komm dann raus«, sagte sie laut und deutlich ins Handy und legte auf. Sie streckte den Rücken durch, steckte das Telefon in die Hosentasche, straffte ihre Haltung einatmend noch einmal, fast wie eine Schauspielerin vor ihrem Auftritt, atmete aus und öffnete im selben Moment die Tür, als sei nichts, rein gar nichts geschehen.
»Hallo, Lukas. Fürchtet Torben, ich fall ins Klo oder rutsch auf der Seife aus, dass er mir seinen Wachhund nachschickt?«, sagte sie, ohne den durchtrainierten, dunkelhaarigen Mann anzusehen, dessen zusammengewachsene Augenbrauen seinen zumeist misstrauischen bis schlecht gelaunten Gesichtsausdruck betonten. Er stand hemdsärmlig neben den Waschbecken, die Arme vor der Brust verschränkt, aber die Waffe im Schulterholster war dennoch sichtbar. Was garantiert Absicht war, so viel wusste Charlie nach den paar Tagen mit ihm und seinem Chef. Das Spiel konnte sie auch spielen. Sie gab sich unbeeindruckt von seinen Machoposen, tat so, als bemerkte sie nichts Ungewöhnliches an dieser menschlichen Bulldogge mitten in der Damentoilette. Sie wusch sich die Hände am Becken gleich neben ihm.
»Ich hoffe, Torben mag Artischocken. Du weißt schon, diese kleinen grünen Dinger, voller Vitamine, Spurenelemente und solchen Sachen ... dieses Zeug zum Essen, du weißt schon, du kannst dich doch nicht nur von Steaks und Anabolika ernähren«, plauderte sie vor sich hin, während sie sich das Seifenwasser von den Fingern spülte und den Raum im Spiegel über dem Waschbecken im Blick behielt. »Artischocken sind übrigens auch in Frankreich sehr beliebt ... Darf ich?« Sie griff zum Papiertücherspender hinter dem Bodyguard. Er wich eine Millisekunde zu spät aus, um höflich zu wirken, doch Charlie ignorierte das wie sein bedrohliches Schweigen. Gründlich trocknete sie ihre Hände und ordnete dann einhändig ihre Locken.
»Oder hat Torben Pizza verboten, von wegen zu unfranzösisch?«, fragte sie in die Stille hinein und warf das zerknüllte Papier in den Papierkorb neben Lukas. Mist. Daneben. Sie überlegte, ob sie ihn zum »Apportieren« auffordern sollte, bückte sich dann jedoch selbst und hob elegant das Papier vom Boden auf.
Lukas nutzte die Gunst der dafür nötigen vorgebeugten Haltung und fischte das Handy aus ihrer Hosentasche.
»Pizza nicht. Fremde Handys bei der Arbeit schon.« Er hielt das Handy hoch, rief den Wahlspeicher auf. Pizza Pronto stand im Display. Charlie sah das, streckte ihm die Hand entgegen. Lukas schüttelte den Kopf und steckte das Telefon ein, das in seiner Pranke winzig wirkte. »Später. Vielleicht. Wenn Torben sagt, es ist okay.«
»Wenn Torben sagt, es ist okay«, äffte Charlie ihn nach. »Mann, brauchst du seine Erlaubnis auch zum Scheißen?«
»Nein«, sagte Lukas, und öffnete ihr die Tür auf den Gang. Er wartete, dass sie begriff und unter seinem ausgestreckten Arm durchging. »Aber du.«
*
Die beiden Polizisten hatten sich auf eine kurze Verfolgung des Diebes samt seines Hundes eingerichtet. Schließlich war er zu Fuß und sie hatten den Wagen. Doch dann stürzten sich die Flüchtigen todesmutig auf die Nüttermoorer Straße, auf der nach dem Ende der Karaoke-Fete nun Hochverkehr herrschte. Bremsen quietschten, ein Hupkonzert erscholl, der Streifenwagen steckte eingekeilt auf der Mittellinie der Straße zwischen einem Lieferwagen und zwei, drei Personenwagen fest. Hilflos mussten die Beamten zusehen, wie der Punker mit seinem Vierbeiner in der Blechlawine beim Festzelt gegenüber verschwand.
Wütend riss der uniformierte Beifahrer seine Tür auf, und rammte sie beinahe dem Lieferwagen in die Motorhaube. »Das darf doch nicht wahr sein«, schickte er den Flüchtenden entgeistert hinterher, dann wandte er sich an seinen Kollegen: »Nun tu doch was!«
Der hatte inzwischen das Fenster heruntergefahren, um den Umstehenden Anweisungen zu erteilen und so das Verkehrshindernis, das sie alle gemeinsam bildeten, wieder aufzulösen. Anscheinend hatten die anderen Fahrer Besseres zu tun, als zu gaffen – oder mehr getrunken, als ihnen gut tat, denn es dauert nur ein paar Sekunden, bis zumindest so viel Platz um den Streifenwagen entstanden war, dass der Beifahrer die Tür öffnen und rausspringen konnte. Der Beamte überquerte die Straße im Laufschritt, lief zielstrebig den vom Parkplatz strömenden Menschen entgegen.
