Ereignis am Ende seines Zeitalters oder in der unmittelbaren Zukunft der Gefangenen in Babylon (oder auf beides) bezog; aber für das rabbinische Judentum und somit für die Zuhörer Jesu bedeutete es sehr wahrscheinlich keins von beiden, sondern vielmehr das Jubeljahr, die Zeit, in der die Ungleichheiten, die sich im Laufe der Jahre angesammelt hatten, ausgelöscht werden und das ganze Volk Gottes am gleichen Punkt wieder anfängt. Erwartet wird also nicht, dass Jesus Palästina aus dem Zeitverlauf am Ende herausnimmt, sondern vielmehr, dass der gleichmachende Einfluss des Sabbatjahres nach Palästina kommt.
In einem kleinen genialen Buch54 hat André Trocmé das Beweismaterial gesammelt, dass Jesu Konzept des herannahenden Reiches weitgehend aus dem prophetischen Verständnis des Jubeljahres entlehnt ist. Diese Hypothese wirft Licht auf viele Anspielungen und einige der schwierigen Gleichnisse. In der Ausschließlichkeit, mit der Trocmé seine Hypothese als Schlüssel benutzt, mag man ihn zu originell und phantasievoll finden. Aber es ist nicht, wie aus dem Schweigen, womit kontinentale Neutestamentler auf Trocmés Buch reagierten, geschlossen werden könnte, ein gänzlich neuer oder undenkbarer Gedanke.
Schon Standardkommentare wie La Grange und Plummer lieferten dieselbe Interpretation dieser Passage.55 Der Unterschied liegt eher im Grad der Bereitschaft, das Licht, das dieser Abschnitt auf das übrige Wirken Jesu und auf sein Selbstverständnis werfen könnte, ernstzunehmen.
Es geht uns hier nicht darum, die Ursprünge des Sabbatjahres und des Jubeljahres zu diskutieren, die vermutlich aus einer Art Bankrott- und Verpfändungsregelung im alten Israel herrühren.56
Noch brauchen wir zu diskutieren, ob und in welchem Ausmaß die Vorschriften in Levitikus 25 jemals buchstäblich eingehalten wurden57, sei es in Form eines Fünfzig-Jahre-Rhythmus für bestimmte Verpflichtungen oder als umwälzende wirtschaftliche Reorganisation, die alles Eigentum sofort umverteilte. Wir konzentrieren uns auf den prophetischen Gebrauch der Jubeljahrsvision. Mit Levitikus 25 blieb die Vision einer Zeit lebendig, in der das wirtschaftliche Leben von Grund auf neu beginnen sollte; und das Zeugnis in Jesaja 61 zeigt die Fruchtbarkeit dieses Textes als Vision der kommenden Erneuerung.
Mindestens einmal wurde diese Vision des Jubeljahres in Israel als konkrete Erfahrung lebendig. Jeremia (Kap. 34) berichtet von einer Erneuerung des Bundes im belagerten Jerusalem; König Zedekia setzte das alte Gesetz wieder in Kraft und verkündete die Freiheit aller hebräischen Sklaven. Die Sklavenhalter jedoch fackelten nicht lange, nahmen die freigelassenen Sklaven wieder gefangen und unterwarfen sie erneut.58
Eine direkte Antwort darauf sind die prophetischen Worte, mit denen Jeremia im Namen JHWHs, des Gottes Israels, an die Bedeutung der Freilassung im Sinaibund erinnert; ausdrücklich wird festgestellt, dass Jerusalem wegen der Nichteinhaltung des erneuerten Bundes in die Hände Nebukadnezars fällt. „Ihr habt nicht auf mich gehört, dass ihr, ein jeder für seinen Bruder und ein jeder für seinen Nächsten, Freilassung ausgerufen hättet. So rufe ich denn um Freilassung für euch aus (d. h. ich liefere euch aus), spricht der Herr, dass ihr dem Schwert, der Pest und dem Hunger verfallen sollt“ (Jer 34,17). Bei der prophetischen Vision geht es also um die Erneuerung des Gottesvolkes. Als solche meint sie beides: die konkrete Erneuerung, die gelegentlich in der Vergangenheit geschehen und jetzt noch möglich ist, und auch die Erneuerung nach dem Ende der Zeiten – beides vollzieht sich in Form des Jubeljahres. Dieselbe Vision findet sich in Jesaja 58,6–12. Jesus macht also keinen willkürlichen Gebrauch von Jesaja.59
Wir müssen folgern, dass Jesus dem buchstäblichen Sinn seiner Worte nach, ebenso wie Maria und Johannes, den bevorstehenden Anbruch einer neuen Herrschaft ankündigte, die man daran erkennen sollte: Die Reichen geben den Armen, die Gefangenen werden befreit, und die Menschen erhalten ein neues Bewusstsein (metanoia), wenn sie diese Botschaft glauben.
Wir wissen nicht genau, was Jesus mit der Feststellung meinte, dass „dieses Wort erfüllt ist“. Wie ist Jesu Anspruch zu verstehen, in seiner Person beginne gerade jetzt etwas zu geschehen? Geschah überhaupt etwas? Kündigte er ein Ereignis an, dessen Verwirklichung vom Glauben seiner Zuhörer abhängig war, so dass es schließlich dann doch nicht geschehen konnte wegen ihres Unglaubens? Oder kündigte er etwas an, das dann wirklich geschah, aber für eine Weile wenig sichtbar war?
