Lars Amend

Why not?


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      Fünf Minuten vor sieben betrat ich das Grand Hotel Kempinski. Ich lief durch den großen Eingangsbereich und entdeckte Ben. Er saß zusammen mit drei seiner Kollegen in einer der vielen Sitzgruppen. Sie unterhielten sich. Ich suchte mir einen separaten Platz auf der anderen Seite des Foyers. Ich schloss meine Augen. Es war ein schöner, fast schon meditativer Moment des Wartens. Meine Atmung war ruhig und gleichmäßig. Ich spürte wieder Leben in mir. Das monatelange Nichtstun hatte mich träge werden lassen, doch glücklicherweise gab es jemanden, der mir in den Hintern trat. An keinem Ort der Welt wäre ich in diesem Augenblick lieber gewesen. Ich begann zu lächeln. Von innen.

      Dieser Moment in der Hotellobby war so ein kleines Glück für mich, auch wenn nach außen hin eigentlich gar nichts passierte. Mein Herz jedoch wusste Bescheid.

      Die Literatur-Nobelpreisträgerin Pearl S. Buck sagte den wunderbaren Satz: »Viele Menschen versäumen das kleine Glück, während sie auf das große vergebens warten.«

      »Da ist er ja.« Eine vertraute Stimme. Mein Lächeln wurde breiter und ich öffnete meine Augen. Rudolf lief strahlend und mit ausgebreiteten Armen auf mich zu. Wir umarmten uns herzlich und für einen Moment blieb tatsächlich die Zeit stehen. Ich kann es kaum beschreiben, aber mich durchdrang ein derart tiefes Gefühl von Frieden, dass ich meinen Freund und Mentor gar nicht mehr loslassen wollte.

       »Schön, dich zu sehen«, lächelte Rudolf, während er den kleinen Gitarrenkoffer, der wie ein Köcher um seine Schulter hing, neben mir auf den Boden stellte. Die Bodyguards hatten ihn mittlerweile bemerkt und postierten sich im Eingangsbereich. Ich schaute ihn an. Rudolf besitzt die seltene Gabe, vollkommen im Jetzt zu sein, die mich immer wieder fasziniert. Vielleicht hatte er gespürt, dass es mir in den letzten Monaten nicht so gut gegangen war und ich gerade jetzt seine großartige Energie nötig hatte.

      Bis zur Arena war es nicht weit, vielleicht 15 Kilometer, aber wir kamen mitten in den Feierabendverkehr hinein und standen schon nach wenigen Minuten im Stau. Der Fahrer sprach nicht viel. Er hatte einen französischen Nachrichtensender eingestellt, den er, nachdem wir losgefahren waren, etwas leiser drehte, und konzentrierte sich nur auf die Autos vor uns. Rudolf hatte die Augen geschlossen und spielte auf einer kleinen E-Gitarre geräuschlos seine Finger warm. Genau diese Leichtigkeit, mit der er die Saiten seines Instruments bewegte, war mir abhandengekommen. Ich nahm mir vor, die Vergangenheit hinter mir zu lassen. Es musste doch möglich sein, diese schrägen Gedanken in meinem Kopf auszuschalten. Nur für diesen einen Abend. Ich wollte keine Angst mehr vor dem Leben haben.

      Der Soulbrother meines Mentors

      Als wir hinter dem Stadion den Lieferanteneingang hinunterfuhren, wurden wir schon sehnsüchtig von der Sicherheitschefin in Empfang genommen. Rudolfs Garderobe war zwar geräumig, versprühte aber den Charme einer Fußballumkleidekabine aus der Provinz. Es gab ein kleines Bad, eine Sofagarnitur aus den 1980er-Jahren, einen Glastisch, einen Kühlschrank und ein Buffet mit Käse- und Wurstschnittchen. Ich machte es mir auf dem Sofa gemütlich. Nach 15 Minuten klopfte es an der Tür und ein kleiner Mann mit grauen Haaren, dunkelgrünen Wanderschuhen und schwarzer Windjacke trat vorsichtig he-

       rein – Paulo Coelho.

      Rudolf, der nur zwei Meter von der Tür entfernt stand, fiel ihm sofort mit einem lauten und herzlichen »Soulbrother, da bist du ja!« um den Hals. Dann stellte er mich vor.

      »Paulo, das ist Lars.«

      »Ich freue mich sehr«, lächelte ich.

      Wir gaben uns die Hand und Paulo lächelte höflich zurück.

      »Paulo, dieser Junge hier«, sagte Rudolf und drückte mich fest an sich, »ist nicht nur ein guter Freund, sondern der Mitschreiber von Rock Your Life.«

      Paulo machte mit geöffneten Armen einen Schritt auf mich zu, drückte mich ebenfalls und sagte zu meiner großen Überraschung: »Gut, dass du hier bist. Sehr gut, sehr gut.«

      Ich fühlte mich wie der junge Daniel LaRusso aus Karate Kid, als er zum ersten Mal auf seinen Meister Mr Miyagi trifft.

