Mischa Bach

Rattes Gift - Ostfriesland-Krimi


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Alter, aber definitiv besser gekleidet, besser genährt und auch ganz sicher besser drauf.

      »Pass doch auf, Penner«, motzte ihn der Beifahrer an.

      Doch dessen Begleiter zog ihn weg. »Lohnt nicht«, meinte der Fahrer nur, und schloss den Wagen ab.

      Ratte ließ die beiden nicht aus den Augen, die erst provozierend beziehungsweise misstrauisch zu ihm herüberblickten, bevor sie ihm den Rücken zuwandten und überbetont lässig Richtung Fetenscheune abzogen. War wohl noch zu früh für eine der berühmt-berüchtigten Parkplatzschlägereien, die den Ruf der Discothek entschieden mitprägten.

      Lusche knurrte, wurde jedoch auf Rattes Handzeichen sofort still und setzte sich, wobei er die beiden im Visier behielt. Sein Herrchen warf derweil einen Blick Richtung Polo: Pech gehabt, hier blinkte es nicht nur rot, als gäbe es eine Alarmanlage, nein, das Bedienfeld des Radios und/ oder CD-Players war abmontiert. Auch sonst lag nichts im Wagen, das irgendeinen Aufwand, irgendein Risiko wert gewesen wäre. Ratte gab Lusche ein weiteres Zeichen. Dann zogen sie gemeinsam ab, weg von der Diskothek, rüber zu den Schrebergärten, wo der Bulli im Dunkel auf sie wartete.

      *

      Immer noch flirrten und flackerten lange Reihen wirrer Hexadezimalzahlen über den Bildschirm des Laptops. Die große Milchkaffeetasse war längst leer. Charlie rieb sich die Augen, griff sich in den Nacken, schaute auf die Uhr. Es gab hier nichts zu tun, der Rechner kam prima ohne ihre Aufsicht klar. Sie musste mal raus aus diesem Büro, sonst würde sie noch verrückt und ihre Blase würde platzen. Das müssten selbst ihre Auftraggeber verstehen.

      Das Büro lag im ersten Stock des Lagerhauses, der so etwas wie eine das ganze Gebäude umlaufende Galerie war. Zur Außenseite hin lagen verschiedene Büros; in der Mitte konnte man hinunter in die Halle selbst blicken. Dort unten im Erdgeschoss herrschte zu dieser späten Stunde höchst geschäftiges Treiben. Mehrere Lieferwagen mit der Aufschrift Toutes Françaises wurden zur Zeit beladen. Charlie nahm davon kaum Notiz, wie sie auch die Aktivitäten in den beiden hellerleuchteten Glaskästen auf der ihrem Büro gegenüberliegenden Seite der Galerie zu ignorieren versuchte. In dem einen wurde Heroin und Kokain verschnitten, um sogleich in Dosen verpackt mit den Paletten echter oder zumindest legaler französischer Spezialitäten unten im Erdgeschoss verladen zu werden. Das andere »Aquarium« war das Büro des Chefs. Torben stand dort mit einem Mann mittleren Alters, den Charlie hier noch nie gesehen hatte – und den sie auch jetzt nicht wirklich in Augenschein nehmen konnte, weil er der Glaswand und damit ihr den Rücken zuwandte. Er war wütend, wie seine Gestik zeigte. Torben sagte etwas, doch auf dem Gang war nichts zu hören, und die Kunst des Lippenlesens gehörte leider nicht zu Charlies Spezialgebieten. Die der Verstellung schon: Sie nickte Torben, der sie in diesem im Moment entdeckte, freundlich zu und ging weiter, rasch, wie man halt als Frau zur Toilette ging. Der andere Mann im Glaskasten reagierte ebenfalls sofort und machte einen Schritt zur Seite, so dass ihn ein Schrank gänzlich der Sicht vom Umgang aus entzog. Es war gar nicht nötig, dass Torben nun seinem scheuen Besucher zuliebe obendrein die Lamellenjalousie zuzog. Schade, aber man konnte nicht immer Glück haben in diesem Geschäft, dachte Charlie, und betrat die Damentoilette.

