Inger Gammelgaard Madsen

Blaue Iris - Roland Benito-Krimi 11


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      „Die sind wie Strauße“, wiederholte er mehrmals. „Aber es bringt nichts, den Kopf in eine Schneewehe zu stecken und so zu tun, als gäbe es da draußen keine Probleme. Irgendwann müssen sie zugeben, dass dieses Aarhus-Modell fehlgeschlagen ist. Aber dann müssen die sich natürlich auch eingestehen, dass ihre ganzen Initiativen nicht funktionieren, obwohl sie Milliarden unserer Steuergelder darauf verwendet haben, die Gegend zu sanieren. Als ob das was bringen würde!“

      „Ist es echt so schlimm, Flash? War das nicht mittlerweile eine etwas ruhigere Gegend geworden? Sind das nicht bloß …“

      „Doch, es sind bloß rivalisierende Banden, die gegeneinander Krieg führen, um sich das Vorrecht für die Drogen in der Stadt zu erkämpfen. Und wer hat gesagt, dass das gut läuft? Die Politiker und die Führung der Polizei, stimmt’s? Frag mal die normalen Beamten, die sich bald nicht mehr trauen, dort Streife zu fahren, und die Anwohner, die Todesangst haben, und ich sage dir, dass es nur noch schlimmer wird, wenn es niemand stoppt!“

      Sie erreichten das schicke Haus des Augenarztes im Egeskellet, einem attraktiven Villenviertel in Malling. Anne machte die Wagentür auf und stieg aus. In diesem Viertel waren einem die Bandenkriege in Aarhus West sicher egal. Ein eiskalter Wind öffnete ihren Mantel, sie zog ihn sofort dichter an sich und blinzelte im Wind zur Villa, die dunkel und trist in einem großen, schneebedeckten Garten lag, als ob auch sie trauerte. In mehreren der Nachbargärten hingen immer noch Lichterketten in den Bäumen. Viele entfernten sie nicht bis weit in den Februar hinein. Anne hatte selbst ein paar Nachbarn, die auf ihren Balkonen Weihnachten immer noch am Leben hielten. Familie Lykkegaard hatte sicher gar nicht gefeiert. Konnte man das, wenn die Tochter seit zwei Monaten verschwunden war?

      Vor der Haustür brannten zwei schwache Lampen mit einem gelblichen Licht. Anne drückte die Klingel und hörte leise die klassische Westminster-Melodie drinnen im Haus. Kurz darauf wurde die Tür von einer Frau in einem eleganten schwarzen Strickkleid geöffnet. Die Frisur war kurz und modern, die Haare strohblond wie die der Tochter, aber das Lächeln war aufgesetzt, als sie sie hineinbat.

      Sie stellte sich als Iris’ Mutter, Kaja Bøgh Lykkegaard, vor und ging mit ihnen ins Wohnzimmer, wo die Einrichtung für Annes Geschmack viel zu schwarz-weiß war. Da fehlte etwas. Wärme. Gemütlichkeit.

      Anne kondolierte zu ihrem Verlust.

      „Wir machen uns gerade für die Gedenkfeier in der Kirche fertig, aber das hier dauert ja sicher nicht so lange?“, schätzte Kaja Lykkegaard und sah Anne mit einer perfekt geformten hochgezogenen Augenbraue fragend an.

      Ihr Mann stellte ein Whiskyglas auf einen niedrigen Tisch neben dem schwarzen Ohrensessel aus Leder, in dem er saß, und stand auf. Er war groß und ebenfalls elegant gekleidet mit einem dunklen Jackett, schwarzem Hemd und dunkler Hose. Sie waren beide angezogen als gingen sie zu dem richtigen Begräbnis. Aber die Leiche ihrer Tochter war längst noch nicht freigegeben. Die Rechtsmedizin würde Iris sicher noch lange behalten.

      August reichte ihnen die Hand und erst jetzt bemerkte Anne den jungen Mann auf dem Sofa dahinter. Er ähnelte August in einer jüngeren Ausgabe. Er stand nicht auf, grüßte jedoch mit einem Nicken. Auch vor ihm stand ein leeres Glas auf dem Tisch.

      „Unser Sohn, Jakob“, erklärte Kaja, als ob er nicht selbst sprechen könnte.

      „Ja, es hat keinen von unsverwundert, dass Iris tot ist. Darauf haben wir uns schon seit Langem vorbereitet“, eröffnete August und lieferte damit eine Erklärung für Annes Verwunderung darüber, wie unbeteiligt sie alle waren.

