Beatrix Langner

Der Vorhang


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wo Kühe zwischen Flugzeugen grasen, als ein paar Tage vor Pfingsten ein Mann in Wehrmachtsuniform quer über einen Acker durch den Modder eilt, gut sichtbar vor dem flachen Horizont, während ein anderer Mann in derselben Uniform, bloß ein paar Kilometer weiter südlich und in entgegengesetzter Richtung, dasselbe tut. Die Männer sind ungefähr im selben Alter, um die fünfzig, Brillenträger. Der eine, ein gewisser Heinrich Hitzinger, den Kragenspiegeln nach Unterscharführer der Geheimen Feldpolizei, wird am Pfingstsonntag von einem britischen Posten aufgegriffen und zur alliierten Kommandantur nach Lüneburg gebracht. Für den andern, ehemals Buchhalter bei Orenstein & Koppel und vor einer Woche noch Obergefreiter und Hilfskoch in einem dänischen Polizeigefangenenlager, ist der Krieg auch ohne Kapitulationsurkunde vorbei. Bloß nicht sich jetzt noch erwischen lassen in diesem allgemeinen Tohuwabohu, also nimmt er die Beine in die Hand und nichts wie ab durch die Mitte, Heidewitzka, Herr Kapitän, und wie sich also der eine, dieser Hitzinger mit den tadellos manikürten Fingernägeln, noch am selben Tag in seiner Lüneburger Zelle mittels einer Cyankalikapsel in die Hölle befördert, wo man ihn auf der Stelle als Reichsheini alias den schärfsten Bluthund des Führers, Judenschlächter von Europa, Reichsführer SS und Chef des Ersatzheers erkennt und mit einem groben Fußtritt weiterschickt zum Satan persönlich, taucht der andere leise pfeifend in einer Kiefernschonung unter. Um etliche Backenzähne, eine Niere, den halben Magen und etliche Illusionen über die menschliche Natur ärmer, klettert er ein paar Monate später in Hannover auf das mit Kriegsheimkehrern übervolle Dach eines Güterzugs und lässt sich mit steifen Gliedern, aber dafür gratis, am Berliner Nordbahnhof abliefern. Ich sehe ihn vor mir, den abgemagerten Endvierziger mit tief gekerbten Magenfalten und Geheimratsecken, ein bisschen kurzsichtig hinter der Wehrmachtsbrille, aber sonst gut im Schuss für sein Alter, ich sehe ihn vor mir, weil in seinen Adern Blut mit einer ähnlichen chemischen Zusammensetzung wie in meinen fließt, weil die Struktur seiner Aminosäuren wie ein langsamer Fluss durch viele Generationen bis zu mir getragen wurde. Ich sehe ihn, wie er durch die Stadt irrt, die er nach sechs Kriegsjahren nicht wiedererkennt und ich weiß, als er in einem der südöstlichen Vororte die Straße mit dem Kopfsteinpflaster erreicht hat, an deren Ende sein Reichsheimstättenhäuschen zwischen mageren Rotdornbäumchen steht, unversehrt und einladend mit seinen grünen Fensterläden, dass da niemand auf ihn wartet.

      Doch zunächst ist es immer noch Mai, klar und kalt zieht die Morgendämmerung auf, im Treptower Park leuchten Tulpen, Spatzen lärmen im Flieder, zwischen Brandnestern flattert Wäsche, Fliegen summen in der milden Luft, fette, schillernde Fliegen, denn es sind noch nicht alle Toten begraben. In den Bombentrichtern der Reichshauptstadt biegen sich junge Birken, der Wind weht sommerlich heiß, er bringt Staub, überall nichts als feiner Sand und Staub, zerriebene Materie, in der Luft, auf dem Asphalt, Staub legt sich auf Wimpern und Haare, dringt in die Schleimhäute, pudert das Gras, das aus den Ritzen der Steine drängt, nach den letzten starken Nachtfrösten brennt die Sonne aus einem wolkenlosem Himmel, an den Rändern der Bombenkrater blühen wie eiternde Wundränder Polster von Löwenzahn und Narzissen, Bienen summen, Wespen und Hummeln schwärmen aus. Immerhin, es ist noch Leben in diesem stumpfsinnigen Schutthaufen, aus den Sandkratern quellen Büschel von Melde, Boretsch, Scharbockskraut, was Mensch ist, hat sich unter die Erde zurückgezogen, in die Katakomben unter den Ruinen, in die Bunker, Stollen, Keller, Tunnel unter der zerstörten Stadt. Praktisch denken, Särge schenken, sagt man in Berlin. Über der flachen Silhouette lastet steinerne Stille, Kaskaden aus rötlichen Ziegeln stürzen wie Brandung über aufgebogene Straßenbahnschienen, lecken in Wellen über das Kopfsteinpflaster, dazwischen bewegen sich die Stadtbewohner langsam wie auf Eisenschuhen, niemand beeilt sich, die zähe, menschenverschlingende Zeit ist zum Stehen gekommen, und über den lichtlosen Nächten wölbt sich ein sprachloses Nichts.

      An einem sonnigen Vormitttag, drei Tage nach Pfingsten, verreckte im Hinterhof des örtlichen Polizeireviers in der Nähe des Ostseehafens Flensburg das Großdeutsche Reich, es verreckte an Blutverlust, an Fäulnis, an Atemnot, es verreckte an seinen Totengräbern, es verreckte unter der Last von fünfundfünfzig Millionen toten Körpern. Von tausend Jahren waren noch gut neunhundertachtundachtzig übrig, als an diesem Morgen drei Männer – der eine in Zivil, die anderen beiden in operettenhaften Uniformen – den staubigen Dorfanger der Sonderzone Mürwik überqueren. Sie klettern auf den bereitstehenden Lastwagen und klopfen sich den Staub von den Mänteln. Zwei Stunden später treten sie durch eine niedrige Tür in den Hof des Polizeigebäudes, wo sie von einer Armada aus Fotografen und Kamerateams erwartet werden. Der Großadmiral streift im Gehen seine Lederhandschuhe über und streicht mit der Rechten über die Aufschläge seines Generalsmantels, der Generalmajor zupft an seinen Manschetten, nur der Minister, als Einziger barhäuptig, blickt routiniert in die Kameras. Mit der steifen Würde einer Feuerwehrkapelle, die Hände auf den Rücken, schreiten Speer, Dönitz und Jodl unter dem Blitzlichtgewitter der Weltöffentlichkeit mehrmals das Hofgeviert ab, bis alle Kameras den Moment festgehalten haben, in dem die geschäftsführende deutsche Reichsregierung von der Hinterbühne der Weltgeschichte abtritt. Ende der Vorstellung. Das letzte Stück eine billige Burleske, dilettantisch wie die Generalprobe eines Amateurtheaters.

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