Pubertät. Niemals ging sie so ganz. Und wenn doch, dachte Tripke, dann war man nicht richtig dabei gewesen.
Er ahnte, Sherlock erlebte es für sich wohl ähnlich. Kniff man die Augen zusammen, hatte sie ein reizendes Gesicht. Niedliche, etwas zu große Ohren, eine unzeitgemäße Pony-Kurzhaarfrisur und einen rosigen Teint. Doch darauf konnten die wenigsten achten. Akne-Narben zogen sich, von den Nasenflügeln angefangen, über die Wangen bis zum Hals. Die Hautkrankheit hatte dem hübschen Mädchen die einsame Frau weisgesagt. Ihr Blick verriet, dass ihr Selbstbewusstsein unter der Erfahrung unwiederbringlich gelitten hatte.
Sherlock und Tripke waren Versehrte, die die Pubertät überlebt hatten. Deren Körper die Vergangenheit aber so plastisch nacherzählten wie mittelalterliche Wandteppiche.
Stiefmutters Spitzname Sherlock war vor diesem Hintergrund weniger ehrfurchtsvoll gemeint, als es erscheinen mochte. Er unterstrich die offensichtliche Entsexualisierung, statt das Genialische an ihr zu feiern.
Sherlock und Tripke waren zwei von derselben Sorte. Sie ahnten es instinktiv. Mögliche Allianzen schienen jedoch sinnlos. Das aber würde sich bald ändern.
Tripke starrte in die toten Augen der 10a. Hätte er heute Klassenarbeiten verteilt, wäre bei den 23 Schülern schnell wieder Puls zu fühlen gewesen. So würde es eine Weile dauern, bis alle, inklusive ihm, in der ersten Stunde dieser neuen Arbeitswoche angekommen waren.
Wie immer stand er etwas zu lang untätig hinter seinem Pult. Blickte in die vom Wochenende gezeichneten Gesichter und sagte nichts. Was manchem Schüler wie ein akuter Depressionsschub zu Beginn jeder Stunde erscheinen mochte, war in Wahrheit einer von Tripkes ganz wenigen Tricks. Vielleicht sogar sein bester. Wie alle Lehrer fürchtete auch er, zu viel Angreifbarkeit auszustrahlen. Inszenierungen, die die Schüler über seine wahre – kaum vorhandene – Stärke im Unklaren ließen, waren überlebenswichtig.
Er hatte es hier mit jungen Leuten zu tun. Und junge Leute waren zu allem fähig. Die NS-Zeit und Michel aus Lönneberga hatten es bewiesen. Die Lehrer-Schüler-Hierarchie schien nur stabil. Einmal nicht aufgepasst und Tripke hatte selbst streikende Schüler unter dem Auto liegen oder griff zur Flasche.
Während er also zu Beginn jeder Stunde schwieg, versuchte Timo Tripke zu lesen, wer auf seinen Bluff hereinfiel. Es war wichtig zu wissen, wo er stand. Erst die Instrumente checken, vorher konnte niemand ernsthaft wagen abzuheben.
An Montagen hatte es Trikpes Strategie besonders schwer. Da waren viele Schüler zu ausgeruht, andere noch auf Drogen. Er wartete deshalb heute zur Sicherheit noch ein paar Sekunden länger, ehe er sprach.
Endlich, sein Mund öffnete sich und formte die magischen Worte. Die erste Lüge des Tages.
»Guten Morgen.«
»Morgen, Herr Tripke«, kam es asynchron aus wenigen, viel zu wenigen Richtungen.
»Heute fangen wir mit einem neuen Thema an. Weimarer Republik, 1918 bis 1933. Weiß wer, warum die so heißt? Niemand? Okay, reden wir gleich drüber. Hören wir erst mal rein, würde ich sagen. Die ersten Jahre der Weimarer Republik.«
Timo Tripke steckte das Netzkabel des tragbaren Kassettenrekorders in die Steckdose am Lehrertisch. Die Klasse musterte ihn dabei mit derselben Abschätzigkeit und Restverwunderung wie immer, wenn er das tat. Heimlich genoss er die Blicke, während er in der Aktentasche nach der richtigen Kassette kramte.
»Von der Dolchstoßlegende zur Krise der Weimarer Republik« war ein frühes Werk von ihm. Es musste eines der Bänder sein, das er schon während seines Studiums vor 15 Jahren als Lernhilfe besprochen hatte. Seine Stimme darauf klang beim Vortrag noch unsicher und leise. Doch sie erfüllte bereits hier ihren Zweck.
