stillgelegte Bahnsteige und Schotter zwischen den Schwellen. Und was ist mit Siehdichum, das noch nicht einmal eine Bushaltestelle hat? Gehören sie zur abgewandten Seite des Metropolitan Corridor? Wer den Korridor verlässt, schreibt Schlögel, »fällt aus der CNN-Zeit heraus. Er ist nicht mehr erreichbar, nicht einmal durch die Briefpost, auf die kein Verlass mehr ist. Hier gibt es keine Highways. Hier gibt es vielleicht schöne Wälder, aber keine Hoffnung und keine Arbeit mit Perspektive. Während im Korridor die zivile Armada der Trucks rollt, leuchtet in der Dunkelheit, die jenseits des Korridors herrscht, der Mond. Tau fällt.«
Keine Schnittstellen zwischen Spaces of place und Spaces of flow sind die Bahnhöfe dort, sondern liegengelassene Orte, an denen es an keiner Schranke mehr bimmelt und keiner mehr ankommt, um vom Kater oder dem Sternenhimmel begrüßt zu werden. Es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe, dass das der Normalzustand ist in dieser Region, die schon immer im toten Winkel der Geschichte gelegen war.
Aber ein wenig Hoffnung gibt es doch. Bald soll es auf der ehemaligen Trasse von Cottbus einen Heideradweg geben. Vielleicht findet er ja in Grunow Anschluss an die Bahnstrecke.
WASSERSCHEIDE
Dammendorf, Bremsdorf
Auf dem Weg nach Siehdichum habe ich schon in den ersten Tagen dieses Schild entdeckt. Kein Wegweiser, der in die eine oder andere Richtung gedeutet hätte, auch kein touristisches Hinweisschild auf eine Sehenswürdigkeit im Schlaubetal, nicht einmal eine Werbung für ein Landhotel oder einen Campinglatz. Das Schild auf der Bundesstraße 246 von Dammendorf nach Bremsdorf hatte einzig und allein eine hydrologische Tatsache zu behaupten: Wasserscheide Nordsee-Ostsee.
Neugierig stellte ich mein Fahrrad ab und ging zu diesem Schild. Kurz überlegte ich, mich mit dem einen Bein auf die Nordsee- und mit dem anderen auf die Ostseeseite zu stellen, aber das schien mir zu theatralisch. Außerdem war auf der Höhe des Schildes keine gestrichelte Linie gezogen wie etwa beim Polarkreis nördlich von Rovaniemi in Finnland. Dennoch löste dieses Schild etwas in mir aus. Die Regentropfen, die östlich des Schildes, also Richtung Bremsdorf auf die Erde fielen und dort versickerten, würden demnach Richtung Oder und damit in die Ostsee entwässern. Die Tropfen auf der Dammendorfer Seite würden dagegen irgendwann in der Elbe und der Nordsee landen.
Das Gleiche galt für die beiden Bäche, die die Region von Süden nach Norden durchfließen. Die Oelse, an deren Ufer ich die Torfstiche entdeckt hatte, schleicht der Spree entgegen, deren Wasser wiederum über die Havel in die Elbe mündet. Die Schlaube dagegen, die dem Schlaubetal ihren Namen gibt, mündete einst über den Brieskower See kurz vor Frankfurt in die Oder. Vielleicht war mir deshalb etwas unwohl in dem Moment, als ich das Schild an der B 246 entdeckt hatte. Irgendetwas in mir flüsterte: Du irrst dich, wenn du denkst, Flüsse können eine Landschaft zusammenhalten. Du musst dich entscheiden! Bist du nun ein Mensch der Oder oder ein Mensch der Elbe?
Ich wusste auch, dass mich diese Frage zerreißen würde. Mein erstes Buch über einen Fluss hatte ich 2005 der Oder gewidmet. Ich wollte den Leserinnen und Lesern in Deutschland diesen großen europäischen Strom nahebringen, den die meisten noch immer als Grenzfluss betrachteten. Dabei ist die Grenzoder zwischen Deutschland und Polen nur 162 Kilometer lang. Ein Nichts ist das im Vergleich zu den 860 Kilometern, die die Oder auf dem Buckel hat, wenn sie ins Stettiner Haff mündet und von dort als Peenestrom, Swine und Dievenow in die Ostsee.
Seit dieser Zeit bin ich der Oder verbunden. Nicht mit dem Grenzfluss, sondern dem deutsch-polnischer Begegnungsraum, den sie erschließt. Etwas anders war es bei der Elbe. Sie habe ich schon als kleines Kind kennengelernt. Als Vierjähriger besuchten wir die tschechische Verwandtschaft im Riesengebirge. Später haben mein Bruder und ich bei den Recherchen zu unserer Familie ein Geheimnis entdeckt. Unser Großonkel Jozef Novák brachte 1948 auf seinem Elbkahn ČSPL 346 einen in Ungnade gefallenen Politiker von Prag nach Hamburg. Diese Geschichte wurde das sehr persönliche erste Kapitel meines Buches über die Elbe, das ich acht Jahre nach meinem Buch über die Oder veröffentlichte. Auch darin wurde eine Grenze überschritten. Der Fluchtkahn meines Großonkels war einfach durch den Eisernen Vorhang geschippert.