Das ist eine ernstzunehmende Frage. Doch handelt es sich um eine Frage der systematischen Hermeneutik, die von Lesern in den Lukastext hineingelesen wird, die nicht dabei waren. Diese Frage hat damit zu tun, inwieweit die von Jesus versprochene Erfüllung historische Realität war. Sie hat nichts mit der klaren Tatsache zu tun, dass es im Text um ein soziales Anliegen geht. Wir mögen große Schwierigkeiten haben, herauszubekommen, wie dieses Ereignis stattfand oder hätte stattfinden können; doch was stattfinden sollte, ist klar: eine sichtbare sozio-politische, ökonomische Neuordnung der Beziehungen im Volke Gottes, und das durch sein Eingreifen in der Person Jesu als des Gesalbten und mit dem Geist des Begabten.
Mit dem Zusammenstoß in der Synagoge erregt Jesus erstmals direktes Ärgernis bei seinen Hörern. Unter Berufung auf die Propheten verkündet er, dass das neue Zeitalter auch für die Heiden offenstehe. Diese zweite Stoßrichtung scheint nicht aus der Jubeljahrsverkündigung zu stammen; sie erwächst vielmehr aus Jesu Antwort auf den Unglauben seiner Zuhörer. Zwischen beiden Themen besteht ein eher negativer Zusammenhang: das zweite Anliegen, das sich gegen den ethnischen Egoismus Israels richtete, verhinderte, dass das erste im nationalistischen Sinne missverstanden wurde. Der Hinweis des Propheten auf die Gefangenen und Unterdrückten bleibt also nicht auf Israel oder das Judentum im Ganzen als kollektiv Unterdrückte beschränkt; dafür ist die Befreiung zu umfassend. Die neue Zeit ist für alle Menschen da, und das Zögern der Einwohner von Nazareth wird die weitere Verkündigung nur beschleunigen.
Eine neue Stufe der Öffentlichkeit: Lukas 6,12ff
Ab Kapernaum (4,31) berichtet Lukas von einem wachsenden Echo unter der Menge, den Kranken und Steuereintreibern. Bald beginnt die Reaktion des religiösen Establishments mit Einwänden gegen Jesu Autorität, Sünden zu vergeben (5,21), und gegen seinen schlechten Umgang (5,30). Beinahe von Beginn an sucht die Opposition ihr Heil im verärgerten Ränkeschmieden (6,11). Lukas betont, dass Jesus „in diesen Tagen“ nach einer langen Nachtwache zwölf Schlüsselpersonen aussuchte – die Erstlinge eines erneuerten Israel. Seine Antwort auf die organisierte Opposition ist die ausdrückliche Gründung einer neuen sozialen Wirklichkeit. Neue Lehren sind keine Bedrohung, solange der Lehrer alleine steht; eine Bewegung dagegen, die seine Persönlichkeit in Zeit und Raum verlängert und eine Alternative zu den vorgegebenen Strukturen bietet, fordert das System heraus, wie bloße Worte es nie könnten.60
Zwar mag das Funktionieren dieses inneren Kreises dem Zusammenleben anderer Rabbis mit ihren Lieblingsjüngern verwandt sein, doch bei seiner Gründung geht es um mehr. Ihre Zahl, die Nacht im Gebet,61 die darauffolgende zeremonielle Verkündigung von Weherufen und Seligpreisungen – all das dient der Dramatisierung einer neuen Stufe der Öffentlichkeit. Die Öffnung über das Judentum hinaus, die in der Synagoge zu Nazareth vorausgesagt wurde, beginnt nun; die „Küste von Tyros und Sidon“ ist auf dieser weiten Ebene vertreten. Trotz der vielen Parallelen zur Bergpredigt liegt der Schwerpunkt bei Lukas woanders. Im Kontrast zu den Seligpreisungen stehen Weherufe nach Art der Bundeszeremonien im alten Israel. Die Seligpreisung gilt den Armen, nicht nur den Armen im Geiste; den Hungrigen, nicht nur denen, die nach Gerechtigkeit hungern. Die Beispiele aus dem sexuellen Bereich (Mt 5,27–32) fehlen; nur persönliche und wirtschaftliche Konflikte dienen als Hinweis auf den neuen Weg, auf dem genommenes Gut nicht zurückgefordert und die Schuld vergeben wird. Wie beim Jubeljahr und im Vaterunser werden Schulden als das paradigmatische soziale Übel angesehen. Kurz gesagt: Die Ankündigung in der Synagoge wird wiederholt und in Einzelheiten geschildert, diesmal auf einer strukturierten sozialen Basis (zu der sowohl die gläubige Menge als auch der harte Kern gehören)62 und im Angesicht der Masse („vor den Ohren des Volkes“, 7,1). Eine Ethik, die sich leiten lässt durch die beiden Kernpunkte der Nachahmung, des Nachvollzugs von Gottes grenzenloser Liebe zu seinen rebellischen Kindern (6,35f) und der auffälligen Verschiedenheit zum normalen „Naturrechts“-Verhalten anderer („Welchen Dank habt ihr da? Auch die Sünder …“,