man es denn so nennen wollte. Doch die Geschäfte des Toutes Françaises waren unter Torbens Vorgänger zu lange zu gut gelaufen. Sicher, auch hier hatte es Verdachtsmomente und Ermittlungen gegeben, mehr als einmal waren dabei Durchsuchungsbefehle und vorläufige Festnahmen herausgekommen. Doch weiter ging nichts, denn das Toutes Françaises und seine beiden Chefs waren sauber, zumindest beweistechnisch. Dass sie nun samt ihres Buchhalters und Computerspezialisten verschwunden waren, dass Torben jetzt an ihre Stelle getreten war, sprach Bände – war aber ohne Leichen (die man vermutlich in einem Spülfeld hatte verschwinden lassen) nur ein weiteres Indiz. Damit das so blieb, damit alles floss wie gehabt, nur eben die Sahne in seiner Tasche landete, genau dafür brauchte Torben die Daten, die seine Vorgänger so sorgfältig gehütet hatten.
Und Charlie wusste, sie war kurz davor. Die entscheidenden Beweise standen vor ihr auf dem Bildschirm. Doch jetzt war wahrlich weder Zeit noch Ort, die Daten zu sichten. Jetzt musste all das gesichert und aus Torbens Reichweite geschafft werden. Sie zog eine Diskette aus ihrer Laptop-Tasche und steckte sie ins Laufwerk des alten Bürorechners. Sie musste grinsen, als sie die einzige Datei, die bislang auf dieser Diskette war, ins Rootverzeichnis des Drogencomputers kopierte: comp.hiv – so hatte Kara ihren Virus genannt. Na ja, Hagen, ihrer beider Chef und Charlies derzeit einzige Nabelschnur in ihr reales Leben, hatte als Tarnung den Pizzaservice gewählt. Man konnte bloß hoffen, er käme nie auf die Idee, selbst Hand anzulegen. Er gehörte zu den Menschen, denen selbst kochendes Wasser anbrannte. Von daher: Wie sich wer nannte, wenn es undercover ging, das hatte manchmal was von Wunschdenken oder einem Mantra. Aber Karas Virus war womöglich in der virtuellen Realität des Rechners tatsächlich so unheilbar wie HIV in der 3-D-Welt. Allerdings hätte sich Charlie ihren Tarnnamen – Mareen Steinberg – wohl kaum selbst gegeben. Nun denn. Ob als Charlie oder als Mareen, sie hatte Wichtigeres zu tun, als sich unnütze Gedanken zu machen. Sie startete einen weiteren Kopiervorgang auf dem Bürorechner, der die geknackten Dateien auf die Diskette beförderte. Laut rappelnd und ratternd arbeitete der Rechner vor sich hin. Wäre das eine gute Gelegenheit ...?
Charlie stand auf und ging zur Tür. Sie lauschte, öffnete die Tür einen Spalt breit, lauschte erneut, spähte hinaus. Alles ganz normal, jedenfalls soweit es diesen Ort und diesen Abend betraf. Die meisten waren mit ihrer Arbeit fertig. Der Glaskasten auf der gegenüberliegenden Seite des Umgangs, der als Drogenlabor benutzte wurde, war nun ein schwarzer Fleck ohne Licht und Leben. Auch unten in der Halle war es inzwischen weitgehend still und leer – die Ladehelfer hatten sich in Lieferwagenfahrer verwandelt, sofern sie nicht zum Wachpersonal gehörten. Und wo immer sich das befand, abgesehen von dem Kerl in der Pförtnerloge beim Haupttor blieben diese Leute für Charlie unsichtbar. In Torbens Glaskastenbüro waren die Lamellenjalousien immer noch geschlossen, so dass er und sein geheimnisvoller Besucher für Charlie nur als Schattenrisse zu sehen waren. Sie wäre zu gern rübergegangen, um sich selbst ein Bild zu machen. Doch das war zu riskant. Aber so nützte der Ausblick nichts – Torbens Besuch trug einen Mantel und war von durchschnittlicher Größe und Statur. Keine besonderen Kennzeichen. Aber wer außer Cyrano de Bergerac wäre noch als Schattenriss unverkennbar gewesen?
»Was wird das? Schon fertig?«
Das war Lukas, der unvermutet an sie herangetreten war. Abgehackt wie immer sprach er, als wolle er damit seine seltsam hohe Tonlage kaschieren. Charlie zuckte zusammen und schüttelte den Kopf.
»Ich kann nicht immer nur in dem Ding da hocken«, sagte sie und deutete mit dem Kopf ins Büro, während sie ihm zugleich den Blick in den Raum verstellte. Hoffte sie zumindest, denn er sollte nicht sehen, was sich auf den Rechnern tat. Obwohl – das Rattern und Rappeln hatte aufgehört.
»Ich muss weitermachen«, sagte Charlie und schlug Lukas die Tür vor der Nase zu.
In der Tat, die Kopie war fertig. Und was nun? Sollte sie Karas Warnungen zum Trotz versuchen, von hier aus ins Internet zu gehen? Wer weiß, wann sie heute hier rauskäme und was Torben sie mit »nach Hause« nehmen ließe. In den letzten zwei Tagen hatte sie zwar so manches technische Gerät, Werkzeug und auch Software herbringen, jedoch nichts wieder mitnehmen dürfen. Außerdem tastete Lukas sie jeden Tag zwei Mal ab – einmal, wenn sie ankam, das zweite Mal, wenn sie ging. Wenn er dabei die Diskette fände, wär’s das gewesen.