      »Der Stau war furchtbar heute«, begann Rudolf zu erzählen, der immer noch über beide Ohren strahlte. Paulo tat es ihm gleich und man spürte förmlich, wie sehr sich die beiden auf diesen Augenblick gefreut hatten. Nicht umsonst nennen sie sich liebevoll Soulbrothers – Seelenverwandte.

       »Der Stau hat uns zwar aufgehalten, mein Freund, aber er ist auch ein gutes Zeichen«, sagte Paulo, »denn das bedeutet, dass viele Menschen zu deinem Konzert kommen.«

      »Alles hat zwei Seiten.«

      »Du sagst es. Es kommt nur darauf an, wie du es betrachtest.«

      Ändere deinen Blickwinkel und du änderst alles.

      »Ich weiß gar nicht, wie lange ich nicht mehr auf einem Rockkonzert war«, sagte Paulo. »Ich bin wirklich aufgeregt.«

      Die Tür öffnete sich einen Spalt. »Noch 20 Minuten!«

      »Müssen wir gehen?«

      Paulo wurde etwas nervös und drehte sich sofort zu Rudolf um, der völlig gelassen neben ihm auf dem Sofa saß und grinste.

      »Sie werden das Konzert jawohl kaum ohne mich anfangen, oder?« Wir lachten und begannen, Fotos von uns zu schießen.

      ALLES AUF RESET

      Mir saßen zwei Männer gegenüber, die doppelt so alt waren wie ich, und die wie kleine Kinder miteinander spielten. Von ihnen beiden ging eine Energie aus, die ich in dieser Intensität noch nie bei anderen Menschen erlebt hatte. Sie schienen sich nicht nur blind zu verstehen, sondern es kam mir gar so vor, als seien sie Mitglieder eines Bundes, von dem ich noch nichts wusste; als würden sie ein Geheimnis kennen, das mir bislang verborgen geblieben war. War ich deswegen hier, fragte ich mich, um von diesem Geheimnis zu erfahren? Rudolf Schenker und Paulo Coelho zählen zu den erfolgreichsten Künstlern ihrer Generation, mehr noch, aller Zeiten und haben in ihrem Leben alles erreicht, wonach ich mich sehnte. Paulo hatte bis zu diesem Tag 135 Millionen Bücher verkauft und Rudolf mit seinen Scorpions etwa 110 Millionen Tonträger. Auf der einen Seite waren da zwei Superstars, zwei Multimillionäre, zwei großartige Künstler, die schon alles gesehen, probiert und erlebt hatten, und auf der anderen Seite war ich, der nicht wusste, ob er bald noch seine Rechnungen würde zahlen können. Unterschiedlicher hätten unsere Leben nicht aussehen können.

      »Was liegt dir auf dem Herzen?«

      »Wie? Was?«, kam es etwas unbeholfen aus mir heraus.

      Rudolf hatte mich mit seiner Frage mitten aus meinen Gedanken gerissen. Zwei Mitglieder des 100-Millionen-Dollar-Klubs sahen mich in diesem Moment erwartungsvoll an. Hatte ich was verpasst? Ich hörte das Klacken von Paulos Fotoapparat und konzentrierte mich darauf, so schnell wie möglich zurück in die Gegenwart zu gelangen.

      »Paulo, darf ich dich was fragen?«

      »Was immer du möchtest.«

      »Was würdest du tun, wenn du noch einmal neu beginnen könntest? Welchen Rat würde der alte Paulo Coelho dem jungen Paulo Coelho geben?«

      Rudolf lächelte über meine Frage und begann, ein paar Autogrammkarten für Freunde von Paulo zu signieren.

      »Oh, das ist schnell beantwortet«, sagte Paulo, ohne zu zögern. »Ich würde ihm raten: Höre auf dein Herz, achte auf die Zeichen und gehe deinen Weg.«

      Die gleiche Antwort hätte Rudolf mir auch gegeben. War das etwa das große Geheimnis, dieser eine Satz? Ich wiederholte ihn noch einmal in meinen Gedanken: Höre auf dein Herz, achte auf die Zeichen und gehe deinen Weg. »Wenn es doch nur so einfach wäre ...«

      »Es ist so einfach!«, fiel mir Rudolf ins Wort ohne seinen Blick von den Autogrammkarten, die er gerade schrieb, abzuwenden. »Du darfst lediglich keine Angst haben. Gib ihr keine Macht über dich. Überwinde sie!«

      Folgst du der Angst, kommst du nirgendwohin, denn sie hält dich in einem Käfig gefangen. Glaubst