eigenen Weg gehen
Der Vergleich mit dem Käfig traf exakt auf meine Situation zu. Ich war der Vogel, der nichts lieber wollte, als hoch oben am Himmel durch die Weltgeschichte zu fliegen, sich aber nicht traute, durch die kleine Schiebetür zu hopsen, was dazu führte, dass meine Flügel von Tag zu Tag schwerer wurden. Ich sollte also besser auf die weisen Worte dieser erfahrenen Herren hören, dachte ich mir, und so schnell wie möglich das Problem mit meiner Angst in den Griff bekommen, bevor meine Flügel gänzlich eingerostet sein würden.
Während Rudolf sich sein Bühnenoutfit überzog und letzte Vorbereitungen für das Konzert traf, wurden Paulo Coelho und ich von zwei Bodyguards auf die obere Tribüne begleitet. Nachdem wir Platz genommen hatten, sagte er: »Lars, du hast mit Rudolf ein ganz wundervolles Buch geschrieben, das vielen Menschen auf der Welt helfen wird. Kämpft weiter. Hört jetzt nicht auf. Ich hatte mit dem Alchimist am Anfang auch meine Schwierigkeiten. Das ist völlig normal. Ich sage dir, alles wird gut, wenn du dich auf den Weg begibst, auf deinen Weg, und den Glauben nicht verlierst. Sende Liebe in die Welt, und diese positive Energie wird den Weg zu dir zurückfinden.«
Von dem Größten lernen
Dann ging das Licht aus und die Show begann. 10 000 Fans kreischten um die Wette und meine Gedanken
gingen mal wieder auf Achterbahnfahrt. Ich saß neben einem
der einflussreichsten Schriftsteller der Welt, meinem großen
Vorbild, und mir liefen die Tränen.
Natürlich, dachte ich nach einer Weile, ist doch logisch: Wenn vor dir jemand in der Lage war, etwas Unmögliches zu erreichen, kannst du es auch. Warum auch nicht? Schau dir Paulo an! In seiner Heimat Brasilien hatte am Anfang seiner Karriere niemand an ihn geglaubt. Kein Verlag wollte sein Buch veröffentlichen. Es hagelte Absagen. Über die Idee, seinen Weltbestseller Der Alchimist zu nennen, wurde spöttisch gelacht. Das sei kein guter Titel, hieß es. Das kauft kein Mensch, hieß es, nicht in Brasilien und im Ausland schon gar nicht. Bis zum heutigen Tag hat sich das Buch auf der ganzen Welt über 100 Millionen-mal verkauft, befindet sich seit vielen Jahren konstant auf der New York Times-Bestsellerliste, wurde in über 80 Sprachen übersetzt und steht im Guinnessbuch der Rekorde. Kein noch lebender Autor hat das vor ihm geschafft. Ich schaute zu ihm hinüber. Er hatte beide Hände in die Luft gerissen und sang mit leuchtenden Augen den Refrain von Big City Nights mit. Der große Paulo Coelho wurde für einen kurzen Augenblick wieder zum kleinen Jungen, der den Spaß seines Lebens hatte, und ich fragte mich, wann auch ich dazu wieder in der Lage sein würde. Eines war mir jedoch klar: Ich war bereit.
AUCH SUPERSTARS HABEN VORBILDER
»Ein Fehler, den man öfter als einmal wiederholt, ist eine Entscheidung.«
PAULO COELHO
Nach der Show fuhren wir zurück ins Hotel. Einige Freunde der Band waren gekommen, es wurde gegessen, getrunken, gelacht. Rudolf setzte sich mit zwei Schälchen Crème brûlée neben mich, reichte mir lächelnd eine Portion herüber und fragte mich dann ganz beiläufig, ob er mir schon seine Jimmy-Page-Story erzählt habe. Ich schüttelte mit dem Kopf. »Hör jetzt gut zu!« Der Champagner kam und wir stießen miteinander an.
DIE JIMMY-PAGE-STORY
»Ich weiß nicht genau, wie das heute ist, aber damals, bevor das Internet kam, war der Rolling Stone das bekannteste Musikmagazin der Welt.«
»Ist immer noch so«, sagte ich.
»Sie veröffentlichten einmal eine Liste der 100 besten Gitarristen aller Zeiten. Auf Platz eins stand natürlich Jimi Hendrix. Dahinter folgten Leute wie B. B. King, Eric Clapton, Chuck Berry und Ry Cooder. Auf Platz neun landete mein großes Idol, mein Vorbild, der Gründer und Gitarrist von Led Zeppelin: Jimmy Page. Seit ihrem Debütalbum 1969, ich war noch jung, 21, hatte noch keinen Erfolg, gar nichts, bin ich ein Riesenfan. Ich kann dir gar nicht sagen, wie oft ich dieses Album in meinem Leben schon gehört habe. Ich konnte jedes einzelne Riff nachspielen. Okay, sagen wir so: Ich gab mein Bestes. In den 70ern gab es keine größere Rockband als Led Zeppelin und niemanden, der auch nur annähernd so auf der Gitarre spielen konnte wie Jimmy. Seine ganze Persönlichkeit, sei es als Gitarrist, Komponist oder Produzent, hat meine komplette musikalische Entwicklung wie kein anderer geprägt. In meinen Augen ist er bis heute unerreicht.« Rudolf trank noch einen Schluck Champagner und ich fragte mich, worauf die Geschichte wohl hinauslaufen würde.