      *

      Ratte war gedanklich schon auf dem Heimweg, als er bei einer roten Ampel etwas so Abgefahrenes entdeckte, dass er gar nicht anders konnte, als zum Emspark zu fahren: Wer außer Mr. JJ wäre auf die Idee gekommen, die trocken-protestantischen Friesen mit einem Karaoke-Fest auf die kommende Karnevalssaison einzustimmen? Das jedenfalls stand auf dem Plakat am Straßenrand – heute Abend, mitten im hässlichsten Januarwetter, hatte der das Karaoke-Zelt auf dem Parkplatz des Emsparks aufstellen lassen und seine Leeraner Mitbürger zum »ausgelassenen Mitfeiern« aufgerufen. Ob das gut gehen würde? Seit Mr. JJ alias Jamal Janned der Liebe wegen aus Kenia nach Ostfriesland gezogen war, sprühte der selbsternannte Geschäftsmann nur so vor Ideen, doch häufig scheiterte er an der Ausführung. Mal vergaß er, sich für irgendeine Open-Air-Veranstaltung die erforderliche Genehmigung bei der Stadt zu holen, dann wieder fehlten die mobilen Toiletten, das Wetter spielte nicht mit oder aber er schätzte den friesischen Geschmack falsch ein. Letzteres schien heute Abend nicht das Problem, denn als Ratte mit dem Bulli auf die Nüttermoorer Straße einbog, war der Parkplatz des Emsparks proppenvoll. Rund ums Zelt war jeder Meter zugeparkt und der Lautstärke nach zu urteilen, grölte grad ein kompletter Damenkegelklub YMCA mit. Das klang schräg, aber auch so, als sei es die perfekte Ablenkung für Rattes abendliche Arbeiten. Also setzte er den Blinker und fuhr in das kleine, dem Emspark gegenüberliegende Industrie- und Gewerbegebiet am Nüttermoorer Sieltief, das knapp ein Dutzend Betriebe, darunter einen Steinmetz, eine Schreinerei, einen Autound einen Motorradhandel sowie einige Lagerhallen und Büros beherbergte. In der hintersten Ecke, knapp vorm namensgebenden Sieltief, stellte Ratte den Bulli in einer unbeleuchteten, erst halb fertigen Lagerhalle ab und stieg samt Hund und Rucksack aus. Während das Tier mit der Nase am Boden die Gegend erkundete, schaute sein Herrchen sich nach einer neuen »Leinwand« um. Der einstmals weiße Putz des Toutes Françaises, das sich damit von den umgebenden Backsteinbauten abhob, war durchaus verlockend, doch Ratte würdigte die Import-/ Exportfirma keines zweiten Blickes. Ein paar Schritte weiter hatte der Steinmetz sein Gelände mit einer fast mannshohen Mauer umgeben. Jungfäulich hellgrau schimmerte diese, als hätte man sie eben erst verputzt – oder wenigsten reinigen lassen. Irgendwas musste hier geplant sein, denn die Lagerhalle der Schreinerei auf der gegenüberliegenden Seite war über und über mit Graffiti unterschiedlichen Alters bedeckt. Rattes Werk dagegen hätte die Wand für sich, zumindest anfänglich. Das war der Traum jeden Sprayers.

      Doch zuerst musste er sich die drei Autos anschauen, die bei der Laterne parkten: In den ersten beiden waren die Radioschächte leer, und im dritten, einem weißen Golf, gab es nur ein Billigstgerät. Ratte wollte sich schon abwenden, als er stutzte und einen zweiten Blick riskierte: Im Kassettenschacht des Radios steckte eine Kassette, aus der ein Kabel hing. Ein zweites Kabel zur Stromversorgung war in den Zigarettenanzünder eingestöpselt. Das ließ nur einen Schluss zu, was das nachlässig über die Mittelkonsole geworfene Tuch in dem ansonsten penibel aufgeräumten Wagen zu bedeuten hatte ...! Ratte setzte den Rucksack ab und griff zum Schraubenzieher. Im Handumdrehen stand die Tür offen. Er hob das Tuch – Seide, ganz zart, es roch nach einer Frau, fand er, bevor er es zur Seite legte. Darunter kam ein CD-Walkman zum Vorschein, der mittels des Kabelsalats im Radio-/ Kassettenteil als Auto-Hifi-Anlage diente. Der Walkman war mit einem Bild bedruckt; es konnte gut und gerne ein Sammlerobjekt sein. Ratte ließ es in den Rucksack gleiten und griff nach den Kabeln, um das Zubehör einzusammeln, als Lusche anschlug. Verdammt, was ... – Er schaute auf und sah, wie an der entfernteren Straßenecke ein Streifenwagen einparkte und zwei Beamte ausstiegen, die sich zu Fuß vorsichtig dem Golf näherten. Ratte schaute einen Augenblick zu den beiden Männern rüber, während seine Hände gekonnt den Rucksack schlossen, dann stieg er aus.

      »Moin«, sagte er, als sei nichts. Ruhig sollten seine Bewegungen wirken, selbstverständlich. Einen Augenblick lang schien es, als gelänge der Bluff. Dann merkte er, wohin die Polizisten starrten – er hatte den Schraubenzieher noch in der Hand! Er drehte sich um, rannte los, den Rucksack halb über die linke Schulter geworfen, den Schraubenzieher noch immer in der rechten Hand.

      »Hey! Halt! Stehen bleiben, sofort stehen bleiben!«, brüllte der eine Polizist, während sein Kollege zum Streifenwagen zurücklief. Ratte hielt sich nicht damit auf, einen Blick über seine Schulter zu riskieren. Dass Lusche an seiner Seite war, wie immer, wusste er auch so.

      *

      »Ja, weiß ich, ist aber trotzdem so. Ich hatte auch nicht damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde. Kann nicht mehr lang dauern, ist auf jeden Fall heut Nacht gegessen, denk ich. Also, wohin soll das Zeug – Okay: [email protected] ... typisch ... Moment.« Charlie stoppte ihren Redefluss und schaute auf. Was nicht viel brachte, denn die Verschläge von Damentoiletten sahen überall gleich aus. Wenn man drinnen auf dem geschlossenen Klodeckel hockte, war es höchstens die Frage, ob es irgendwelche Schmierereien auf den weiß-grauen Platten gab. Hier gab es keinen Lesestoff, aber zu hören war so manches: Die Tür zum Waschraum wurde geöffnet. Schritte näherten sich Charlies Verschlag.

      Sie stand auf, betätigte die Klospülung und wartete einen kleinen Augenblick. Die Schritte im Vorraum entfernten sich. Doch das