Er wusste nicht genau, warum er mit seinem Ansatz, weite Teile des Unterrichts nicht mehr selbst vorzutragen, sondern von Bändern abzuspielen, immer noch durchkam. Ein bisschen skandalös hatte er sein Verhalten selbst lange Zeit gefunden. Doch mittlerweile glaubte er fest an seine Technik.
Natürlich wurde man mit einem Kassettenrekorder nicht zum beliebtesten Lehrer der Generation Zweithandy. Tripkes Kassetten waren das Allerletzte. Die meisten Schüler wussten nicht mal, wie man sie einlegte. Neulich hatte ein Schüler gefragt, wie viel Terrabyte Daten darauf Platz fänden.
Aber die Bänder, auf denen er 20-minütige Einführungen las, die er nach dem Abspielen mit den Kindern diskutierte, wurden offenbar besser gemerkt als das, was von dozierenden Lehrern hängenblieb, die jedes Mal selbst daherplapperten.
Seine Technik besaß auch für ihn selbst nur Vorteile. Während das Band lief, blieb ihm Zeit zum Nachdenken. Urlaub im Kopf, wie sein Opa immer gesagt hatte. Außerdem sparte er für jede Kassette, die er neu aufnahm, in den Folgejahren aufwändige Unterrichtsvorbereitungszeit. Ziel war, die letzten 15 Jahre bis zur Pensionierung überhaupt nichts mehr leisten zu müssen.
Und das Allerbeste an seinen Kassetten: Er musste weniger zur Klasse reden. Kein Zweifel, Timo Tripke war in der Toten Mine der Didaktik noch auf echtes Gold gestoßen.
So sah er auch jetzt wieder durch ein Fenster in Raum 404 auf die Häuser hinab und genoss, wie sich seine eigene Stimme von Band immer weiter von ihm wegbewegte.
Er war wieder an Deck seines Hausboots. So wie gestern.
Die Augen geschlossen saß er in im Liegestuhl und versuchte, im Geräusch des Wassers, das gegen den Bug schwappte, ein Muster zu erkennen. Doch da war kein Rhythmus. Nur seliges Chaos.
Die Seebinsen raschelten im Wind.
Hinter ihm klackte etwas leise. Vielleicht arbeitete das Holz. Es klang schön. Über ihm schrie ein Vogel. Und wieder. Und wieder. Und …
»Herr Tripke.«
Die Stimme im Klassenraum war wieder zu hören. Aber es war nicht mehr seine eigene von Band.
»HERR TRIPKE, DIE KASSETTE!«
»Was?«
»Aus.«
»Scheiße.«
Er zog mit zwei spitzen Fingern behutsam die Kassette aus dem Gerät. Da hatte er den Bandsalat. Das Tape war gerissen, vielleicht zu Hause noch zu kleben. Doch für heute definitiv aus dem Spiel. Jetzt galt es, einen kühlen Kopf bewahren.
Die Stunde, auf die er sich, Kassette sei Dank, kein Stück vorbereitet hatte, war vielleicht zehn Minuten alt. Sie durfte ihm nicht entgleiten.
Natürlich konnte er zur Weimarer Republik auch etwas frei vortragen. Und Schulbücher gab es auch noch. In geringer Stückzahl lagen sie sogar schon auf den Pulten.
Doch noch wusste er nicht, wie er wieder in die Spur finden sollte. So perplex war er.
Er ging zur Tafel und griff zum roten Marker. Noch immer hatte er keine Ahnung, was er vorhatte. Aber zumindest tat er etwas, das Lehrer immer taten. Sehr gut.
»Dann machen wir das eben ohne Kassette«, hörte Tripke sich mit zittriger Stimme sagen. »Überhaupt kein Problem!«
Schnell kam ihm der Verdacht, sein letzter Satz könne so geklungen haben, als sei in Wahrheit das Gegenteil der Fall.
Er sah, wie er vier Ziffern an die Tafel schrieb. 1-9-1-8. 1918. Genial. Damit konnte er arbeiten.
»Mit dem Kriegsende – hier, 1918 – war das … das Deutsche Reich in seiner bisherigen Form sozusagen, also, na, am Ende. Die Kaiserzeit war vorbei. Die Kolonialzeit war vorbei. Schwere Reparationszahlungen, also Forderungen der Siegermächte, standen an. Innenpolitisch herrschte mit der Abdankung des Kaisers ein eklatantes Machtvakuum. Also wollten viele Kräfte diese Stunde Null, so nennt man das auch, für sich nutzen und an die Macht. Vielleicht gucken wir mal an der Tafel, wer hatte denn alles ein Interesse, in dieser neuen Republik eine wichtige Rolle zu spielen?«
Er legte den roten Marker