John Howard Yoder

Die Politik Jesu


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      Das Brot in der Wüste: Lukas 9,1–22

      Die Verbindung zwischen der Aussendung der Zwölf (9,1–10), der Speisung der Menge (9,11–17) und dem ersten Bekenntnis des Petrus (9,18–22) wird in Johannes 6 sehr viel deutlicher herausgearbeitet. Maurice Goguel hat zu Recht angenommen, dass dieses Kapitel historisch ernstzunehmen ist. Diese nach Tausenden zählende Menge war nicht der harte Kern geprüfter Jünger, sondern eine erste Welle Fragender, die sehen wollten, was es mit dem von den Zwölfen angesagten Königreich auf sich hätte. Wie der Teufel gesagt hatte, brachte die Verteilung von Brot die Menge dazu, Jesus als den neuen Moses auszurufen, den Ernährer, den erwarteten Wohlfahrtskönig. Sein Ausweichen vor ihrer Akklamation ist (in allen Evangelien) die Gelegenheit der ersten Ankündigung, dass sein Wirken von Leiden geprägt sein würde und dass seine Jünger bereit sein müssten, dieses Kreuz mit ihm zu tragen. Zu diesem Zeitpunkt fordert er Petrus zu seinem Bekenntnis heraus und heißt ihn dann schweigen. Unmittelbar darauf folgt das erste Anzeichen, dass Petrus den Christus nicht als leidend begreifen will. Zu diesem Zeitpunkt ziehen sich andere Jünger wegen seiner harten Worte zurück (Joh 6,60–66). Und genau dann „richtet er sein Angesicht nach Jerusalem“. Wie gering auch die Chance sein mag, aus den Evangelienberichten eine fortlaufend erzählende Biografie zu konstruieren, diese Geschichte vom Brot in der Wüste ist sicher eine der Gelenkstellen allen Geschehens.63 Sie markiert den Höhepunkt des massenwirksamen Auftretens in Galiläa und den Übergang zu einem mehr auf die Jünger bezogenen Wirken wie auch zum Gang nach Jerusalem. „Auf dem Weg nach Jerusalem“ (9,51) heißt die Überschrift des zweiten Drittels des Lukasevangeliums.

      Dieser erste Hinweis auf das Kreuz wird schon in seinem auf die Krone bezogenen Kontext sehr deutlich. Kreuz und Krone sind Alternativen, und dies nicht nur da, wo Jesus es seinen Jüngern sagt, gleichsam als Element moralischer Unterweisung (vgl. S. 46), sondern auch in der eigenen Sicht seines Wirkens und in seiner Antwort auf die fordernde Akklamation des Volkes. Er beginnt, sich nicht nur von den Führern der Juden, sondern auch von der Menge zu entfremden, denn seine Messianität ist nicht nach ihrem Geschmack. Doch was er vorschlägt, ist nicht Rückzug in die Wüste oder in einen Mystizismus; es ist ein erneuerter messianischer Anspruch, ein Gipfelgespräch mit Mose und Elia, und der Marsch nach Jerusalem. Das Kreuz beginnt sich abzuzeichnen, nicht als rituell vorgeschriebenes Instrument der Versöhnung, sondern als die politische Alternative zu Rebellion und Quietismus.

      Der Preis der Nachfolge: Lukas 12,49–13,9; 14,25–36

      Der Schatten weicht nicht von der Gruppe auf dem Weg nach Jerusalem. Das Feuer, das Jesus anzünden will, flammt bereits auf; seine Botschaft hat Trennung gesät, selbst in der Familie (V. 51–53). Eine Gräueltat, das Massaker einer Gruppe Galiläer durch Pilatus, ist genau die Provokation, die man einer politischen Persönlichkeit am Vorabend einer heiligen Revolution zutragen würde.64 Das fallende Mauerwerk des Turms von Siloah65 mag wohl von Belang gewesen sein, denn das dortige Aquädukt war aus Geldern finanziert, die Pilatus aus dem Tempelschatz genommen hatte.66 Die Verwerfung Jerusalems ist im Gleichnis vom Feigenbaum vorgezeichnet (13,6–9)67 und kurz darauf wörtlich vorhergesagt (V. 33–35). Die Furchtlosigkeit Jesu – und er kennt die Drohung des Herodes! – liegt darin begründet, dass sich sein Schicksal in Jerusalem (nicht in Galiläa) erfüllen wird. Nur im Hinblick auf ein Wirken in Jerusalem, das analog verlaufen wird zu der massenwirksamen, ordnungsbedrohenden Tätigkeit, die Herodes so beunruhigt hatte, ist solch eine Verknüpfung sinnvoll. Herodes kann Jesus nicht wegen Ketzerei oder Prophetie töten lassen: Aufruhr ist der einzig mögliche Anklagepunkt.

