Mischa Bach

Rattes Gift - Ostfriesland-Krimi


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      Mischa Bach

      Rattes Gift - Ostfriesland-Krimi

      Illustration: Shutterstock

      Saga

      Rattes Gift - Ostfriesland-KrimiCoverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 2009, 2020 Mischa Bach und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726444650

      1. Ebook-Auflage, 2020

      Format: EPUB 2.0

      Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

      SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

      – a part of Egmont www.egmont.com

      Handlung und Personen dieses Romans sind erfunden. Auch wenn die Orte wie die echten aussehen und manches Gebäude, manche Institution aus der Realität Eingang in die Geschichte gefunden hat, wären sämtliche Ähnlichkeiten mit wirklichen Ereignissen und Menschen rein zufällig.

      Prolog oder April, die Erste

       Damit hat sie nicht gerechnet. Jedenfalls nicht so, nicht hier, nicht jetzt, nicht auf diese Art. »Wir haben ihn. Und Ihren Wagen«, hat der Mensch aus Hameln, ein POK Berentz, am Telefon gesagt.

       »Wen? Wie?«, will Charlie ausrufen, bevor sie begreift, schluckt, sich fängt. »Danke für die Information. Ein loses Ende weniger, das ist gut. Ich komme, sobald es geht.«

       Sachlich und kühl kommt ihre Antwort, genau so, wie man es von Charlotte Kamann, Kriminalhauptkommissarin beim LKA in Hannover, Spezialistin für besondere Fälle, erwartet. Sie hat den Hörer noch nicht ganz aufgelegt, da fegt sie bereits mit einer einzigen Bewegung die Papiere von der Tischplatte in die ansonsten akribisch aufgeräumte Schublade und greift nach der Lederjacke, die über ihrem Schreibtischstuhl hängt. Während sie sich in die Jacke windet, gleichzeitig den Autoschlüssel vom Tisch zu fischen versucht, schließt sie die Schublade mit einem beinahe eleganten Hüftschwung. Das ist zu viel Energie für das oberste Blatt Papier. Es rutscht raus und segelt zu Boden. Charlie achtet heute nicht auf solche Kleinigkeiten. Auf dem Weg zur Tür tastet sie die Lederjacke routiniert nach den üblichen Inhaltsstoffen ab: Dienstmarke und -waffe, Papiere und Handschellen, alles ist da, wo es hingehört. Nur Charlies Gedanken sind alles andere als geordnet. Sie muss sich zwingen, nicht zu laufen oder gar zu rennen. Das wäre zu auffällig.

       »Ich muss noch mal los«, ruft sie im Vorbeigehen in Richtung Kara beziehungsweise deren Büro. Im Türsturz steht ein Kollege, dessen breites Kreuz den Blick auf Karas Arbeitshöhle verdeckt, in der Technik und Topfpflanzen zu einem wilden Natur- und Computerchaos zusammenwuchern. Wer da steht, realisiert Charlie nicht. Sie hätte auch nicht sagen können, ob er einen Anzug trägt oder ob Kara ihr etwas hinterherruft. Sie hat nur noch einen Gedanken: Sie muss nach Hameln, und das sofort.

       Sofort – hübscher Plan! Von Hannover nach Hameln muss selbst die Polizei die Landstraße nehmen. Mag sein, dass man zu den meisten Zeiten an den meisten Tagen des Jahres hier keine mehrspurigen Autobahnen braucht. Doch es ist nicht nur Freitagnachmittag, es ist der Beginn des ersten frühsommerlichen Wochenendes im April, das die Wetterfrösche den regen- und windgeplagten Niedersachsen versprochen haben. Alle haben sich aufgemacht, so kommt es Charlie vor, alle haben sich gegen sie verschworen. Ihre Überholmanöver auf der B 217 werden immer gewagter, je näher sie Hameln kommt. Sie muss die Polizeiinspektion erreichen, solange POK Berentz noch Dienst im Gewahrsam hat. Und vor allem muss sie dort wieder raus sein, bevor selbst dem letzten Dorfpolizisten klar wird, welche Rolle sie in diesem Spiel hat.

