steckten in deinen Nasenlöchern zwei durchsichtige Schläuche, die sich unter dem Kinn vereinigten und hinter dem Bett in einem Gefäß mit einer klaren Flüssigkeit endeten, die lautlos blubberte. Das andere Bett war leer und mit einer Zellophanhülle bedeckt. Dein Mund stand weit offen, der rechte Winkel war kinnwärts verzogen, die Unterlippe hing fleischig herab, sodass man die pelzige Schleimhaut sah. Zwischen Ober- und Unterlippe spannte sich ein Speichelfaden, der wie ein Spinnweb im Luftstrom des Atems flatterte. Das Laken war verrutscht, eine Matratze aus grünem Plastik sah hervor. Die luftgefüllten Kunststoffkammern wölbten sich mit der Präzision eines Uhrwerks. Hinter der angelehnten Tür näherte sich das Klappern von Essenwagen, Stimmen, Schritte, und entfernte sich wieder. Draußen zog eine Gewitterfront auf. Die Gardine bauschte sich in unregelmäßigen Windstößen. Die alten Bäume im Park schüttelten sich wie traurige Tiere. Ich schloss das Fenster. Zwischen dem fernen Rollen des Donners zog jedesmal eine kleine, zitternde Stille ein. Dein Atem ging jetzt schneller, stoßweise hob sich der weiße Brustansatz über dem mit kleinen blauen Häusern gemusterten Kittel. Du hattest die Augen zu, das rechte Bein war unbedeckt, die Haut bis hinauf zum hellblauen Rand der Windelhose glatt und sehr weiß, und ich starrte auf dieses Stück weißer Haut, Mutterhaut.
Jeden Tag kam ich für ein paar Stunden, setzte mich an dein Bett und überließ mich dem Rhythmus der atmenden Matratze, dein Zustand war unverändert. Am fünften Morgen war das zweite Bett belegt. Die andere Frau schlief. Sie atmete laut und regelmäßig wie eine Maschine, kurz Ein, lang Aus, dazwischen das leise Fauchen ihres Luftbettes. Wenn die beiden Pumpen ansprangen, war es wie das Schnurren von zwei schlafenden Katzen. Von irgendwo läuteten Kirchenglocken. Die beiden Matratzen hoben und senkten sich sanft, sie trugen die Sterbenden über den schwarzen Grund des Schlafs, der ohne Erwachen ist, genügsam, zuverlässig wie Maulesel. Wenn ich mich lange genug auf den Rhythmus konzentrierte, meinte ich zu spüren, wie sich unter uns die Erde senkte und hob, ein lebendiges, atmendes Wesen.
Der zehnte Tag. Ich beugte mich über dein wachsbleiches Gesicht, in dem die Haut faltenlos gespannt war wie eine Silikonmaske. Du warst ruhiger als an den Vortagen. Du schlugst die Augen auf. Große graugrüne Augen, die mich mit einem Ausdruck von Erstaunen anstarrten. Ich erstarrte unter diesem leeren Blick. Ich hatte vergessen, welche Farbe deine Augen haben. Ich griff nach deiner linken, gesunden Hand, sie entzog sich, du drehtest den Kopf weg. Über der Nasenwurzel erschien eine steile Furche.
Ist schon gut, sagte ich schnell und streichelte die rechte Hand, die blaugeädert auf der Bettdecke lag und sich gegen die Berührung nicht wehren konnte, schob meine Hand unter deinen Kopf, zog das Kopfkissen hervor und schüttelte es auf. Du ließest mich gewähren und schliefst wieder ein. Ich sah auf meine Armbanduhr. Siebzehn Uhr achtzehn. Im Zimmer waren mindestens dreißig Grad. Du warst eingeschlafen und schnarchtest leise. Das Gebläse sprang an. Vom Klappern der Essenwagen auf dem Gang wachtest du auf, der Unterkiefer klappte schmatzend zu. Als habe ein Traum dir Erkenntnis geschenkt, sahst du mich mit einem Anflug des Erkennens an. Durch die Kanüle in deinem Handrücken tropfte Nährlösung aus einem Plastikbeutel in die Vene.
Siebzehnuhrvierundzwanzig. Ich ging zum Schwesternzimmer, hinterließ meine Telefonnummer und sagte, man könne mich jederzeit anrufen, auch nachts. Die diensthabende Schwester hatte hennarote Haare, die am Scheitel grau nachwuchsen, und trug eine dunkel getönte Brille. Sie notierte es auf einem Zettel und sagte, sie werde es in der Krankenakte vermerken.
Anderntags war dein Zimmer leer. Einen harten Herzschlag lang empfand ich nichts. Man hatte dich auf eine andere Station verlegt, aber das Zimmer sah genauso aus wie das andere, ein Zweibettzimmer, aus dem das zweite Bett entfernt worden war. Dein Sterbezimmer, dachte ich sofort. Deine Augen waren weit aufgerissen, als blickten sie in eine furchtbare Ferne. Ich folgte deinem Blick. An der Decke flackerte ein stummgeschalteter Fernseher, in dem eine Nachmittags-Talkshow lief, dazwischen Auto- und Joghurtwerbung.
