Thilo Koch

Wohin des Wegs, Deutschland?


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die Federal Republik ist eine Interessengemeinschaft zur Erzeugung von zwei Gütern: Wohlstand und Antikommunismus.«

      Ich fand Nachbar Kenneths Sarkasmus nach meiner Rückkehr so ganz und gar abwegig nicht. Hinsichtlich der Schweiz vergaß er vielerlei Liebenswürdiges, was jene »Ausbeutung der Fremden« so angenehm machtauch für die Fremden. Und unsere »Federal Republic«? Dein guter Stern auf allen Straßen, gewiß, es daimler-benzt, porscht, opel-admiralt sich chromblitzend und vielhundertpferdig durch all die schlecht geflickten Sackgassen, die man hierzulande als Autobahn bezeichnet. »Schöne Sklavinnen des Nerz« – früher gab’s das auf der Fifth Avenue und den Champs-Élysées; 1964/5 gleißen die Zehntausend-Mark-Mäntel aus Blue Silver Mink hinter den Scheiben unter den runden roten Markisen des renommierten Pelzgeschäfts am Maximiliansplatz.

      Die deutsche Frau und Mutter als Sklavin des Nerz? »Ist das nicht viel hübscher, als hochgeschlossene Frauenschaftsbluse und Runenbrosche?« Ruth, schon lange beim Film und schon lange im Parnaß der Publikumsgunst, fragt es mich lächelnd und sieht ganz ungemein schmuck aus in ihrem Salzburger Dirndl, blutrote Rosen auf schwarzem Wollmusselin. Ja gewiß, erstaunlich nur diese Methamorphose: vom BDM-Aschenbrödel zur Miss-Germany-Prinzessin.

      Es muß ja nicht Nerz sein oder Persianer oder Gold, was glänzt, und richtige Brillanten. Auch die avancierte Sekretärin trägt ihr neues Herbstkostüm mit dem eingefärben Ozelotkragen und die Kunststoffkrokodilledertasche mit selbstverständlicher Lässigkeit; der Duft von Lanvin oder Carven ist echt; auch sie gibt zwanzig Mark für die Dauerwelle aus, und leidlich Französisch, recht gut Englisch werden einfach verlangt.

      Die Schweiz eine Interessengemeinschaft . . . Aber sind nicht wir Bundesrepublikaner auf dem besten Wege zu verschweizern? Wenn es schweizerisch ist, kosmopolitisch zu sein und geschäftstüchtig, urban und fleißig, raffiniert und sauber – ja, dann ist Schweiz den ganzen Rhein abwärts und hinüber zur Ostsee, hinab zum Bayerischen Wald. Wir haben keinen Rigi, kein Lausanne, bei uns schlagen die Pendulen noch nicht so lange und ungestört und pünktlich und silbern die Stunden. Aber wir können uns das alles leisten.

      In Essen ist die Luft nicht so gut wie in Winterthur. Die Elbe bei Hamburg fließt träge und schmutzig, verglichen mit der Rhône bei Genf. Selbst unsere Zugspitze wirkt recht subaltern neben Jungfrau und Mönch. Aber wir können ja hin; wir können uns die Schönheiten der Welt kaufen-»was kosten sie schon«, können sie auf Kodak-Farbfilm getrost nach Hause tragen. »70 Franken pro Tag hab’ ich in Davos bezahlt, allein für den Skilift«, sagt der sympathische Architekt mit der schottisch-karierten Fliege unterm Kinn.

      Im National Press Club, zwei Blocks downtown und dreizehn Stockwerke überm Weißen Haus, kam es eines Sommernachmittags zu einem gutgelaunten Streit beim zweiten Gin-Tonic: ob ein satter Kommunist ein weniger gefährlicher Kommunist sei oder nicht . . . Man einigte sich, nach dem vierten Gin-Tonic, darin übereinzustimmen, daß man nicht übereinstimme. Ich fuhr mit einem französischen Kollegen im alten klapprigen Fahrstuhl des Press-Building abwärts, da sagte er: »Und wie steht’s mit einem satten Deutschen?«

      Zum erstenmal in unserer Geschichte, das würde wohl auch Golo Mann konzidieren, sind wir satt. Und zwar – wenn ich den Reiseeindrücken von Dönhoff/Leonhardt/Sommer folgen darf – sind heute alle satt, auch die 17 Millionen drüben.

      Das ist nicht nur ein Wunder auf dem Hintergrund »1945«. Wie war es um die Jahrhundertwende? Wann machte die naturalistische Armut von »Weber« und »Biberpelz« Furore – es geschah in Deutschland, und der Hunger erklärt schon immer mehr, als gutgefütterte Politiker wahrhaben möchten.

      Arbeitslosigkeit und Versailles, das waren gewiß nicht die einzigen Ursachen für Hitler. Aber wäre Hitler möglich gewesen bei Vollbeschäftigung und freundnachbarlichem Zusammenleben in Europa? Nein. Ergo: satte Deutsche sind weniger gefährliche Deutsche? Ja. Mein französischer Kollege in Washington – für ihn war die Verpersönlichung des Übels nicht nur »der Kommunist«, sondern immer noch auch »der Deutsche«.

