gesamte Schiffsbesatzung.
Er hatte keine Zeit mehr. Das drängelnde Gefühl, das Oman ihm vermittelte, wurde vehementer.
Was muss ich tun?, fragte er in Gedanken.
Meinen Anweisungen folgen. Ich zeige dir, wie du ANANSIS Wahrnehmungen geringfügig einschränkst. Es werden anstrengende zwei Sekunden für dich werden, aber wir müssen das Prozedere rasch hinter uns bringen. Bist du bereit?
Ja.
Folge mir!
Omans Präsenz wurde schwächer. Der Vergessene entfernte sich, Holonder eilte ihm hinterher. Gemeinsam reisten sie durch die positronischen Schaltstellen und Rechengehirne, fielen in tiefe Datenabgründe, entwichen Abwehrvorrichtungen, hatten schmerzhafte Begegnungen mit höherdimensional verankerten Datenwächtern.
Bemerkte ANANSI denn nicht, dass Oman und er sich gemeinsam durch das Reich der Semitronik bewegten? Würde sie auf ihn aufmerksam werden, wenn er sich zu weit vom Vergessenen entfernte?
Holonder unternahm alles, um Oman zu folgen. Wertvolle Hundertstelsekunden vergingen, während er an einem virtuellen Tor rüttelte und es endlich schaffte, das Schloss zu knacken, um in einen besonders geschützten Bereich vorzudringen. Er machte einige Bewegungen, die ihm der Vergessene vorgab – und fühlte mit einem Mal, wie sich etwas rings um ihn veränderte. Er spürte die Kälte eines Verlustes.
Sie hatten es gemeinsam geschafft. Ein Teil von ANANSIS Überwachungsmöglichkeiten war von der Semitronik abgekoppelt.
Holonder fühlte Schmerz und Erleichterung gleichermaßen, als Oman ihm wortlos zuwinkte und aus seiner Wahrnehmung entschwand.
All das, was er während der letzten fünf, sechs Sekunden erlebt hatte, war eine anstrengende Reise durch das Bewusstsein ANANSIS gewesen. Was immer Holonder gesehen und gespürt hatte, war seiner Phantasie entsprungen. Sein eigenes Gehirn hatte ihm Bilder und Empfindungen gegeben, um zu verhindern, dass er im positronischen Reich ANANSIS verrückt wurde.
Holonder konzentrierte sich auf sein körperliches Dasein und kehrte in die Realität zurück. Er fühlte seine Finger, seine Beine, seinen Kopf wieder.
Mit fahrigen Bewegungen streifte er die dünne SERT-Trägerhaube ab und wollte aufstehen. Der Übergang war anders als sonst. Anstrengender. Außerdem konnte Holonder erst wieder etwas sehen, nachdem er sich Tränenflüssigkeit aus den Augenwinkeln gewischt hatte.
Holonder blickte in betroffene Gesichter.
»Was ist los?«, fragte er irritiert.
»Deine Augen, Cascard«, sagte Lit Olwar. »Sie bluten.«
8.
Icho Tolot
Das Erwachen kam übergangslos wie immer. Eben noch hatte er von Halut geträumt und von einer Drangwäsche, die ihn quer durch eine Steinwüste der alten Heimat geführt hatte. Im nächsten Augenblick sah er sich drei Besatzungsmitgliedern der RAS TSCHUBAI gegenüber: Lerva Onteren, Yüs Ghysar und Onker Dou. Sie wirkten besorgt, aber auch erleichtert.
Er wandte sich dem stellvertretenden Chef der Inneren Sicherheit zu. Es war ganz klar, dass er das Kommando führte.
»Die RAS TSCHUBAI ist immer noch von der VECU besetzt?«, fragte er.
»Ja.«
»Ihr habt einen Weg gefunden, mich dennoch zu befreien?«
»Ja. Aber woher weißt du ...?«
Tolot wischte die Frage mit einer Bewegung seines rechten Handlungsarms beiseite. »Bring mich auf den aktuellen Stand der Dinge.«
Er wuchtete sich aus dem Suspensionsalkoven und setzte sanft auf dem Boden auf. Rings um sich entdeckte er mindestens zehn Kameras und Sensoren. Sie waren allesamt desaktiviert.
Onker Dou war schnell in seinem Denken und in seiner Entscheidungsfreudigkeit. An Tolot kam er allerdings bei Weitem nicht heran. Der Haluter wartete geduldig, bis sein Gegenüber die Fakten aufgezählt, von der stillen Zusammenarbeit mit Cascard Holonder und von Oman, dem Vergessenen, berichtet hatte.