»Hey, mach nicht so einen Aufriss«, rief sein Kollege ihm aus dem Wagen hinterher. Immerhin hatte er es gegen den Strom der Blechlawine auf den Emsparkplatz geschafft. »Der ist längst über alle Berge.«
Doch der andere hörte nicht zu. Der lief an den Fahrzeugen vorbei, leuchtete mit seiner Maglite mal in diesen Wagen hinein, mal jenen Strauch an.
Ratte hielt den Atem an. Er hockte am Boden hinter den schweren Winterreifen eines neumodischen SUVs, dessen Besitzer anscheinend noch zu tun hatte. Das Licht tastete sich immer näher an ihn und Lusche ran, und er wollte doch nicht, dass ihn der weiße Dampf seines Atems verriet, der auch den wütenden Streifenpolizisten am Ende der Taschenlampe umtanzte wie ein frecher Geist.
»Wo steckt er, verdammt, das kann doch nicht sein!«, rief sein Verfolger und sah aus, als hätte er am liebsten mit den Fuß auf dem Boden gestampft wie ein wütendes Kind.
»Komm schon«, rief sein Kollege, dem dieser Auftritt vor so viel Publikum sichtlich peinlich war »das bringt doch eh nichts. Selbst wenn – es ist arschkalt, du frierst dir erst sonst was ab und hinterher der Papierkram ... Das lohnt doch alles nicht für so ’nen Autoknacker.«
»Ich hasse die Kerle«, antwortete der andere, kam aber zum Wagen zurück. »Weißt du, wie oft ich wegen denen meiner Tochter schon ’n neues Autoradio kaufen durfte?!« Er stieg ein und knallte die Tür zu.
»Hilfe!«
Die Arme über den Kopf in weit ausholender Geste schwenkend, lief ein Mann in Lederkluft auf das Polizeifahrzeug zu.
»Hilfe!«, rief er nochmals, dann ließ er zur Bekräftigung seine Pranken auf die Motorhaube runtersausen. »Meine Frau – das Baby ... Ich glaube, das Baby kommt! Und mein Wagen springt nicht an! Kommen Sie mit, sie ist dort drüben, ihr ist beim Toilettenwagen schlecht geworden!«
Die hintere Tür wurde von innen aufgestoßen, der werdende Vater sprang hinein, der Polizeisirene ging los und, in der Tat, die anderen Autos machten Platz, bildeten eine Gasse, so dass der Streifenwagen die paar Meter zum WC-Wagen beim Zelt vorpreschen konnte.
Ratte schaute ihnen kopfschüttelnd hinterher. Dann kam er aus der Hocke hoch, schulterte den Rucksack und ging zwischen all dem Blech zurück ins Gewerbegebiet auf der anderen Seite der Nüttermoorer Straße, zurück ins schützende Dunkel der halbfertigen Lagerhalle, wo der schrill bemalte Bulli auf sie wartete. Lusche zog sofort wieder schwanzwedelnd seine Schnüffelkreise. Ratte verstaute den Rucksack mit der Beute im Wagen, dann fischte er seinen Tabaksbeutel raus und begann, sich eine Zigarette zu drehen. Beide, Hund und Herrchen, benahmen sich fast so, als seien sie nach Hause gekommen. Nach der Verfolgungsjagd hatten sie die Ruhe weg. Oder doch nötig. Zumal es plötzlich ganz still war. So still, dass das flackernde Licht hinter den Fenstern im blättrig-weißen Büro- und Lagerhaus gegenüber fast schon laut wirkte.
*
Obwohl Charlie fieberhaft arbeitete, fühlte sie sich klar und ruhig. Ihr Programm hatte den Code geknackt, so dass die Daten des Buchhalters offen im Plain Text vor ihr lagen. Lange Zahlenkolonnen, die verdächtig nach Bankleitzahlen und Kontonummern aussahen, Passwörter obendrein, dazu Überweisungen samt Daten und jede Menge Initialen, hinter denen sich das verbarg, was alle – nicht nur Torben, sondern auch Charlie und ihre Kollegen beim LKA – am meisten interessierte: Namen. Namen von Kunden und Lieferanten des Drogenrings, Namen auch von Helfern und Helfershelfern, von Komplizen, insbesondere aber, so hoffte sie, die Namen des oder der Bestechlichen in den Reihen ihrer Kollegen im Drogendezernat vor Ort.
Dass es eine undichte Stelle, ein geschmiertes Rädchen im Getriebe beider Seiten, geben musste, war klar. Leer lag nah an den Niederlanden, nah auch am Meer, an den Wasserstraßen. Leer war damit für Schmugglerringe fast aller Art interessant. Und nicht nur solche, bei denen es um illegale Drogen ging, pflegten sich einen unschuldigen Anstrich zu geben. Doch derartige Schutzschilde waren temporärer Natur. Irgendwann zerbröselten sie, erweckten Verdacht, bis schließlich die Polizei ermittelte. Manchmal brauchte es mehrere Anläufe, bis genügend Beweise für Hausdurchsuchungen und die eine oder andere Festnahme da waren, manchmal reichte das schon den