      Ich habe die Ohren gespitzt in den ersten Monaten nach der Heimkehr. Aber ich vernahm sie nicht mehr, diese summarisch-totalitäre Dämonisierung: »der Russe«, »der Amerikaner«, »der Franzose« – »der Jude«. Alle Deutschen unter 30 sind heute bereits nach Hitlers Machtergreifung geboren, zählt man diejenigen dazu, die 1933 nicht älter als 15 Jahre waren, dann sind 60% all meiner gegenwärtig lebenden Landsleute allein durch ihr Geburtsdatum nicht mehr verantwortlich für – Auschwitz.

      Ich mußte mir einen Ruck geben. Aber nachdem ich den Frankfurter Generalstaatsanwalt Bauer gesprochen hatte, eine eindrucksvolle dynamische Natur – wollte ich in den Prozeß. Der Saal ist oft beschrieben worden, die drei Reihen der Angeklagten links, die Duelle zwischen Staatsanwälten rechts und Verteidigung gegenüber, die Richter in der Mitte. Da saß also Boger, da saß Kaduk. Offensichtlich doch leibhaftige Menschen. Der Gestank aus den Schinderhütten der finstersten Jahre deutscher Geschichte hing in der Luft, beschworen von der tonlosen, manchmal erstickten Stimme eines Zeugen. Abgründe tun sich täglich neu auf, in diesem nüchternen Saal, Hölleneinsichten, unvorstellbar, unvorstellbar.

      Der Teufel steckt im Detail? Ja – wie sie folterten, mordeten, selektierten, abspritzten, zusammenschlugen, vergasten – wie, im einzelnen, das hatte ich trotz der Bibliotheken von KZ-Literatur noch nicht so gewußt. Unvorstellbar, Stoff für Träume, schrecklich nahe, drückende, würgende Albträume. Das Entsetzliche, von dem man besser den Blick abwendet, um sich nicht zu verbrennen, gezeichnet zu werden von Wahrheiten, unerträglich peinigend – übermenschlich furchtbar.

      Aber Kaduk und Boger: Bürger der Bundesrepublik, dieses manierlichen kleinen Staates in Mitteleuropa, wo die fleißigen, hurtigen, nett gewordenen Deutschen leben, alleweil ein wenig lustig, alleweil ein wenig durstig. Gewiß, 60% nicht betroffen – aber doch der Stamm, aus dem das sproß: Auschwitz, der industrialisierte Mord, die Folter als Routine, Menschenbehandlung nach dem Prinzip der Schädlingsbekämpfung in der Land- und Forstwirtschaft. Und da saßen sie, grinsten, lauschten, dösten, sprachen unser Deutsch, hatten das Unvorstellbare getan, mit den Händen, die da so ruhig auf ihren Knien lagen, Menschenhände, waren Teufel gewesen und dann wieder Nachbarn, Ehemänner, Väter, nichts Besonderes: die Banalität des Bösen.

      Alles scheint verflogen wie ein Spuk, ein Nachtmahr. Nur noch die schnellen weichen Wagen, Termine, zweimal Urlaub im Jahr, »Lady Chatterley« und »Das Prinzip Hoffnung« in den Buchhandelsfenstern, schnelle Liebe, wieder Termine, die Schweizeruhr, 18karätig, automatisch mit Datumfenster zum Geburtstag, schnelle Drinks, abermals Termine, gepflegte Küche, die Fernsehtagesschau, ein Gläschen Sekt mit Freunden zur Nacht, acht Stunden Schlaf (traumlos?), Kniebeugen, Fitsein, wieder kamen zwei über die Mauer, warum eigentlich kein Privatflugzeug, das Wort zum Sonntag, Amen.

      Satte Menschen sind weniger gefährliche Menschen. Aber der Mensch, bekanntlich, lebt nicht vom Brot allein, und das Leben ist der Güter höchstes nicht. Also was tun satte Deutsche? Füllt die Interessengemeinschaft zur Erzeugung von Wohlstand sie aus? Nachbar Kenneth nannte noch ein zweites »Gut«: Antikommunismus. Ist der wirklich, wie Norman Birnbaum schreibt, »im Augenblick der einzige politische Glaubensartikel« der Deutschen? Ich kann das nicht bestätigen. Wohl provoziert und weckt Ulbricht mit jeder Äußerung immer wieder, was sich da aufgestaut hat an Haß und Furcht und auch Schuldgefühlen gegenüber den Russen. Aber wo wäre, als Resultat, eine Kreuzzugsstimmung, wo wäre Revanchismus?

      Selbst unter dem konservativen Feigenblatt der CSU, das Ludwig Erhard jetzt so überraschend lüftete, kann ich nichts dergleichen entdecken. Auch der Ritter Franz Josef ist doch viel zu dick und wohlstandslustig, als daß er sich ernsthaft aufs schlecht gefütterte, lahmende, längst nicht mehr beschlagene nationale Roß schwänge, um gen Ostland zu reiten. Nicht einmal er streckt den Finger nach dem atomaren Drücker aus, um seinen zweifellos militanten Antikommunismus »vorwärts zu verteidigen«.

      Sich schützen, ja, das wollen alle – die einen lieber mit Hilfe der Amerikaner, die anderen lieber mit Hilfe europäischer oder sogar – aber nur als letzten Ausweg – eigener Atomwaffen. Stalin, Stalinismus – in Deutschland ist der Schrecken davor natürlich lebendiger als in Frankreich oder England und fast so lebendig wie in Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei. Man traut dem System nicht, hält einen Rückschlag für