Juli Zeh
Corpus Delicti
Lektüreschlüssel XL
für Schülerinnen und Schüler
Von Mario Leis
unter Mitarbeit von Sabine Alan
Reclam
Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe:
Juli Zeh: Corpus Delicti. Ein Prozess. München: btb Verlag, 242010.
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Lektüreschlüssel XL | Nr. 15527
2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2021
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961832-6
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-978-3-15-015527-1
1. Schnelleinstieg
Autorin | Juli Zeh (geboren 1974) 1993–98: Jurastudium 1996–2000 Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (DLL) seit 2019 ehrenamtliche Verfassungsrichterin des Landes Brandenburg |
Erstveröffentlichung | 2009 |
Gattung | Dystopischer Roman (auch: Justizroman) – Er baut auf dem gleichnamigen Theaterstück Corpus Delicti (2007) auf. |
Epoche | Gegenwartsliteratur: ein extrem uneinheitlicher Epochenbegriff, der zuweilen ab der Wende (1989), also seit dem Mauerfall zwischen DDR und BRD, datiert wird. |
Werkaufbau | Der Roman besteht aus 50 Kapiteln, die Wort- oder Satzteile aus dem jeweiligen Kapitel als Titel tragen. |
Zeit der Handlung | Mitte des 21. Jahrhunderts von Mai bis Ende Juli / Anfang August sowie Rückblenden in die Erzählvergangenheit |
Der Roman Corpus Delicti steht im Zeichen einer GesundheitsdiktaturGesundheitsdiktatur. Schon das »Vorwort« stellt das vermeintliche Wohl der Bürger ins Zentrum: »Gesundheit ist ein Zustand des vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens – und nicht die bloße Abwesenheit von Krankheit.« (S. 7) Medizinische Früherkennung, effektive und strenge Hygienegesetze und die Genforschung sollen jede Krankheit verhindern. Eine heile Welt? Sicherlich nicht, gleichwohl erinnert sie in Ansätzen an unsere Gegenwart. Der Journalist Harro Albrecht arbeitete in seiner Rezension »Für ein bisschen Diktatur« zu Zehs Roman Analogien heraus:
»Der Leser wird bei der Lektüre zustimmend nicken. Wer seinen Körper verlottern lässt, gilt mittlerweile als verdächtig, gar als Sozialschädling, der unser aller Krankenkassenbeitrag in die Höhe treibt. In den Kneipen ist das Rauchen verboten. Eltern werden gedrängt, ihre Kinder gegen Masern impfen zu lassen […].«1
Abb. 1: Theaterstück Corpus Delicti: Ruhrtriennale 2007 – © picture-alliance / dpa | Bernd Thissen
Die Kostbare GesundheitswerteGesundheitswerte aller sind heute auch im Visier von Krankenkassen, Arbeitgebern und Versicherungen; sie profitieren, wenn die Bürger gesund leben: Ein kranker Mitarbeiter oder Versicherter ist schließlich teurer als ein gesunder. Durch den Einsatz von Fitness-Trackern, Smartwachtes und Gesundheits-Apps stellen wir unsere Werte sogar freiwillig ins Internet: Millionen Bürger verwandeln sich so zu gläsernen Menschen, die auf Schritt und Tritt beobachtet werden.
Die streitbare Autorin und Verfassungsrichterin Juli Zeh Politische Schriftstellerinwehrt sich seit über zehn Jahren gegen solch einen Überwachungsstaat. So reichte sie zusammen mit Frank Selbmann schon im Januar 2008 beim Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde gegen Fingerabdrücke in biometrischen Reisepässen ein. Die Richter in Karlsruhe lehnten zwar die Beschwerde wegen fehlender Angaben ab, betonten aber, dass die Speicherung biometrischer Daten eine schwierige Rechtsangelegenheit sei. Die Medien diskutierten die Beschwerde öffentlichkeitswirksam.
2009 verfasste Juli Zeh zusammen mit Ilija Trojanow die Kampfschrift für die FreiheitKampfschrift Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte. Beide warnen darin die Leser eindrücklich:
»Die gegenwärtige Gleichgültigkeit im Umgang mit der Privatsphäre lässt ahnen, wie Staat und Konzerne in Zukunft über uns verfügen werden, sollten wir ihnen erlauben, noch umfassendere Instrumente der Kontrolle einzuführen. Dann wird es allerdings zu spät sein zum Widerstand.«2
Zeh formuliert ihren »Widerstand« mit Corpus Delicti auch künstlerisch. Sie stellt mit ihrer DystopieDystopie ein Gegenbild zur positiven Utopie vor: Die Autorin entwirft ein pessimistisches Science-Fiction-Szenario, mit dem sie ihre Leser vor gefährlichen Tendenzen in unserer Gesellschaft warnen möchte. Ihr Roman zeigt, dass die Gesundheitsdiktatur, in der sich alles um den Körper dreht, zwangsläufig Schwachstellen besitzt. So unterminieren Moritz Holl – und später seine Schwester Mia – diesen vermeintlich besten aller Staaten.
Zu Beginn der Corona-PandemieCorona-Krise schränkte die deutsche Regierung die Freiheit seiner Bürger ein: Quarantäne, Kontaktverbote, Kita-, Schul- und Universitätsschließungen, Absperrungen ganzer Ortschaften sowie das Runterfahren der Wirtschaft wurden für Monate zum Alltag. Auch bei uns erhob der Staat die Gesundheit jedes Einzelnen zu einem hohen Gut; die Analogie zu Zehs Roman scheint auf den ersten Blick offensichtlich, aber es gibt auch erhebliche Unterschiede: So leben wir zum Beispiel in keiner Diktatur. Gleichwohl wehrten sich so manche Bürger gegen die staatliche Bevormundung – so wie Mia Holl: »Ich entziehe einem Staat das Vertrauen, der besser weiß, was gut für mich ist, als ich selbst.« (S. 187)
2. Inhaltsangabe
Juli Zehs Roman Corpus Delicti – Ein Prozess (2009), der aus 50 Kapiteln besteht, basiert auf ihrem gleichnamigen Theaterstück von 2007. Die Handlung ereignet sich Mitte des 21. Jahrhunderts. In Deutschland herrscht eine Gesundheitsdiktatur, die sich nach der » METHODEMethode« (S. 9), einem komplexen Kontrollsystem, ausrichtet. Im Mittelpunkt des Romans steht Mia Holl, die sich von einer treuen Staatsanhängerin in eine Freiheitskämpferin verwandelt.
Abb. 2: Die Methode. Drive-In-Theater nach dem Stück Corpus Delicti, Deutsches Theater Göttingen 2020
Gesundheit
Im keimfreien Deutschland hat Gesundheit die höchste Priorität. Die Menschen tragen einen Mundschutz in der Öffentlichkeit und einen implantierten Chip im Oberarm. Die Behörden speichern alle messbaren Körperwerte; ihre Übermittlung gehört, wie ein gewisses Sportpensum, zu den täglichen Aufgaben der Bürger. Schlechte Gesundheitswerte sowie der Konsum von Kaffee, Alkohol und Zigaretten sind strafbar. Küsse sind nicht romantisch, sondern eine »Verseuchung der Mundflora« (S. 65). Die ›freie‹ Liebe zwischen Menschen, deren Immunsysteme nicht zusammenpassen, ist kriminell.
Moritz Holl, ein Kriminalfall
Mias Bruder Moritz erkrankt mit sechs Jahren an Leukämie; eine Stammzellentransplantation heilt ihn. Diese existenzielle VorgeschichteErfahrung prägt den inzwischen 27-jährigen Philosophiestudenten.
Seit