Er dachte einen Augenblick nach. »1984 bin ich nach Stockholm geflogen, um Interviews für unser Album Love At First Sting zu geben, und checkte im Grand Hôtel ein. Normalerweise übernachteten wir in Stockholm immer im Blu Strand Hotel, bis der Hotelmanager eines Tages ein striktes Rock-’n-’Roll-Verbot aussprach. Die Geschichte ist schnell erzählt: Einige Monate vorher waren Mötley Crüe dort abgestiegen. Tommy Lee und seine Jungs haben im Vollrausch die Kissen ihrer Betten aufgeschlitzt und am Morgen, als die anderen Hotelgäste auf der Sonnenterrasse frühstückten, weiße Federn regnen lassen.«
»Hahaha.«
»Ja, ich find’s auch witzig«, grinste Rudolf, »aber der Hotelmanager hatte wohl eine andere Vorstellung von Humor, warf sie raus und weigerte sich von da ab rigoros, andere Rockbands aufzunehmen. Ich war also in Stockholm, genoss für einen Augenblick den herrlichen Ausblick auf den Hafen, als mein Bauch zu knurren begann. Wäre ich im Strand gewesen, hätte ich zum Telefon gegriffen und mir einen Lötmann-Toast bestellt.«
Die Sache mit dem Lötmann-Toast
»Was ist denn ein Lötmann-Toast?«
»Ach, nur ein Toast mit Sour Cream, rotem Kaviar und Zwiebeln, eigentlich nicht besonders schwer zuzubereiten, aber ich habe ihn auf der ganzen Welt nie wieder so gut gegessen wie dort. Ich verdrücke bei jedem Stockholm-Aufenthalt ganze Berge von diesen Dingern. Zum Glück liegen die beiden Hotels nur einen Katzensprung voneinander entfernt und ich dachte mir: Rudolf, alter Schwede, gehst du mal schnell rüber und gönnst dir zur Feier des Lebens einen leckeren Toast. In freudiger Erwartung bin ich die vielleicht dreihundert Meter auf die andere Seite der Bucht spaziert, rein ins Hotel, durch die Lobby schnurstracks in Richtung Restaurant, als ich aus einer Ecke am Fenster lautes Gelächter vernahm. An einem der Tische saßen drei Typen, die sich angeregt unterhielten. Ich machte unauffällig ein paar Schritte auf sie zu, schaute dann etwas genauer hin und dachte, mich trifft der Schlag. Saßen da tatsächlich Jimmy Page, Paul Rodgers und Tony Franklin beim Mittagessen.«
Magic Moments
»Ist nicht wahr!«, sagte ich und trank einen Schluck.
»Doch, ich sag’s dir«, strahlte Rudolf mich an. »Du musst wissen, Jimmy Page hatte erst wenige Wochen zuvor seine neue Band The Firm gegründet, und ein paar Meter weiter saßen sie direkt vor mir: Jimmy Page als Gitarrist, Tony Franklin am Bass und Paul Rodgers als Sänger. Aber Moment mal, dachte ich mir, als ich dort vor ihnen stand. Da fehlt doch einer! Wo ist der Schlagzeuger? Ich lief weiter und überlegte schon, ob und wie ich Jimmy ansprechen sollte, als ich hinter mir in einem witzigen walisischen Dialekt meinen Namen hörte: ›Rudolf, was für eine Überraschung! Was machst du denn hier?‹ Ich drehte mich um und sah einen grinsenden Chris Slade mit ausgebreiteten Armen auf mich zulaufen. Chris kannte ich damals schon über zehn Jahre. Auf unserer ersten England-Tour spielte er in unserer Vorband – ein super Typ. Er gründete mit Manfred Mann die Earth Band, hat mit Tom Jones gearbeitet und zog eine zeitlang mit Uriah Heep um die Welt. Jetzt war er also der neue Schlagzeuger bei The Firm. ›Chris, ich werd verrückt‹, freute ich mich wie ein Wikingerkönig und umarmte meinen alten Kumpel. ›Ähhh, ich bin nur hier, um einen Toast zu essen‹, antwortete ich auf seine Frage und merkte schon beim Aussprechen, wie komisch sich das anhörte. Aber sie waren ja aus demselben Grund da. Chris meinte, ich solle mich zu ihnen setzen. Stell dir das vor«, erzählte Rudolf und schaute bei der Erinnerung daran strahlend aus dem Fenster.
Ich saß gemeinsam mit meinem großen Idol, einem der besten Gitarristen aller Zeiten, an einem Tisch und bekam live