Auf dem Bürorechner hatte sie das Icon eines Internetbrowsers gefunden – ein uralter Netscape, aber das spielte keine Rolle. Wichtig war nur, dass das zur Modembuchse passte – beides brauchte man nur, wenn man damit die Möglichkeit schuf, ins Internet zu gehen, oder? Und im Büro gab es ein Telefon samt Dose. Einen Versuch war’s wert. Was sollte schon groß passieren ...
Gedacht, getan. Kabel hatte sie ja reichlich dabei. Ein Einwahlprogramm fand sie nicht, also klickte sie den Browser an. Offline-Modus, stand dort. Das war zu befürchten gewesen, doch dann öffnete sich ein weiteres Fenster mit einem automatischen Einwahlprogramm, das ihr verschiedene Anbieter vorschlug. Sie klickte irgendeinen an, hörte, wie das Modem wählte und wollte sich befriedigt zurücklehnen, als der Wählvorgang abbrach: No Dialtone blinkte es. Verdammt – das konnte nur eines heißen! Mit der einen Hand beförderte sie die Diskette aus dem Laufwerk, mit der anderen betätigte sie die Maus, suchte und fand das Fenster mit dem Virus wieder und startete comp.hiv. Das Rufen aus dem Glaskasten gegenüber und die eiligen Schritte, die sich auf dem Gang näherten, waren nicht zu überhören.
Charlie griff nach ihrer Jacke, zog sie über und wollte sich ihr Laptop schnappen. Mist, das Ding hing noch an den Kabeln zum Bürorechner! Doch sie hatte keine Zeit mehr, es runterzufahren oder abzustöpseln, denn in diesem Moment riss Torben die Tür auf. Er sah sie, sah die Jacke, das Laptop, begriff und zog seine Waffe.
»Nein«, schrie Charlie, und warf ohne zu zögern das Laptop in seine Richtung. Er wich überrascht aus, das gab ihr Zeit, zum Fenster zu stürzen und es zu öffnen. Das krachende Zerbersten des Notebooks übertönte, was immer Torben ihr zu- oder vielmehr hinterherrufen mochte. Wenn er das denn tat. Sie machte den Fehler, sich auf dem Fenstersims noch einmal umzudrehen, statt gleich aus dem ersten Stock ins unbekannte Dunkel zu springen.
»Halt«, brüllte Torben nun, und drückte ab.
*
Ratte hätte nicht sagen können, was er zuerst wahrgenommen hatte: Den Schrei, der eigentlich zwei Schreie kurz hintereinander war, oder den Knall. Gebannt starrte er auf das Fenster im ersten Stock des Lagerhauses gegenüber. Dort kam der Lärm her, dort stand plötzlich diese Frau im Fenster. Halb mit dem Rücken zu ihm, den Blick nach innen gewandt, wo es immer lauter wurde, stand sie da, für den Bruchteil einer Sekunde. Dann eine plötzliche Bewegung, schwer nachzuvollziehen, erst im Rückblick als Schusswirkung zu entschlüsseln. Sie griff sich an die Schulter, verlor das Gleichgewicht, und fiel. Kurz gelang es ihr, sich im Fallen außen ans Fensterbrett zu krallen, doch offenbar reichte ihre Kraft nicht. Sie stürzte nach unten, ins Dunkel. Ein Mann erschien am Fenster, er fuchtelte mit einer Waffe und schaute suchend in die Nacht.
»Sie muss da draußen sein!« rief er. »Los, raus, findet sie, verdammt!« Dann verschwand er aus dem erleuchteten Viereck des Fensters. Was immer er noch brüllte, war nicht mehr zu verstehen. Undefinierbarer Lärm und unverständliches Geschrei drangen aus dem Lagerhaus.
Die Frau rappelte sich inzwischen unten wieder hoch. Taumelnd, orientierungslos, mit letzter Kraft rettete sie sich dorthin, wo es ihr wohl instinktiv am sichersten schien: in den dunklen Toreingang der halbfertigen Halle gegenüber, genau auf Ratte lief sie zu.
»Scheiße«, murmelte der und trat seine Zigarette aus. Gerade rechtzeitig, um die Frau aufzufangen, die sonst vor seinen Füßen zusammengebrochen wäre. Ganz schön schwer, dachte er, dabei war sie nicht groß und schon gar nicht dick, nur eben bewusstlos, kein Lebendgewicht, sozusagen.
Lusche war beim ersten Lärm bereits an seine Seite geeilt. Jetzt schnüffelte der Hund neugierig an der Frau und wedelte mit dem Schwanz. Erwartungsvoll blickte er sein Herrchen an. Der schaute noch einmal rüber zum Toutes Françaises, wo jetzt hörbar das große Rolltor geöffnet wurde. Ohne weiter zu zögern, schleppte er die Frau zum Bulli und legte sie auf dem schäumstoffgepolsterten Teil der hinteren Ladefläche ab. Er schmiss die Schiebetür zu, riss die Fahrertür auf, stieß beinahe mit dem Hund zusammen, aber es ging gut. Lusche kannte ihn und den Bulli