Kösel (2017) plädiert dafür, der Intuition im Prozess Raum zu geben, und begründet dies mit einem Mangel an Wissen, das sich fünffach zeigt. Aufgrund der Komplexität, Intransparenz und Verwobenheit sind Daten oder Fakten:
1) fehlend,
2) im Übermaß vorhanden,
3) widersprüchlich,
4) unverständlich und/oder
5) nicht vertrauenswürdig.
Die Intuition ist somit beim logopädischen Handeln erwünscht und teilweise zwingend notwendig, setzt jedoch gleichzeitig eine entsprechende Fall- und eine Fachkompetenz voraus.
Es gibt eine weitere Unsicherheit des planvollen Vorgehens: Die Problemdefinition und die Problembearbeitung im bisherigen Verlauf beruht letztlich auf Daten und Texten. Mit Daten sind beispielsweise diagnostische Informationen, mit Texten sind Berichte in schriftlicher Form und mündliche Schilderungen der Ratsuchenden bzw. der Kolleginnen und Kollegen im interprofessionellen Team gemeint. Hier kann sich eine Reihe von Fehlern ergeben. Schilderungen vergangener Ereignisse sind zum Beispiel grundsätzlich mit einem Explorations- bzw. Rückschaufehler behaftet, und schriftlich Festgeschriebenes kann an Aktualität verlieren oder ungerechtfertigte Zuschreibungen enthalten. Der Terminus Rückschaufehler kommt aus der Forensik (Kriminalistik) und spielt auch in der Psychotherapie eine Rolle: Erinnerungen entfernen sich über innere Bewertungen (»Es muss für mich wohl so gewesen sein«) und äußere Erzählungen (»Doch, es war genau so«) teils massiv vom tatsächlichen Ereignis (vgl. Hermanutz 2017). Eine Grundskepsis in life-story-telling-Situationen und auch im Studium von Berichten ist demnach die Partnerin eines großzügigen Vertrauensvorschusses.
Handelnde dürfen sich also auf einen Präzedenzfall beziehen und haben gleichzeitig zu berücksichtigen, dass jeder Fall als Besonderheit zu gelten hat: Logopädinnen treffen auf Menschen
• in unterschiedlichen aktuellen Kontexten und Rollenanforderungen,
• mit verschiedenen Lern-, Beziehungs-, Resilienz- und Coping-Biografien,
• deren Problem von Phänomenen, weiteren Problemen und Kompensationen überlagert sind und
• die in verschiedenen Professionen unter einem fokussierten Blickwinkel exploriert werden.
Das Gegengewicht zum Explorations- und Rückschaufehler sind Beobachtung, Reflexion und Kommunikation.
Einen Fall bearbeiten heißt, mit den Betroffenen als Partner in einen Prozess einzutreten, der spiralförmig die Stationen
• Beobachten,
• Bedeutung bzw. Sinn geben,
• diese im Dialog absichern und Aktionen ableiten
immer neu abarbeitet.
Durch das spiralförmige Vorgehen ist es unangemessen, im Sinne von Vollständigkeit und Gültigkeit, perfektionistische Ansprüche an die Beobachtung zu stellen.
Durch das dialogische Prinzip kommt es zu einer doppelten Korrektur: Betroffene filtern ihre Beobachtungen vor dem Hintergrund ihrer Biografie, und die Therapeutin filtert die Beobachtungen vor dem Hintergrund ihres Vorwissens und ihrer Erfahrungen (
Abb. 2.4: Problembearbeitung durch das dialogische Prinzip
Die Beobachtung kann sich an folgenden Fragen ausrichten: Ist das Wahrgenommene eindeutig? Bekannt? Neu? Relevant? Womit verbunden?
Im Dialog darf somit kritisch hinterfragt, mutig vorgeprescht, beharrlich nachgefragt, verhandelt und zusammengefasst werden. Die therapeutische Verantwortung besteht darin, über das Vordergründige hinauszusehen und hinauszudenken (vgl. Schrems 2016):
• Was ist die Perspektive der Betroffenen (thinking inside)?
• Welche Kontextfaktoren bestimmen die Wahrnehmung (thinking about)?
• Welche Art von Perspektivenwechsel wäre denkbar (thinking outside)?
Basierend auf den gewonnenen Erkenntnissen können Betroffene und Therapeutin gemeinsam Ziele definieren und die Interventionen planen.
2 Theoretische Aspekte der Fallarbeit in der Logopädie
Die Praxis der Logopädie nimmt auf Theorien und Modelle Bezug.
Auf der Grundlage ethischer Prinzipien, die mit den Begriffen Wertschätzung und Einbezug beschrieben werden können, muss das geplante therapeutische Vorgehen plausibel und logisch und damit über Begründungen nachvollziehbar sein. Ethik und Logik werden für die Bearbeitung eines Falles über folgende vernetzte Kompetenzen zusammengebracht:
• Die Theoriekompetenz betrifft die Anwendung von Wissen aus den Bezugswissenschaften Pädagogik, Psychologie, Soziologie, Linguistik und Medizin sowie die Routine in der Recherche nach externer Evidenz. Zusätzlich ist ein Wissen um fachliche Fakten wie Prävalenz, Komorbidität und komplexe Einflussfaktoren im Rahmen der Symptomatik entscheidend.
• Die Beobachtungskompetenz bezieht sich darauf, Situationen allgemein und das Sprach- und Kommunikationsverhalten sowie Kompensationsstrategien der Klienten speziell zu beschreiben und einzuordnen. Die Abgrenzung von Beobachtung und Interpretation ist dabei massgeblich. Das eigene therapeutische Sprach- und Kommunikationsverhalten ist somit Gegenstand der speziellen Beobachtung. Auch die Anleitung der Klienten zur Selbstbeobachtung und dem Umgang mit Fremdbeobachtung ist Teil dieser Kompetenz.
• Die Handlungskompetenz bezieht sich auf die Umsetzung von Leitlinien, Richtlinien oder Empfehlungen für die Praxis und die Anwendung von konkurrierenden oder sich ergänzenden diagnostisch-therapeutischen Tools (Verfahren, Tests, kreative und strukturierte Methoden).
• Durch die Reflexionskompetenz gelingt die Steuerung des Prozesses, damit Transparenz und Einbezug für alle Beteiligten hinsichtlich Entscheidungen und Bilanzierungen im Prozess entsteht.
Auch Intervision und Supervision sowie Weiterbildung sind hier eingeschlossen. In einem weiteren Sinne ist auch ein berufspolitisches Engagement im Sinne der Parteinahme für Menschen mit einem vorübergehenden oder dauerhaften Nachteil zu verbuchen.
Im Rahmen der interprofessionellen Zusammenarbeit ist es günstig, wenn eine Institution eine Kultur der Reflexion lebt und dafür Zeit und Raum zur Verfügung stellt (vgl. Steiner 2018).
Die vier genannten Kompetenzen sind die Grundsäulen professionellen Arbeitens. Beushausen (2009) weist darauf hin, dass (deklaratives) Wissen im Rahmen der Theoriekompetenz meist explizit, also benennbar, während prozedurales Wissen des Handelns teils zunächst implizit sei und durch Reflexion im Laufe eines Zugewinns an Routine ebenso explizit wird. In diesem Sinne hat die Reflexionskompetenz eine gewisse Vorrangstellung. Sie bezieht sich auf
• das Bevor der Intervention (Struktur-Reflexion für die Planung),
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