      Aber die Kreuzigungsperspektive bleibt nicht länger auf Jesus selbst beschränkt. Die kurze Warnung „nicht Frieden, sondern ein Schwert“ wird sofort zu einem langen Abschnitt erweitert (14,25ff).68 Gerade als „eine große Volksmenge“ ihn begleitete, spricht Jesus sein erstes ernstes öffentliches Wort der Warnung:

      Wenn jemand zu mir kommt und nicht seinen Vater und seine Mutter und sein Weib und seine Kinder und seine Brüder und seine Schwestern und dazu auch sein Leben hasst, kann er nicht mein Jünger sein.

      Lk 14,26

      Die moderne psychologisierende Interpretation Jesu hat sich intensiv damit herumgeschlagen, ob das Wort „hassen“ hier ernstgenommen werden sollte oder nicht. Das geht sicher am Kern des Abschnitts vorbei. Der springende Punkt ist vielmehr, dass Jesus in einer durch sehr stabile, religiös untermauerte Familienbeziehungen gekennzeichneten Gesellschaft zur Bildung einer Gemeinschaft freiwilliger Verpflichtung aufruft, die bereit ist, um ihrer Berufung willen die Feindschaft der bestehenden Gesellschaft auf sich zu nehmen. Der Ernst der Alternative, vor die der künftige Jünger gestellt wird, wird unterstrichen durch die Gleichnisse vom Bauherrn und vom König, die sich zu unbedacht Unternehmungen zuwandten, für deren Kosten sie nicht gerüstet waren.69 Wieder könnten wir den Text aktualisieren; wir wären dann überrascht und könnten vielleicht etwas Nützliches durch die Tatsache lernen, dass Jesus sich hier von der Menge zurückzieht, wogegen moderne Kirchenleitungen die Mitgliedschaft für die große Masse attraktiv machen wollen. Doch wieder geht es nicht um die taktische Frage, ob Jesus viele oder wenige Jünger wollte. Wichtig ist die Qualität des Lebens, zu dem der Jünger berufen ist. Die Antwort lautet: Jünger sein heißt, den Lebensstil zu teilen, dessen Höhepunkt das Kreuz ist.70

      Dieselbe Warnung wird noch deutlicher im Verweis an die Jünger wegen ihres Strebens nach Privilegien im Reiche Gottes, den Lukas in seinen Bericht über das letzte Abendmahl einbaut.

      Die Könige der Völker üben die Herrschaft über sie aus, ihr dagegen nicht so! Ich aber bin mitten unter euch wie der Dienende.

      22,25ff71

      In keinem der Berichte, die dieses Wort wiedergeben, tadelt Jesus seine Jünger, weil sie von ihm die Errichtung einer neuen sozialen Ordnung erwarten, wie er sie aber hätte tadeln müssen, wäre die These des allein geistlichen Königreiches maßgebend. Er tadelt sie vielmehr deswegen, weil sie diese neue soziale Ordnung, die er aufrichten will, missverstehen. Das Neue daran ist nicht, dass sie nicht sozial oder nicht sichtbar wäre, sondern dass sie gekennzeichnet ist durch eine Alternative zu den gängigen Herrschaftsstrukturen. Die Alternative dazu, wie die Könige die Völker regieren, ist nicht „Spiritualität“, sondern Dienen.

      Die Jüngergemeinschaft zeigt also die typischen soziologischen Merkmale von Gruppen, die die Gesellschaft verändern wollen: eine sichtbar strukturierte Gemeinschaft; ein nüchterner Entschluss, der garantiert, dass die Kosten des Einsatzes für die Gemeinschaft bewusst akzeptiert werden; und ein klar definierter Lebensstil, der sich von dem der Masse unterscheidet. Dieser Lebensstil ist anders, dies jedoch nicht auf Grund willkürlicher Regeln, die das Verhalten des Gläubigen von demjenigen „normaler Leute“ trennen, sondern auf Grund der außergewöhnlich normalen Qualität des Menschseins, für das sich die Gruppe einsetzt. Der Unterschied liegt nicht in einer kultischen oder rituellen Trennung, vielmehr in einer unangepassten Qualität „säkularer“ Verwicklung in das Leben der Welt. So bildet er eine unausweichliche Herausforderung an die bestehenden Mächte und den Anfang eines neuen Angebots sozialer Alternativen.

      Die politische Bedeutung der Bildung einer Jüngergruppe erhöht sich, wenn wir Oscar Cullmanns Vorschlag ernstnehmen, möglicherweise die Hälfte der Zwölf sei aus den Reihen der Zeloten rekrutiert worden.72 Die Bildung eines inneren Zirkels, dem sowohl frühere Zeloten als auch ehemalige Zöllner angehörten, und das frühe Wirken der Zwölf, von dem berichtet wird, dass es bei Herodes die erste Bestürzung über Jesus verursacht hat, unterstützen die These von der sozialen Relevanz dieser Minderheit.

      Die Erscheinung im Tempel: Lukas 19,36–46

      Das Mittelstück des Lukasevangeliums, beginnend mit 9,51: „da richtete er sein Angesicht nach Jerusalem“, erreicht einen ersten Höhepunkt mit dem Ereignis, das wir an Palmsonntag feiern. „Gepriesen sei, der da kommt, der König im Namen des Herrn!“ Hier wird zum ersten Mal bei Lukas messianische