ein Bündel Werg sowie ein Feuerstein lagen neben ihm. Während Karl das Petroleum über das Werg goß, schlug er die Funken, und bald loderten die Flammen hell und stark aus der Mitte des trockenen, prasselnden Holzes hervor.
»Vielleicht sehen wir die Anna jetzt«, sagte Karl leise vor sich hin, nun doch wieder von Kummer bedrückt.
»Die finden sie wohl nicht mehr«, sagte Fritz. Seine sanfte Stimme war so leise, daß das Prasseln des brennenden Holzes seine Worte fast verschlang, nur der hohe Ton schien in der Luft noch zu schweben, und sein weißes, schön gebildetes Gesicht war golden angestrahlt vom Feuerschein der Flammen.
Auf dem Hof, der nun weithin erleuchtet war von dem flackernden Licht der Flammen, begann die Arbeit von neuem. Es war wie das spukhafte Widerspiel des Lebens am Tage. Die Menschen eilten hin und her, die Schatten wuchsen bald riesenhaft groß empor, bald verzehrten sie sich, die Gesichter und Hände tauchten auf, grell gehoben ans Licht, und verschwanden ohne Spur im Dunkel wieder.
Der Schuppen, in dem die Pumpen standen, wurde geöffnet und sie hervorgezogen. Sie wurden an die Jauchegruben angesetzt, ihre Hebel von den Männern auf und nieder geschwungen. Andere warfen mit langen Gabeln den Dunghaufen um, der Herr selbst zog die kleinen Wagen der Aborte hervor und durchsuchte mit langen Stangen die Exkremente.
Die Hitze und der Rauch des in lodernden Flammen brennenden Holzstoßes, der Geruch der Gruben und Aborte vermengte sich zu einem höllischen Dunst.
Mit der letzten Anstrengung wurden diese Arbeiten beendet, erschöpft sanken alle zusammen.
Vom Teiche kam der Fischer-Andres herauf, der im Schein von brennenden Holzscheiten mit Booten und Netzen das Wasser durchzogen hatte. Da er bemerkte, daß ein Brett der Brunneneinfassung gelockert war, wurde trotz der allgemeinen Müdigkeit der Brunnen vollends aufgedeckt und das Abflußbecken noch leergepumpt.
Bis um ein Uhr nachts hatte man keine Spur von dem Kinde. Der Scheiterhaufen war niedergebrannt, die Flamme schwelend erloschen. Die Johannisnacht war da, die kurze Spanne der Dunkelheit zwischen dem zögernd vergangenen Abend und dem bald sich wieder nähernden Licht des Morgens.
Die Menschen ruhten, zusammengesunken vor Müdigkeit, Schrecken und leerer, noch nicht einmal begriffener Verzweiflung. Überall im Hofe verstreut hockten die trostlosen Gestalten, die Hände schlaff in den Schoß gefallen, die Augen auf den Boden gerichtet oder geschlossen ohne Schlaf.
Nur zwei Menschen schliefen. Fritz, von der Hitze und der blendenden Helligkeit des Feuers weggetrieben, war in weicher Müdigkeit, in traumhafter Sehnsucht nach Schlaf in seine Kammer geschlichen und dort in tiefen Schlummer gesunken.
Über dem Bettchen des Kindes hatte die Mutter sich in hoffnungsvollen Traum geweint. Sie träumte, sie stehe wieder als junges Mädchen im Laden in der kleinen Stadt, es sei Abend, die Lampe brenne, die Türe ginge auf, Christian trete ein und reiche ihr ein mächtiges Bündel großblütiger Blumen, und als sie es in die Hand nahm, entsprang jeder Blüte das Kind Anna, und die vielen kleinen Gestalten drängten sich um sie, der warme Hauch der Kinderkörper stieg von ihren Füßen über den Leib bis zu ihrem Herzen empor und überflutete sie bis in den Schlaf mit einem glücklichen Gefühl. Der Mann aber war versunken.
Unten stand Christian, der Vater, frei in der offenen Tür des Hauses. Müdigkeit, schwer in seinen Gliedern lastend, drückte ihn nieder, doch der Schmerz des Herzens hielt ihn wieder aufrecht. Erbarmungslos stieg es ihm jetzt aus der versteinten Brust empor, daß sein Kind tot sei, daß er seinen Leichnam suche, daß er seinen Leichnam bergen müsse. Kein Grund für diesen Gedanken, keine Erklärung, und doch keine Hoffnung, und doch keine Träne. Er hatte nicht beten können, die gefalteten Hände hatte er gelöst, in der schwersten Stunde war Gott ihm entwichen, jetzt fühlte er klar den unerbittlichen, den tödlichen Schlag in seiner Seele. Keine menschliche Verzweiflung war ihm gegeben, er brach nicht zusammen. Todeskräfte stiegen aus seiner bis hierher in gutem Glück lebenden, von reinen Wünschen und Gedanken bewegten, nun von bösem Unglück jäh überfallenen Seele hervor. Frei, ohne Stütze stand er weiter, im Innern gehalten von furchtbarer Kraft.
In der völligen Dunkelheit, in der völligen Stille, die jetzt über allem lagerte, schien es, als schwebe die kleine, so gewaltsam abgeschiedene Seele des Kindes in lebensgierigen Kreisen noch nahe den Menschen, noch nahe der lebendig atmenden Natur. Vor den müden, stumpf ruhenden Seelen der Knechte und Mägde entstand das Bild des Kindes. Mit ihren halb in Schlaf versunkenen Sinnen fühlten sie seinen Atem in der Luft, sie glaubten die Gräser des Weges sanft sich niederbeugen zu sehen unter dem zarten Gewicht seiner kleinen Schritte, Türen öffnete es langsam, auf die Zehenspitzen gestreckt, mühsam mit dem Druck der kleinen Händchen die schweren Klinken niederdrückend, es flüsterte nahe um sie, sein schmeichelndes, zärtliches, weiches Lachen schmiegte sich mit der lau bewegten Sommerluft in ihre Ohren. Es umwebte die Ahnungslosen in den kurzen Stunden ihrer traurigen Ruhe mit den letzten, geheimnisvollen Schwingungen seines verwehenden Lebens.
Die zarte Dämmerung des Morgens, wieder golden und schön, kam schnell. Der Herr, frei und unbeweglich stehend im Tor des Hauses, erhob die Stimme in dem noch lautlosen Schweigen des Morgens.
Nun sprangen alle auf, reckten sich, gingen zum Brunnen und weckten die Gesichter und Hände mit kühlem Wasser. Sie halfen beim Anzünden des Herdes, bald war der Kaffee fertig, schnell tranken alle, froh, sich regen und Nacht und lähmendes Entsetzen abschütteln zu können.
Nun sammelte der Herr die Leute um sich. Er stellte sie auf nach Plan und Ordnung. In der süßesten Morgenröte, in der von Frische und goldenem Licht erfüllten Luft, unter dem von überallher froh erwachenden Gesang der Vögel begann das Suchen nach dem Kinde von neuem.
Ein Teil der Leute durchwanderte unter der Leitung von Blank, dem Wirtschafter, den ganzen, mit Winterkorn besäten Schlag sechs und sieben. Sie gingen in Reihen,