       Mist, am Telefon hat sie völlig vergessen, nach dem Hund zu fragen ... Allerdings, was würde das ändern? Einen Plan B hat sie nicht. Kein Wunder, sie hat ja nicht mal eine echte Vorstellung von dem, was jetzt auf sie zukommt beziehungsweise worauf sie da gerade zusteuert, mit Vollgas und aller Macht. Alles in ihr rast, und zugleich dauert es eine gefühlte Ewigkeit, bis sie mit ihrem unauffälligen, silberfarbenen Dienstwagen den Parkplatz der Polizeiinspektion erreicht. Da, ein freier Platz nahe des Eingangs, das ist gut, das könnte sich nachher als nützlich erweisen. Sie stellt das Auto ab und läuft die paar Stufen zur Eingangstür hoch. Dort kommen ihr bereits die ersten Uniformierten der Tagesschicht entgegen, gut gelaunt, weil nun ihr Wochenende beginnt. Charlie grüßt im Vorübergehen. Die Uniformierten tun es ihr nach. Bei aller Hektik und Anspannung, die sie innerlich zu zerreißen droht, strahlt KHK Charlotte Kamann natürliche Autorität und Kompetenz aus, und ihre verbindliche, korrekte Art geht für Höflichkeit und sogar Freundlichkeit durch. Umgänglich ist die drahtige 32jährige ja auch, jedenfalls solange man ihr nicht in die Quere kommt oder sie ob ihrer dunklen, kurzgehaltenen Locken partout für ein Engelchen halten will. POK Berentz macht diesen Fehler nicht. Er vollbringt sogar das Kunststück, zu Charlie entsprechend ihres Ranges aufzusehen, obwohl er einen Kopf größer ist. Charlie streckt ihm die Rechte entgegen und hält mit der Linken die Dienstmarke hoch: »Moin, moin. Kamann, LKA. Sie sind POK Berentz, der mich dankenswerterweise so rasch angerufen hat?«

       Der Uniformierte wird ob des Lobes rot und schüttelt mit stummem Enthusiasmus Charlies Hand. Liebe Güte, ein Jungspund, ist das gut oder schlecht für sie? Egal, ihr rennt die Zeit davon.

       »War doch klar«, findet Berentz seine Stimme wieder. »Nicht nur, dass er Ihren Wagen geklaut hat, die Fahndung nach ihm steht doch im Zusammenhang mit Ihrem ... – mit dem aktuellen großen Fang des LKA. Davon haben sie alle geredet, alle. Einerseits tragisch und dann doch wieder ... – Sie haben ganze Arbeit geleistet, unter wirklich widrigen Bedingungen, das muss man bewundern und das tut auch jeder. Also dachte ich, bei allem, was Ihnen da ... – passiert ist – da sollten Sie die Erste ... «

       »Stimmt genau, das haben Sie ganz prima gemacht«, unterbricht Charlie, wobei das Lob nur notdürftig ihre Ungeduld verdeckt. »Wo ist er? Und wo ist ...«

       »Also, Ihr Auto ist bei der KTU«, legt POK Berentz dienstbeflissen erneut los. »Der Kerl – also, der Verdächtige – hatte ja Rauschmittel dabei ...«

       »Er. Florian Berger. Nicht der Wagen. Wo ist er?« Charlie hat Mühe, sich zu bezähmen. »Dass der Wagen untersucht werden muss, ist mir klar. Aber ich brauche ihn – seine Aussage – für die Ermittlungen. Das Ganze ist ein Riesendurcheinander, und, wie gesagt, ich bin froh und dankbar über jede Nebenlinie dieses Schlamassels, die ich abhaken kann. Deshalb – ich weiß auch, dass ich Ihnen eine Menge zumute, so kurz vor dem Wochenende und dann auf dem ganz kleinen Dienstweg ... dennoch, ich muss ihn mitnehmen, es hilft ja alles nichts.« Charlie sieht, wie sich der Blick des jungen Polizisten hinterm Tresen verändert, und stoppt ihren Redeschwall. Merkt er etwas? Ist sie mit ihrer Improvisation zu weit gegangen? Hat sie sich verheddert, gar unbewusst etwas verraten? Sie strafft die Schultern und sieht ihrem Gegenüber fest in die Augen. Bluffen kann sie, das weiß sie, und es funktioniert auch diesmal. POK Berentz räuspert sich und schüttelt den Kopf, als habe sie ihn ertappt, als wäre es nicht sie, die ...

       »Kein Problem. Er ist in Zelle 12«, sagt er in ihr wildes Gedankenkarussel hinein und greift nach dem Zellenschlüssel. »Ich komme mit, wenn Sie ...«

       Ohne das Ende seines Satzes abzuwarten, nimmt Charlie ihm den Schlüssel aus der Hand. Sie hofft, ihr Lächeln geht als kollegial durch und nicht als Krampfknitter im Gesicht eines höheren Dienstgrades: »Danke, den Weg find ich allein. Machen Sie die Papiere fertig. Bitte. Ich muss ihn heute Abend noch nach Hannover bringen.« Noch ein Lächeln, ein Kopfnicken, und schon ist sie auf dem Weg zum Zellentrakt im Gewahrsam der Polizeiinspektion Hameln-Pyrmont.

       *

      Damit hat er nicht gerechnet. Nicht so, nicht hier, nicht so schnell. Gut, er hat sich, wie so oft, vorab keinen Kopf über mögliche Folgen seines Handelns gemacht. Ratte hat sich gelangweilt, so allein in der fremden Stadt, wo er außer ihr niemanden kennt. In Hannover war er zuvor nur zwei, drei Mal: bei den Chaostagen nämlich. Das erste Mal muss ewig her sein, mindestens