Felix Scharlau

Du bist es vielleicht


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sah er sich um. Mittlerweile war er so lange an der Schule, dass er mit fast jeder Parkbucht eine Geschichte verband.

      Auf 9 hatte er bei strömendem Regen unter Mithilfe eines Kollegen vor einigen Monaten den Ersatzreifen aufziehen müssen. Nagelstreich.

      Auf 2, direkt hinter der Einfahrt, hatte Frau Sperber vor zwei Jahren ein Weinkrampf ereilt. Ein Neuntklässler lag mit verschränkten Armen hinter ihrem Kleinwagen und verhinderte ihre Heimfahrt PR-wirksam. Anlass: eine vermeintlich ungerechtfertigte Benotung.

      Und auf 14, direkt gegenüber, hatte vor ziemlich genau einem Jahr der graue Wagen von Gymnasialprofessor Gerber gestanden.

      Gerber war an jenem Dienstag nicht pünktlich zur ersten Stunde erschienen. Als Rektor Steiner der 11a eröffnete, Gerber sei aus unerfindlichen Gründen noch nicht im Haus, sie sollten sich in Stillbeschäftigung üben, erfuhr er von einem Schüler, Gerbers alter Passat stünde sehr wohl unten auf dem Lehrerparkplatz. Er habe den »Prof« eben beim Vorbeiradeln sogar hinter dem Lenkrad sitzen sehen. Möglicherweise beim Telefonieren.

      Als eine neugierige Gruppe wenige Minuten später den Parkplatz erreichte, bot sich das Bild, vor dem Rektor Steiner sich immer gefürchtet hatte. Natürlich hing Gerber nicht tot hinterm Steuer. Das hier war Heiligenstedt zur Faschingszeit, nicht Detroit bei Nacht. Doch ein toter Gerber hätte vieles erleichtert.

      Gymnasialprofessor Gerber saß auf dem Fahrersitz seines Jahreswagens und schlief. In der rechten Hand hielt er eine leere Flasche Wodka. Einen Teil davon hatte er sich über das Hemd geleert. Den Rest, da musste man nicht lange rätseln, gesoffen. Im Schrittbereich, Steiner konnte seinen Blick kaum abwenden, prangte ein frischer Urinfleck auf der braunen Cordhose.

      Kein untalentierter Regisseur hätte das Stück über einen gestrauchelten Beamten-Alkoholiker lächerlicher inszeniert, als Gerber es real aufführte.

      Das hier, da war sich Steiner sicher, war das Ende der alten Zeitrechnung. Der Sargnagel für die moralische Integrität des Lehrkörpers. Jetzt galt es, pädagogisch wieder unten anzufangen. Erster Stock.

      Und es war natürlich auch das Ende von Gymnasialprofessor Gerber. Er hatte sich endgültig zwischen überhöhten Ansprüchen an sich selbst und mangelndem Selbstbewusstsein zerrieben. Auf dem Fahrersitz lagen nur noch Reste von ihm.

      Timo Tripke war die Szene vielfach geschildert worden. Natürlich jedes Mal anders. Trotzdem hatte Tripke den letzten Eindruck, den Gerber am Riesenhuber hinterlassen hatte, so klar vor Augen, als sei er selbst dabei gewesen. Dieser verdammte Parkplatz glich einem Mahnmal.

      Auf dem Weg zum Hauptgebäude überlegte er, ob er vielleicht den ganzen Tag Sekunden zählen sollte. Solange, bis er wieder ins Auto steigen durfte. Kurze Zeit schien ihm der Gedanke genial.

      »245, 246 … ›Hi, Sherlock!‹… 2112, 2113 … ›War denn überhaupt irgendwas sozialistisch am Nationalsozialismus?‹ … 5121, 5122 … ›Das müsste mal jemand für den Elternabend nächsten Monat auf die Agenda setzen‹ … 13232, 13233 … ›Ach, Hühnchen ist alle?‹ … 17293, 17294 … ›Hausaufgabe bis Dienstag‹ … 22937, 22938 … ›Ihnen auch, tschüss!‹«

      Perfekt, das würde gehen.

      Aber nicht jetzt.

      Morgen. Morgen würde er es mal versuchen. Heute brachte er die Energie dafür noch nicht auf. Es war doch erst Montag.

      

      »Hi, Sherlock!«

      Sherlock saß in ihrem verglasten, von innen mit zahlreichen Plakaten behängten Hausmeister-Kabuff, als Timo Tripke den Riesenhuber betrat. Zu sehen war nur, dass sie in einen Laptop tippte. Sherlock trug wieder ihren dunkelblauen Overall mit den großen Taschen, aus dem sie ihr Werkzeug zog wie der Zauberer seine Kaninchen.

      »Der Herr Tripke!«, krächzte sie, ohne aufzublicken. Es war die belegte Stimme einer Frau, die seit langem nicht mehr geredet hatte. Tripke war stehengeblieben und beugte sich zum kleinen Bedienspalt hinunter.

