Konstanze Marx
Weihnachtslinguistik
Festliche Texte über Sprache
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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ISBN 978-3-8233-8452-6 (Print)
ISBN 978-3-8233-0266-7 (ePub)
Vorfreude, schönste Freude
Daher zunächst ein Vorwort
Konstanze Marx
Es ist Hochsommer, das Thermometer zeigt 36 Grad und es wirkt noch heißer. Hier im Haus sind die Fenster hoch, die Türen weit, aus meinem Lautsprecher tönen weihnachtliche Klänge. Schon spüre ich die unausgesprochenen Fragezeichen in den Gesichtern meiner Nachbarn. Hoffentlich schieben sie mein wunderliches Verhalten wohlwollend auf die Hitze, argwöhnen allenfalls eine exaltierte Form der Kältetherapie. Ja, zweifelt nur an mir, denke ich, aber horcht auch, wie lieblich es schallt und wagt vielleicht auch einmal einen Blick in die Sozialen Medien, denn der alljährliche Entrüstungswettstreit über die frühzeitig mit Lebkuchen gefüllten Supermarktregale hat längst begonnen.
Das, aber vor allem die wunderbare Aufgabe, in diesem Buch Texte zusammenzuführen, die sich aus einer sprachwissenschaftlichen Perspektive mit dem Weihnachtsfest auseinandersetzen, machen mir den gedanklichen Sprung in den Advent und damit zu Ihrem Rezeptionszeitpunkt leicht. Für Sie wiederum sind es ja gerade nicht die zitierten Weihnachtslieder, die unpassend erscheinen, sondern eher die meteorologische Momentaufnahme aus einem heißen Sommer.
Also, Weihnachten steht vor der Tür und allein dieser Phraseologismus ist eine genauere linguistische Inspektion wert, nimmt doch hier eine Festivität, ein Feiertag eine Agensrolle ein, die gemeinhin akzeptiert ist, was die hochfrequente Verwendung in der Alltagssprache, in Schlager- und Kinderbuchtiteln und auch Witzen offenbart; eine Agensrolle aber, die aufgrund ihrer diffusen ontologischen Ereignisqualität semantisch gar nicht so leicht mit einem statischen Verb vereinbar und mit Blick auf dessen realweltliche Dimension unmöglich auf einer Fußmatte platzierbar scheint. Die Bedeutung muss also mental übertragen, das Vor-der-Tür-Stehen metaphorisch verstanden werden, etwas, das nicht trivial ist, schon gar nicht für diejenigen, die Sprache erst erwerben. Und rein pragmatisch? Bleiben wir zunächst bei der eben erwähnten Adressat*innengruppe. Welche Schlüsse ziehen wohl Kinder aus dieser Äußerung? Vermutlich das lang ersehnte Ende einer utopischen Wartezeit, vielleicht imaginieren sie eine konkrete Person, deren Klopfen an der Tür die zum Greifen nahe Bescherung verlautbart? An Kinder gerichtet scheint der Handlungswert dieses Sprechakts mit der verheißungsvollen Ankündigung eines kurzfristig eintretenden Ereignisses, mit einem Versprechen gar, dass das mehr oder weniger geduldige Ausharren nun ein Ende habe, beschrieben. Was aber kann diese Äußerung bei Erwachsenen bewirken? Weihnachten steht vor der Tür? Eine schnelle Recherche auf Twitter im August (!) zeigt Tendenzen dafür auf, dass der Äußerungszeitpunkt offensichtlich merklich vorverlagert wird, dabei Warnendes, zur Eile Mahnendes mitschwingt. Es baut sich Druck auf ganz im Gegensatz zu dem, was Weihnachten rein lexikalisch transportiert (Fest anlässlich der Geburt Christi) und womit es durchaus auch assoziiert wird: Freude. Freude vs. Stress und Not, alle Punkte der stetig wachsenden To-Do-Liste rechtzeitig vor den perfekt zu inszenierenden Festtagen abhaken zu können und jedes prototypische Element der Vorweihnachtszeit gut zu terminieren: Adventskalender installieren, Wohnung festlich dekorieren, ganze Straßen illuminieren, Weihnachtskarten illustrieren, Wunschzettel formulieren und gründlich studieren, in Geschenke investieren und die Päckchen hübsch verschnüren, Plätzchen backen, schokolieren und natürlich noch verzieren, zwischendrin auch jubilieren, mit entfernten Verwandten telefonieren, Krippenspieltext memorieren, Festtagsmenüplanung zelebrieren und die Ingredienzien akquirieren, Weihnachtsfeier organisieren und darüber informieren, Weihnachtstanne selegieren und das Aufstellen delegieren. Die Liste ist lang, aber im christlichen Kulturkreis erstaunlich gleichartig konstituiert. All das schwingt mit mit dem Satz Weihnachten steht vor der Tür. Soll es ruhig noch ein wenig da draußen verweilen vor der Tür, mag sich manche*r ob des oben genannten Pensums denken, soll es doch noch ein wenig warten, dieses Weihnachten, gerade das vermag vielleicht Ruhe zu verschaffen?
