führt uns zu den Anderen, sondern kreative und sympathiegetragene Identifikationen, die von uns selbst und unseren Gewissheiten hinwegführen. Insofern hilft hier Sprachkritik nicht weiter, sondern die Frage, wie das, was wir sagen, für Andere klingt. Ich spreche auch von Cantabilität und verstehe darunter den Klang unserer Rede „als Folge einer intendierten Strukturierung von Material (…), mit der Absicht, eine an den Hörer bzw. Leser gewandte Angemessenheit und verändernde Kraft der Sprache zu suchen, die sich atomistischer Rezeption entzieht“ (Warnke 2020: 147–48).
Cantabilität ist insofern das Potential eines Textes, ein Gegenüber jenseits atomistischer Keywordsuche zu erreichen und zu ändern, eine Wirkung zu entfalten, die über Informationsvermittlung hinausreicht. Cantabilität ermöglicht damit die Grenzerfahrung einer „Ent-Subjektivierung“ im Sinne Michel Foucaults (…); eines von uns selbst fortgehenden, reichen Klangs (…). (Warnke 2020: 148)
Unser Wunsch an die Anderen beim Shoppen vor Weihnachten ist eine Gelegenheit, es auch einmal klingen zu lassen, unsere vermeintliche Identität in Konvivialität hinter uns zu lassen, uns kreativ und sympathisch mit Anderen, etwas oder einer Situation zu identifizieren und Cantabilität zu üben.
Linguistisch gewendet wäre statt eines routinierten Wunsches der einfachste Weg dorthin, auch einmal eine für den Augenblick passende Frage zu stellen, und sei sie noch so beiläufig. Feste sind ein guter Ort und eine gute Zeit, dies auszuprobieren, den einen oder anderen intuitiv geeigneten Ergänzungsfragesatz zu formulieren, wo es einem auf der Zunge liegen könnte, ‚Frohe Weihnachten‘ zu sagen. Wohlgemerkt, es geht ums Shoppen, im trauten weihnachtsgeübten Familienkreis am Heiligen Abend mag das alles noch ganz anders sein, wenngleich auch hier die eine oder andere Frage die Konvivialität fördern kann, wie immer diese dann auch aussieht. So bleiben wir, um Bergson ein letztes Mal zu erwähnen, im Lebensschwung. Die aufgeklärte Unsicherheit im Verlust routinierten Sprachverhaltens ist am besten transformiert in konviviales Handeln, wenn wir mehr fragen. In einer Linguistik des Zuhörens (Warnke 2020b) könnte man sich dafür stark interessieren. Wenn Weihnachten wieder einmal näher rückt, wird es Zeit, Fragen zu stellen; das Anerkennen unserer Unterschiede gehört dann dazu.
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Literatur
Agha, Asif. 2003. The Social Life of Cultural Value. Language & Communication, 23(3–4), 231–273.
Bergson, Henri. 1907/2013. Schöpferische Evolution. Neu aus dem Französischen übersetzt von Margarethe Drewsen. Mit einer Einleitung von Rémi Brague. Hamburg: Meiner.
Coulmas, Florian. 1981. Routine im Gespräch. Zur pragmatischen Fundierung der Idiomatik. Frankfurt/M.: Athenäum.
Spitzmüller, Jürgen. 2013. Metapragmatik, Indexikalität, soziale Registrierung. Zeitschrift Für Diskursforschung – Journal Für Discourse Studies (3), 263–287.
Spitzmüller, Jürgen/Flubacher, Mi-Cha/Bendl, Christian. 2017. Soziale Positionierung: Praxis und Praktik. Wiener Linguistische Gazette 81, 1–18.
Warnke, Ingo H. 2020a. Über Cantabilität. The Mouth. Special Issue 4. Worte, Stimmen, Räume: Eine Einladung, 142–168.
Warnke, Ingo H. 2020b. Zuhören und der Andere. Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 16 (2/3), 110–117.
2 Nicht nur zur Weihnachtszeit: Die Bedeutung zahlt der Empfänger
Michael Beißwenger & Steffen Pappert
Bedeutung ist, was man draus macht. Das gilt für sprachliche Äußerungen gleichermaßen wie für Äußerungen, die mittels Bildzeichen realisiert werden. Beim Handeln mit Sprache wird das, was aus einer Äußerung „herausgelesen“ werden kann, durch die wechselseitige Unterstellung von Kooperation und in diesem Zusammenhang einer Befolgung syntaktischer Konventionen für die Komposition von Satz- und Ausdrucksbedeutungen gesteuert. Für die Entscheidung, welchen Handlungswert und welchen Beitrag zur Weiterentwicklung des lau-fenden Kommunikationsgeschehens mit dem Gegenüber wir einer Äußerung zuschreiben, beziehen wir zudem Wissen zur Situation und zur Partnerin bzw. zum Partner in unser Deuten ein.