»Wo ist Oman in diesem Moment?«
»Er hat sich zurückgezogen. Die Unterhaltung mit Holonder hat ihn Kraft gekostet. Er wird auftauchen, sobald wir ihn benötigen.«
»Wie viel Bewegungsspielraum haben wir an Bord des Schiffs?«
Dou generierte mit wenigen Handbewegungen ein Holo. Es zeigte weiß markierte Bereiche im Inneren des Kugelraumers. Sie zogen sich wie ein Gespinst durch die RAS TSCHUBAI.
Tolot konnte sich durch einen Teil der Servicegänge bewegen, sofern sie breit und groß genug für ihn waren. Darüber hinaus gab es drei unbenutzte Lagerräume, ein Labor, eine stillgelegte Essensstation, einige Nassräume, zwei Werkstätten, zwei positronische Überwachungsstationen ...
»Das ist weniger als 0,1 Prozent des Gesamtvolumens der RAS TSCHUBAI.«
»Oman behauptet, es wäre das maximal Mögliche. ANANSI überprüft sich beständig selbst und wird eher früher als später herausfinden, dass ihr die Kontrolle über einen Teil des Schiffs entzogen wurde.«
»Bedeutet das, innerhalb der nächsten Stunden?«
»Oman meint, wir hätten drei Tage Zeit. Dann müssten wir uns etwas anderes überlegen, um unsichtbar zu bleiben.«
»Gibt es andere Besatzungsmitglieder, die sich versteckt halten und Widerstand leisten?«
»Wir wissen von insgesamt sechzehn, die den Krisenfall Philippi genutzt haben und untergetaucht sind. Darüber hinaus können wir auf meine Leute der Inneren Sicherheit zählen. Und auf Cascard Holonder. Er wird einen Weg finden, mit anderen Offizieren zu reden.«
»Kann Oman ihn nochmals erreichen?«
»Sobald er sich unter die SERT-Haube setzt, sonst nicht. Wir wissen allerdings nicht, ob ihn ANANSI und die VECU nochmals ranlassen.«
»Wir müssen uns also auf unser Glück verlassen.« Tolot wischte durch die Luft, das Holo verschwand. Er hatte sich die Gänge und Wege eingeprägt, die sie nutzen durften.
»Hast du einen Plan?«, fragte Dou.
»Noch nicht. Wir müssen abwarten und beobachten, was die VECU vorhat. Je besser wir ihr Verhalten einschätzen können, desto größer ist die Chance, die Superintelligenz aus unserem Schiff zu vertreiben.«
»Drei Tage Frist sind nicht viel.«
»Umso schneller sollten wir uns auf den Weg machen. Wir kehren in eure Steuerzentrale auf Deck Achtzehn zurück und verfolgen die weiteren Geschehnisse.« Tolot zeigte seine Mahlzähne her und hoffte, dass die drei Kleinen verstanden, dass er sie anlächelte. »Außerdem würde ich mir gerne den einen oder anderen Zentner Nahrung besorgen. Die Flucht durchs Schiff war etwas anstrengend.«
*
»Der Angriff auf das Fundament des Abyssalen Triumphbogens war mit Sicherheit lediglich ein Probelauf«, behauptete Tolot. »Die VECU hat ein größeres Ziel vor Augen.«
»Sie will der Kandidatin Phaatom Nadelstiche versetzen«, vermutete Onker Dou. »Aber wozu? Warum macht sie auf sich aufmerksam, wenn sie doch geschwächt ist?«
»Vorerst hat es den Anschein, als wäre es die RAS TSCHUBAI, die diesen Angriff geflogen hat«, piepste Ghysar. »Vielleicht will die VECU von sich selbst ablenken, das Schiff irgendwann einmal verlassen und uns als Bauernopfer präsentieren?«
Tolot überlegte. Sein Planhirn lieferte Analysen und Wahrscheinlichkeitsrechnungen. »Nein«, sagte er. »Das widerspräche ihren bisherigen Verhaltensmustern.«
»Mein Gefühl sagt mir etwas anderes.« Onteren schüttelte energisch den Kopf. »Die VECU schmeichelt sich bei uns ein und gibt vor, ein guter Freund zu sein. Um uns letztlich fallen zu lassen. Das entspräche all dem, was wir von Superintelligenzen wissen.«
Die Arkonidin