Und nun sollte ich mich, an diesem Schild auf der B246 zwischen Dammendorf und Bremsdorf, plötzlich für eine Seite entscheiden? Oder musste ich das gar nicht, weil Wasser nicht nur scheiden, sondern auch verbinden kann?
Vor Fragen wie diesen standen vor fünfhundert Jahren schon der österreichische Kaiser Ferdinand I. und der preußische Kurfürst Joachim II. Der eine wachte über Spree und Elbe, der andere über die Oder. Warum sich aber nicht zusammentun, warum nicht das eine mit dem anderen verknüpfen? Also beschlossen Ferdinand und Joachim 1558 im Vertrag von Müllrose, einen Kanal zu bauen. Er sollte von Neuhaus an der Spree bis Brieskow reichen und dort die Oder begrüßen. Den Kaufleuten, die mit ihren Flussschiffen von Breslau unterwegs nach Berlin waren, würde das eine Wegstrecke von 1.660 Kilometern sparen. Statt zweitausend Kilometer lang über Stettin, die Ostsee, den Skagerrak, die Elbe aufwärts bis zu Havel und Spree zu segeln, wären nun nur noch 340 Kilometer zurückzulegen.
Außerdem waren an der Stelle, an der sich Spree und Oder am nächsten sind, nur 27 Kilometer Entfernung zu überwinden. Auch über die Kosten des Kanalbaus waren sich beide Seiten einig geworden. Den westlichen Teil des Kanals von Müllrose bis Neuhaus sollte der Kaiser finanzieren, den östlichen Teil der brandenburgische Kurfürst. Gespeist werden sollte der Kanal durch das Wasser der Spree und von der Schlaube, die auf Müllrose von Siehdichum zueilt, dann nach Osten biegt und in die Oder mündet. Die Schlaube hat ab Müllrose dem Kanal also schon mal das Bett gemacht.
1564 war der Kaisergraben von Neuhaus bis Müllrose, auch Alter Graben genannt, fertiggestellt. Doch der brandenburgische Kurfürst dachte gar nicht daran, seinen Teil des Vertrags zu erfüllen. So blieb die Verbindung zwischen Spree und Oder vorerst unvollendet. Erst als mit dem Dreißigjährigen Krieg die Odermündung mit Stettin an die Schweden und die Niederlausitz an Sachsen gefallen waren, griff Friedrich Wilhelm, Kurfürst von Brandenburg und Herzog von Preußen, das Vorhaben wieder auf.
1662 gingen die Bauarbeiten los. Sechs Jahre später lud Friedrich Wilhelm zu einem Festakt ein. Anschließend wurde der Kanalabschnitt geflutet, und die Gesellschaft befuhr den Neuen Graben. Am 27. Februar 1669, informiert heute das Wasser- und Schifffahrtsamt, »gingen die ersten fünf Oderkähne in Breslau ab, passierten am 8. März den Neuen Graben und kamen am 12. März in Berlin an«. Eine Schleusung dauerte zwischen 15 bis 45 Minuten. Fünf bis sieben Tonnen Ladung konnten die Kähne aufnehmen, die entweder getreidelt oder gestakt wurden oder bei Wind ihre Segel setzten. Am Treidelweg, der heute von Schlaubehammer nach Brieskow führt, steht an der Schleuse Weißenberg auch das zum zweihundertjährigen Bestehen des Kanals eingeweihte Denkmal, das im Jahre 2000 saniert wurde.
Was für eine Geschichte. Schon damals hatte sich das Wasser nicht mehr entscheiden müssen. Ein Wunderwerk der Technik hatte es möglich gemacht und gleichzeitig die hydrologische Tatsache einer Wasserscheide zwischen Nordsee und Ostsee außer Kraft gesetzt. Müllrose lag nun nicht mehr im Abseits, sondern bildete den Scheitelpunkt einer europäischen Wasserstraße. Der Friedrich-Wilhelm-Kanal, wie er bald genannt wurde, wurde zum Bindeglied zwischen Spree und Oder, das Wasser trennte nicht mehr, sondern verband die Region.
Oder doch nicht? Denn an anderer Stelle hat der Kanal die Trennung vertieft. Gewinnerin der Baumaßnahmen war die Mark Brandenburg, auf deren Territorium der Kanal verlief. Zur Verliererin dagegen wurde die sächsische Niederlausitz, die nun Zölle für die Benutzung zahlen musste. Statt der Wasserscheide, die mit dem Kanal außer Kraft gesetzt wurde, gab es nun eine Landscheide. Und dann fürchtete der Abt des Stifts Neuzelle auch noch Schäden durch etwaige Hochwasser.
Das mit dem Hochwasser hatte ich irgendwann gelesen, als ich im Garten saß und in einem Text über den Wasserhaushalt im Mittellauf der Spree blätterte. Irgendetwas, das spürte ich während der Lektüre, machte mich nervös. Es war nur ein Gefühl, aber das Gefühl sagte mir, dass der Abt von Neuzelle vielleicht gar nicht so unrecht hatte. Also ging ich ins Arbeitszimmer und kramte in einem Ordner, den ich damals bei den Recherchen zu meinem Buch über die Oder angelegt und immer weiter