Im Falle des Handelns mit Bildzeichen, wie es sich gegenwärtig in Praktiken der Emoji-Verwendung in Kommunikationsdiensten und Plattformen wie WhatsApp-Chats, Facebook, Twitter oder Instagram beobachten lässt, können wir uns nicht auf syntaktische Konventionen stützen. Bildzeichen tragen auch keine stabile, Kontexte übergreifende Bedeutung, wie wir das für Wörter als Einheiten des Wortschatzes gewohnt sind. Die Bedeutung einzelner Zeichenformen wird damit in hohem Maße kontextabhängig und situationsgebunden. Ausschlaggebend für die Interpretation von Äußerungen, die ausschließlich mit Bildzeichen operieren, sind ganz wesentlich das mit der Partnerin bzw. dem Partner geteilte Wissen zum Anlass und zum Thema der Interaktion sowie die Verhaltenserwartungen, die wir unserem Gegenüber abgeleitet aus vorgängigen Kommunikationserfahrungen und geteilter Biographie zuschreiben. Die Bedeutung „zahlt“ somit – eine Metapher aus einem Songtext Marcus Wiebuschs aufgreifend – in noch stärkerer Weise die Empfängerin bzw. der Empfänger der Nachricht als das im Falle sprachlicher Äußerungen der Fall ist:1 Was eine Dialogäußerung, die ausschließlich aus Emojis zusammengesetzt ist, bedeutet, entscheidet die Adressatin bzw. der Adressat, indem sie/er die vielfältigen Assoziationen, die sich an die enthaltenen Bildzeichen knüpfen lassen, mit Kontextwissen und Annahmen über die Motivationslage der Partnerin oder des Partners „verrechnet“. Dabei kann man sich gehörig missverstehen und aneinander vorbeireden. Es verwundert daher nicht, dass sich in Chats, die z. B. über Anwendungen wie WhatsApp geführt werden, längere Passagen, in denen ohne Sprache und nur über Emojis kommuniziert wird, typischerweise nur dann finden, wenn dies explizit spielerisch motiviert ist.
Der nachfolgende Dialog veranschaulicht das. Der Dialog wurde von den beiden Verfassern per WhatsApp „erchattet“. Verabredet war der Versuch, sich ausschließlich mittels Emojis sinnvoll verständigen zu wollen. Hypothesen über das vom Gegenüber Mitgeteilte und Intendierte sowie Intentionen hinsichtlich der eigenen Dialogbeiträge wurden parallel zum Verlauf des Chats von den Beteiligten unabhängig voneinander notiert. Die hier wiedergegebene Repräsentation des Interaktionsereignisses wurde nachträglich aus dem gespeicherten Chatverlauf sowie den schriftlichen Notizen der beiden Beteiligten rekonstruiert. Für den linguistischen Hintergrund, vor dem dieser Dialog entstanden ist (und in dem es u.a. darum geht, warum man nur mit Emojis nicht in gleicher Weise kommunizieren kann wie mit Sprache), verweisen wir auf Beißwenger/Pappert (2020a, 2020b). Man kann den Dialog aber auch ganz vortheoretisch auf sich wirken lassen – eben getreu dem Motto: „Die Bedeutung zahlt der Empfänger.“2
Fühlen Sie sich eingeladen, durch vergleichbare, eigene Experimente spielerisch auszuloten, was Emojis für die schriftliche, interaktional intendierte Kommunikation leisten und wo ihre Grenzen liegen. Für Sprachskeptikerinnen und -skeptiker, die in Emojis eine Bedrohung abendländischer Schriftkultur, womöglich gar der Sprache als Kommunikationsträgerin insgesamt, vermuten, mag das sogar eine wohltuende Entspannungsübung sein. Nicht zuletzt eignet sich der Versuch eines Dialogisierens ausschließlich mit Emojis als kreativer Einstieg in eine Reflexion über Spezifika internetbasierter Kommunikation im Deutschunterricht. Emojis können bestimmte Formen schriftlicher Kommunikation bereichern – aber nicht ersetzen. Stattdessen tragen sie dazu bei, Äußerungsintentionen in schriftlicher Kommunikation erkennbar und die Beziehung zum Gegenüber sichtbar zu machen (vgl. Beißwenger/Pappert 2019, 2020c). Achten Sie bitte darauf, wenn Sie Ihren Lieben in diesem Jahr Weihnachtswünsche per WhatsApp, Twitter, Facebook, Insta- oder Telegram übermitteln!
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