Das gesamte Treiben ist begleitet von Sprache – kleine Texte hinter den Kalendertürchen, feste Floskeln, individuelle Wünsche in der Post oder über Messenger verschickt, Liedverse, verbalisierte Sinneseindrücke in Koch- und Backrezepten, Verhandlungen über Baum, Backwerk und Braten, die Weihnachtsgeschichte und Weihnachtsgeschichten, Liebeserklärungen in Weihnachtsfilmen, sprachlose Enttäuschung am Gabentisch oder Streit im trauten Kreis der Familie – und bietet unzählige Anknüpfungspunkte für sprachwissenschaftliche Zugänge: Wunschzettel als Textsorte etwa, Praktiken des Wünschens, feste Phrasen, Semantik der Sinne, Erzählmuster, grammatische Phänomene in tradierten Liedtexten, interaktive Bedeutungskonstruktion in hochemotionalen Situationen, Konflikt- und Schlichtungsgespräche, ja sogar Weihnachtsdiskurse, etymologische Fragestellungen, Sozio- und Dialekte, Framefiller – auch Nina Janich greift diese Anschlussmöglichkeiten in einem Gedicht auf, das den Auftakt der festlichen Texte über Sprache bildet.
Klassischerweise ist es auch ein Gedicht, das die Bescherung einläutet, und so folgen die Texte in diesem Buch dem Protokoll des Heiligen Abends, an dem Gedichte aufgesagt, Wünsche ausgesprochen (Kapitel „Von Wünschen und vom Wünschen“), Geschenke übergeben und ausgepackt werden, was Freude aber auch Enttäuschung nach sich ziehen kann (Kapitel „Wortwörtliche Bescherung“), Lieder gesungen (Kapitel „Singen und Klingen in stiller Nacht“), Geschichten und Witze erzählt (Kapitel „Musterhafter Erzählzauber“) und am Ende der Fernseher eingeschaltet oder das Smartphone aus der Hosentasche gezogen (Kapitel „Flimmern im Lichterglanz“), vielleicht schon ein Jahresresümee gezogen wird.
So verfestigt die oben skizzierte Schablone ist, die sich durchaus auf die gesamte Adventszeit ausdehnen lässt, so notwendig ist es auch, damit verbundene Routinen zu hinterfragen, wofür Ingo H. Warnke sensibilisiert. Die Angemessenheit von Weihnachtswünschen kann nicht einfach voraussetzen, wer soziale Diversität anerkennt. Und so wird im Beitrag für ein Innehalten plädiert, ein Nachfragen vielleicht und sei es nur beiläufig – eines, das sich ausrichtet am Gegenüber und sich nicht in kulturell eindimensionalen Formeln verliert. Auf diese Weise entsteht ein Resonanzraum, in dem auch die spezifische Adressierung des vorliegenden Buches bewusstwerden und die Lektüre aller folgenden Texte begleiten darf. Die Konstruktion von Bedeutung ist komplex und eben nicht nur von zugrundeliegenden Textinhalten geleitet. Besonders deutlich wird das natürlich, wenn in der Interaktion gänzlich auf Versprachlichung verzichtet wird, wie Michael Beißwenger und Steffen Pappert in ihrem weihnachtlichen auf Bildzeichen reduzierten WhatsApp-Dialog sehr anschaulich vorführen. Zum großen Amüsement werden die jeweiligen Interpretationen der am Chat Partizipierenden zum Mitlesen zur Schau gestellt – mit dem wunderbaren Effekt, dass Abweichungen die Missverständnispotenziale von Emojis und deren akkumulativer (aber auch exklusiver) Verwendung transparent machen. Am Ende erschließt sich jeder der beiden die guten Weihnachtswünsche des anderen, ein Thema, das auch Matthias Meiler und Alexandros Apostolidis aufgreifen. Sie nehmen die interkulturellen Unterschiede bei Praktiken des Wünschens im deutsch-griechischen Vergleich in den Blick. Silvia Bonacchi kontrastiert Weihnachtswünsche deutsch-italienisch. Beide Texte zeigen auf, dass Wünsche einerseits der Gestaltung, ja Festigung von sozialen Beziehungen dienen, dass solche Rituale aber gleichzeitig auch den Blick freigeben auf Verbindungen innerhalb kultureller