Über den endlosen Korridor stürmte ich zum Dienstzimmer. Die Schwestern saßen beim Kaffee. Als ich verlangte, dass der Fernseher ausgeschaltet wird, sahen sie mich mit einem Ausdruck von Hass an. Ich fuhr hinunter in die Lobby, um mich zu beruhigen. In der Cafeteria saßen fünf beleibte türkische Familienväter über fünf gewaltige, mit Schlagsahne gefüllte Windbeutel gebeugt. Zum Rauchen ging ich in den Park. Zwischen der Nierenstation und der orthopädischen Abteilung öffnete sich das Gelände in einen großen Garten, der von lindengesäumten Spazierwegen umgrenzt wurde. Großbürgerliche Backsteinvillen reihten sich, die Giebel zum Park ausgerichtet, mit weißen Säulen und verglasten Loggien, aus einem Rosenbeet stieg schwerer Duft auf, ein paar Schritte weiter lag in einem Rondell aus weißem Kies ein mattgrüner Teich, halb verdeckt von einem niedrigen Schilfstreifen. Ich setzte mich auf eine der weiß gestrichenen Bänke und betrachtete die Rosen, das Schilf, die Wolken aus grauer Seide, die sich am Himmel bauschten. Ein junges Paar setzte sich auf die Nebenbank, das Mädchen rittlings auf den Schoß des Jungen. Sie küssten sich, die Hand des Jungen fuhr langsam ihren Rücken hinunter in ihre Jeans. Das Mädchen warf mit beiden Händen ihre langen Haare in den Nacken und bog lachend den Oberkörper zurück. Der Junge drückte seinen Kopf gierig in die flache Mulde zwischen ihren Brüsten.
Auf dem Rückweg zur Station nahm ich den falschen Fahrstuhl und irrte durch Gänge, über Treppen. Die letzten Besucher waren gegangen. Die Türen standen offen, meine Augen streiften flüchtig über faltige Arme, Beine, nackte Bäuche, magere Schultern, knochige Rücken mit spitz hervorspringenden Wirbeln, entblößte Hintern. Das Fernsehgerät war ausgeschaltet. Deine Augen rollten unruhig unter halbgeschlossenen Lidern. Vielleicht träumt sie, dachte ich, vielleicht ist in ihrem Gehirn nicht alles dunkel. Ich versuchte zu lesen, aber es war zu heiß, die Wörter zerflossen gleich hinter den Augen.
Achtzehnuhrfünfunddreißig. Ein langer Seufzer entfuhr deiner Brust. Ich starrte mit angehaltenem Atem auf das Betttuch, bis mir schwindlig wurde. Das Gebläse sprang schnurrend an, die Matratze atmete ruhig und gleichmäßig. Zehn Sekunden, zwanzig, vierzig. Nach einer Ewigkeit hob sich deine Brust in kurzen, krampfhaften Stößen und förderte aus der Tiefe des Bauchs rettende Luft hervor, die Lunge fand in ihren Rhythmus zurück. Ich starrte noch immer abwechselnd auf meine Armbanduhr und das Laken, unter dem sich der magere Körper abzeichnete. Achtzehnuhrsechsunddreißig. Du schlugst die Augen auf und hobst den Kopf ruckhaft vom Kissen, mit diesem Ausdruck des Erstaunens, den ich schon kannte. Ich nahm einen Zellstofflappen und befeuchtete deine Lippen, die aus winzigen Rissen bluteten. Schlaf weiter, sagte ich, ich bin ja da. Du sankst gehorsam zurück und schliefst wieder ein, ich glaubte eine Art Lächeln, ein winziges spöttisches Aufwärtszittern der Mundwinkel zu erkennen. Ich lauschte dem leisen Gurgeln in der Luftröhre, bis die Nachtschwester den Kopf ins Zimmer schob und wusste doch, dass ich den Tod, wenn er anklopfte, nicht erkennen würde.
Nachdem man dich in eine Reha-Klinik verlegt hatte, fuhr ich jeden zweiten Tag mit dem Auto in den idyllischen Ort zwischen Seen und Wäldern. Manchmal ging ich vorher schwimmen. Vor dem Eingang der Klinik saßen die Rollstuhlfahrer und rauchten, einer hatte nur ein Bein, die meisten hatten ihren rechten oder linken Arm unbewegt vor sich auf den Oberschenkeln liegen. Einen Kinderlatz vorgebunden, das Gesicht mit Schokoladenpudding beschmiert, saßest du, mit schiefem Kopf zur Seite gesunken, in einem Faltrollstuhl. An manchen Tagen ließ man mich vor der Tür warten. In deinem Zimmer roch es schwach nach Exkrementen und Desinfektionsmitteln. Das Bett war jedesmal neu bezogen. Du bekamst die Erlaubnis zu kleinen Ausfahrten. Ich schob dich hinunter zur Cafeteria. Die Rückwand des Fahrstuhls war verspiegelt, nach einem flüchtigen Blick drücktest du mit den Fingerspitzen dein Haar hinter den Ohren zurecht, wie Doris Day in ihren besten Jahren, und ich fragte mich, ob die Person im Spiegel für dich wohl dieselbe sei, die ich sah. In der Cafeteria bestellte ich zwei Tassen Kaffee und ein Stück Sahnetorte. Mit großen Augen verfolgtest du jede meiner Bewegungen. Ich stellte das Tortenstück vor dich hin, mit großer Ruhe griff deine linke Hand nach dem Kaffeelöffel, drückte ihn geschickt in die Torte und ließ die weiche, süße Masse andächtig in deinem Mund verschwinden.
Wenn das meine Mutter wäre, sagte die Stationsärztin, würde ich keine Minute zögern. Ihre Stimme war zu schrill, ihr Makeup zu dick, die Mascara zu schwarz, ihre Zehennägel leuchteten alarmrot. Sie bestand darauf, eine PEG zu legen. Ein durchsichtiger Schlauch wurde am nächsten Tag durch den Bauchnabel in den Magen geführt und an eine Pumpe angeschlossen, durch die eine hochkalorische Flüssigkeit lief, die dich