haben ihn Claus Dalchow und Joachim Kiesel vom Leibnitz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF) in Müncheberg. Der eine ist Bodenkundler und Germanist, der andere beschäftigt sich mit digitalen Geländemodellen. Beide haben herausgefunden, dass die Wasserscheide zwischen Nordsee und Ostsee und damit auch der Kanal, der sie überwindet, nicht unbedingt das letzte Wort der Hydrogeologie sind.
Dalchow und Kiesel haben sich nämlich angeschaut, wie nach der Weichseleiszeit vor 14.000 Jahren die europäischen Urstromtäler entstanden sind, in denen die Flüsse nach dem Abschmelzen der Eismassen nach Westen abfließen konnten. Doch immer wieder drängte ihr Wasser auch nach Norden. Das galt sowohl für die Oder als auch die Spree, die der Oder zwischen Neuhaus und Brieskow, wie ich nun wusste, gefährlich nahekommt. Zwischen beiden Orten verläuft zudem das Berlin-Warschauer Urstromtal. Die Hydrologen nennen das die »Müllroser Pforte«. Es ist genau jener Abschnitt, den der Friedrich-Wilhelm-Kanal überbrückt.
Doch das war noch nicht alles. Solche Pforten könnten, meinen Dalchow und Kiesel, zu regelrechten »Sollbruchstellen« werden. Und zwar dann, wenn die Oder über die Alte Schlaube das Höhengefälle zwischen den beiden Flusssystemen anknabbert, das an der »Müllroser Pforte« ganze 17 Meter beträgt. »Anzapfung« nennen das die beiden Wissenschaftler des ZALF in Müncheberg. »Die sich in westlicher Richtung in die geköpften Urstromtalsegmente eintiefenden Täler würden schließlich Nebenflüsse der Elbe erreichen und durch Anzapfung zur Oder umleiten«, schreiben sie. »Die Pforten verwandeln sich mit der Tätigkeit der Anzapfungsklingen in ›Anzapfungskorridore‹. Der aktuelle Zustand der Anzapfungskorridore zeigt, dass die Anzapfungsklingen bereits eine erhebliche Ausdehnung gewonnen haben und damit ein Teil der Anzapfungsarbeit bereits geleistet ist.«
So kompliziert das zunächst klingen mag, die Konsequenzen wären weitreichend und bedeuteten das Ende der Wasserscheide Nordsee-Ostsee: »Die Anzapfung und damit die Umleitung der Havel bzw. Spree darf man sich als durchaus abrupten Vorgang denken: Eines bestimmten Tages tritt das Wasser des hochgelegen fließenden Flusses in die herangenahte Anzapfungsklinge über; das Ufer bricht fort oder ein Hochwasser hat das Überlaufen in die Anzapfungsklinge ausgelöst.«
So könnte also das Wasser der Spree in die 17 Meter tiefere Oder stürzen. War das das Hochwasser, das der Abt von Neuzelle befürchtet hatte? Wer nun in Müllrose oder auf dem Treidelweg eine Sintflut biblischen Ausmaßes befürchtet, sei allerdings beruhigt. Bodenkundler und Hydrologen rechnen nicht in Monaten und Jahren, sondern in Jahrtausenden. Ganz sicher sollten wir uns aber nicht fühlen. Denn Kanalbauten, haben Dalchow und Kiesel herausgefunden, »können die natürliche Entwicklung beschleunigen«.
Ich selbst kann es gar nicht erwarten. Wenn ich das nächste Mal vor dem Schild mit der Wasserscheide stehe, weiß ich, dass ich mich vorerst nicht entscheiden muss. Die Natur wird mir diese Entscheidung eines Tages abnehmen. Die Landschaft ist im Fluss.
SIEHDICHUM
Erst nach und nach treffen die Jäger und Treiber ein. Es ist kalt auf dem Hof des Forsthauses Siehdichum, das Lagerfeuer wärmt nur, wenn man dicht davorsteht. Im Wirtschaftsgebäude hat Andrea Maßmann ein kleines Buffet aufgebaut, es gibt Suppe, Kuchen, Kaffee und Bier. Während sich die Jagdgesellschaft aufwärmt, wird auf dem Hof die Strecke gelegt. Viel ist es nicht, was an diesem Januartag auf zwei aufeinanderfolgenden Drückjagden im Neuzeller Stiftswald erlegt wurde. Vier Rehe, ein Wildschwein, das war’s.
Die Laune lassen sich die Beteiligten nicht verderben. Gestärkt von Suppe und Bier versammeln sie sich bei Anbruch der Dämmerung auf dem Hof. Die Strecke ist mit brennenden Fackeln markiert. Die Regeln sind akribisch festgelegt: Zuerst kommt das Hochwild, dann das Niederwild. Männliches Wild kommt vor weiblichem. Starkes Wild vor schwachem, Haarwild vor Federwild. Darüber hinaus soll jedes zehnte Stück der Art eine halbe Körperlänge vorgezogen werden. Bei vier Rehen und einem Stück Schwarzwild eine eher unnötige Regel.
Ist die Strecke ordnungsgemäß gelegt, sind die Jagdhornbläser an der Reihe. Für jede Wildart stimmen sie ein eigenes Signal an, das so genannte Totsignal. Auf dem Hof des Forsthauses Siehdichum ertönt zunächst »Reh tot«, dann »Sau tot«. Anschließend wird der Name der erfolgreichen Jäger genannt und der Bruch verteilt.