      »Danke der Nachfrage, Sherlock! Mein Wochenende war, es war, na, ganz okay. Und Ihres?«

      Hypnotisch klackerten die Tasten weiter. Zeichenreihe um Zeichenreihe schob sich nach oben, über das Bildschirmende hinaus und ins Nichts. Dann war Sherlock fertig. Oder zumindest genervt genug, um eine Pause einzulegen. Sie klappte den Rechner zu und drehte sich gleichgültig zu Tripke um. Dabei nahm sie auch endlich die obligatorischen Ohrstöpsel ab, die sie trug, um bei ihrer Arbeit nicht angesprochen zu werden. Tripke wusste, dass Sherlock sich den Stecker meist nur lose in die Hosentasche schob, ohne die Kopfhörer irgendwo anzuklinken. So bekam sie ihre Ruhe.

      »Wochenende? Eben dachte ich noch, wir hätten Sonntag.«

      Timo Tripke lachte. Sherlock nicht.

      »Was machen Sie da eigentlich die ganze Zeit am Rechner?«

      »Es ist keine Lüge, wenn man die Wahrheit für sich behält.«

      »Wittgenstein?«

      »Mr. Spock.«

      Sherlock öffnete das Notebook wieder und machte weiter sein Ding. Was sein, vielmehr ihr Ding exakt war, wusste niemand so genau. Vordergründig war Heike Stiefmutter, Rufname Sherlock, Hausmeisterin am Riesenhuber. Ihre Alltagsmission war klar. In der Turnhalle wischte Sherlock Blut oder Kotze weg. Sie wechselte kaputte Neonröhren. Erneuerte zerstörte Türen. Aus ihrem Kabuff, der Baker Street, verkaufte sie, genau: Backwaren. Und sie entfernte Schadsoftware von all den Lehrer-PCs, auf denen wieder jemand die falschen Pornoseiten besucht hatte, nachdem die Kollegen gegangen waren.

      Was sie sonst in ihrer Kammer und dort vornehmlich am Computer tat, blieb rätselhaft. Sherlock schien immer hier zu sein. Doch weder Schüler noch Lehrer noch Putzhilfen noch Köche wussten, was in ihr vorging.

      Heike Stiefmutters Geist war eine emotionslose, sauber getaktete Maschine. Hinter ihrer menschenfeindlichen Art hatte sich ein kleines Genie verbarrikadiert. Keines, dem man sich im Alltag nähern konnte. Smalltalk, Etikette, Grußformeln prallten am Schalter der Baker Street ab.

      Dass Sherlock am Riesenhuber, nur am Riesenhuber, arbeitete, unterstrich, wie konsequent sie den üblichen sozialen Umgangsformen Stöcke in die Speichen warf. Jemand wie sie machte keine Karriere. Zumindest nicht offline.

      Als Timo Tripke am Riesenhuber angefangen hatte, musste jedoch etwas unplanmäßig verlaufen sein in Sherlocks Regelwerk, das vorgab, wie jeder an ihr zu zerschellen hatte. Tripkes Verhältnis zu ihr war von Anfang an besser gewesen als das aller anderen. Ihn hatte sie gegrüßt, wenn auch nicht immer. Mit ihm redete sie, wenn auch nur manchmal.

      Als ihm seine exklusive Verbindung zu Sherlock bewusst geworden war, hatte er sich geschmeichelt gefühlt. So wie jeder, der glaubte, Menschen für sich einnehmen zu können.

      Die Wahrheit über ihr Verhältnis war jedoch eine andere. Irgendwann hatte es Timo Tripke gedämmert, dass sie vermutlich schon lange vor ihm begriffen hatte, wie ähnlich sie sich waren.

      Der kleine Timo war einmal ein hübsches Kind gewesen. Noch immer hatte er professionelle Fotografien aus der Zeit, die das bestätigten. Doch irgendwann hatte er begonnen, sich zu verformen. Er musste ungefähr dreizehn Jahre alt gewesen sein, als er es das erste Mal bemerkte. Während Timo nachts schlief, schien jemand sein Gesicht neu zu modellieren. Seine Physiognomie verzerrte sich. Jeder morgendliche Blick in den Spiegel zeigte, dass sich im Vergleich zum Vorabend eine Kleinigkeit zum Schlechteren verändert hatte.

      Als Kind hatte Timos Gesicht rundlich und völlig normal ausgehen. Als junger Erwachsener glich sein Kopf von vorne gesehen einer Acht. Sein Schädel war über die Jahre länger und länger geworden, die Backen dabei breit geblieben. An den Schläfen dellte sich sein Kopf nun nach innen, was den Blick seiner hellblauen Augen stechender werden ließ, als er ohnehin schon war. Die Stirn war lang wie eine Litfaßsäule. Das ohnehin dünne Haar zog sich weiter zurück. Schon mit 21 wirkte er wie ein junggebliebener 35-Jähriger,