Das Strecke legen ist ein Ritual, das die Jagd seit Jahrhunderten begleitet. In Siehdichum begann die Tradition im 18. Jahrhundert. Das geht aus dem Stiftsatlas von 1758 hervor, dessen Original in der Kartenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin aufbewahrt wird. Inmitten eines ausgedehnten Waldgebietes ist auf einem Bergsporn, der sich in den Hammersee schiebt und steil zur Schlaube abfällt, ein »Jäger-Hauß« eingezeichnet. Auch heute noch sind das Forsthaus Siehdichum, das Verwaltungsgebäude des Naturparks Schlaubetal und drei Häuser am Hammersee die einzigen Gebäude in diesem Waldgebiet, das von der Schlaube und ihren Seen durchflossen wird. Wo sonst, wenn nicht hier, kann man es fühlen, was Romantiker wie Tieck oder Eichendorf mit diesem Wort gemeint haben mögen: Waldeinsamkeit.
Begonnen hat die Geschichte von Siehdichum mit der Wahl eines neuen Abtes im Kloster Neuzelle. 1742 trat Gabriel Dubau sein Abbatiat im Zisterzienserkloster an, dessen Ländereien seit der Gründung 1268 von der Oder im Osten bis zur Schlaube im Westen reichten. Vier Jahre später ließ Dubau von seinen Mönchen an der schönsten Stelle des Schlaubetals jenes »Jäger-Hauß« errichten, das im Stiftsatlas von Neuzelle vermerkt ist. Es war ein einfaches, einstöckiges Fachwerkhaus, in dem es auch einen Betraum für die Mönche gab. Um das Gebäude herum wurden Sichtachsen in den Wald geschlagen. Der Name »Siehdichum« ist erstmals für das Jahr 1754 belegt. Im Kirchenbuch von Neuzelle hat der Historiker Winfried Töpler anlässlich der Hochzeit eines Jägers im Jagdhaus den Eintrag gefunden »Sieh dich um«. Heute steht der Name auf einem Schild vor der Einfahrt zur gleichnamigen Gaststätte: Hier sieh dich um.
Wie aber ist der Name zu deuten? War er eine Warnung an die Mönche und Jäger, auf Schritt und Tritt auf den Weg zu achten, da die Schlaube hier von zahlreichen Sümpfen und Mooren umgeben war? Oder pries er dieses Fleckchen Erde, denn von der Anhöhe hat man tatsächlich einen herrlichen Ausblick auf den Hammersee, den Schinkensee und die umliegenden Laubwälder des Schlaubetals? Stand der Name in Zusammenhang mit den im Mittelalter beliebten »Satzortsnamen« wie Schauinsland bei Freiburg oder solchen, die man Vorwerken und Jagdhäusern gab, um Schaden von ihnen abzuwenden? Ein Beispiel dafür ist »Siehdichfür« in Sachsen – als Warnung an Reisende, sich vorzusehen, wie der Namensforscher Jürgen Udolph mutmaßt. Vielleicht war er aber auch nur ein Tipp von Mönch zu Mönch: Schau mal, wie schön es hier ist.
Oder hatten die Mönche von Neuzelle gar keinen Blick für die Landschaft? Mitte des 18. Jahrhunderts bestimmte die Aufklärung das Bild des Menschen von seiner Umwelt. Vielerorts ging das einher mit einem forstwirtschaftlichen Blick auf den Wald und der Überzeugung, dass die Natur, verstanden als ungeordnete Wildnis, gezähmt und geordnet werden muss. Haben die Mönche mit der Inszenierung von Siehdichum in einer Art antiaufklärerischer Attitüde also die Gegenbewegung, die Landschaftsidee der Romantik, vorweggenommen?
Wohl eher nicht. Denn dort, wo es um die Wirtschaft des Klosters geht, handelten auch die Äbte rational. So wurden die Oderauen gerodet, um die guten Böden für die Landwirtschaft zu nutzen. Auch zwischen Oder und Schlaube waren zwischen 1650 und 1750 viele Wälder gerodet worden. Auf dem Weg nach Siehdichum ritten die Neuzeller Mönche meist über kahle Felder. Schönheit spielte für sie keine Rolle. Aus einer ungeordneten Landschaft wurde auch im antiaufklärerischen Milieu der Zisterzienser eine geordnete Landschaft. Ein Beispiel dafür ist der Barockgarten des Klosters, den Abt Gabriel Dubau streng geometrisch anlegen ließ.
Anders war es da, wo gejagt wurde. Bei der Jagd verhielten sich die Mönche nicht anders als der Adel der Zeit. »Vornehmlich der Wald, aber auch alle anderen Landschaftselemente des adligen Grundbesitzes, die zur Jagd genutzt wurden, nahmen im Kontext der adligen Selbstdarstellung Züge des Wilden, des unbeherrscht Natürlichen an«, schreibt der Sozial- und Wirtschaftshistoriker Torsten Meyer. »Die Landschaft, verstanden als naturräumliche Ausstattung, bildete den Hintergrund (…), um ihrer selbst Willen existierte sie nicht.« Das allerdings würde bedeuten, dass das Jagdhaus der Mönche nicht an der schönsten Stelle des Schlaubetals errichtet wurde, sondern dort, wo es das meiste Wild gab.