      August richtete den Hemdkragen vor der Kamera.

      „Aber dass sie ermordet worden sein soll, ist sehr schwer zu akzeptieren. Das Schwein, das unserer Tochter das angetan hat, muss geschnappt und auf die härteste Weise bestraft werden, die es gibt! Heute bin ich für die Todesstrafe!“

      „Sie kann nicht ertrunken sein. Sie war eine fantastische Schwimmerin und Apnoetauchen war ihr großes Hobby. Sie konnte unnatürlich lange die Luft anhalten“, sagte Kaja und zupfte mit ausdruckslosem Gesicht an ihrer Silberkette.

      „Was soll ich in die Kamera sagen? Wir haben es ein bisschen eilig“, bemerkte August ungeduldig, und wie auf Kommando erhob Jakob sich vom Sofa und verließ das Wohnzimmer. Anne sah ihn im Flur seinen Mantel anziehen.

      „Das, was Sie gerade gesagt haben, zum Beispiel. Dass der Täter geschnappt und bestraft werden muss. Und dann könnten Sie ja noch an den Fackelumzug und die Gedenkfeier heute Abend erinnern“, schlug Anne vor und machte sich ebenfalls bereit.

      Kaja setzte sich aufs Sofa. Jetzt registrierte Anne die beiden riesigen Fotografien hinter ihr. Es waren Nahaufnahmen von extrem blauen Augen. Die Bilder hingen nebeneinander, auf jedem war jeweils ein Auge zu sehen, in einem passenden Abstand, sodass man den Eindruck hatte, dass die beiden großen blauen Augen einen direkt ansahen.

      Anne hatte noch nie so schöne Augen gesehen. Sie ging davon aus, dass es Kunst war und sie in einem Bildbearbeitungsprogramm erzeugt worden waren.

      Der Beitrag war schnell überstanden. August Lykkegaard erzählte den Zuschauern, dass die Familie nun Ruhe und Iris Frieden bekommen habe. Er dankte allen für den großen Rückhalt in Verbindung mit der Suche nach ihrer Tochter und für die großartige Unterstützung, die sie erfahren hatten. Zuletzt verlieh er seinem starken Wunsch Ausdruck, dass der Täter gefunden und hart bestraft werden möge, und erinnerte an den Fackelumzug, der am Anfang vom Nymark starten sollte und dem Weg folgen würde, den Iris in jener Nacht vor zwei Monaten gegangen sein musste, weiter über den Bredevej zur Kirche, wo die Gedenkfeier stattfinden würde. Ein Spaziergang von circa 20 Minuten.

      Während Flash zusammenpackte, konnte Anne es nicht lassen, dichter an die Bilder heranzugehen und sie näher zu studieren. In den blauen Iris konnte man jede einzelne farbige Struktur sehen. In der Mitte der schwarzen Pupille waren Sprenkel, grün wie knospende Frühlingsblätter. Anne war so fasziniert, dass sie nicht hörte, wie August sich hinter sie stellte. Sie zuckte zusammen, als er sprach.

      „Dieses Auge ist ein Wunder, oder? Es gibt kein schöneres“, sagte er hingerissen. „Die Pupille ist schwarz, weil es im Auge dunkel ist. Man blickt also direkt in die Tiefe des Auges. Nicht viele wissen das. Hier ist die Regenbogenhaut natürlich stark vergrößert, sodass man all ihre Facetten sieht, aber alle haben sie. Selbst Braunäugige wie ich. Man sieht es nicht auf den ersten Blick; es braucht das richtige Licht und starke Vergrößerung.“

      Anne drehte sich um und sah direkt in seine Augen, da er dicht hinter ihr stand.

      Sie hatte nicht bemerkt, dass er braune Augen hatte, aber nun sah sie es deutlich und versuchte unwillkürlich, die Facetten darin zu sehen. Es war schwer, weil sie so dunkel waren.

      „Sie haben auch hübsche Augen. Darf ich sie mal irgendwann untersuchen?“

      „Untersuchen?!“ Anne kam plötzlich zu sich.

      „Ja, ich erforsche das Auge, speziell die Regenbogenhaut. Ihr Zustand kann uns etwas über unsere Gesundheit erzählen und Krankheiten offenbaren. Farbe, Textur und Muster in jeder Iris sind einzigartig. Sie sind wie Fingerabdrücke, es gibt keine zwei gleichen.“

      Er nahm den Blick wieder von Annes Augen und sah ergriffen auf die Bilder.

      „Das sind Iris’ Augen. Sie hatte die schönsten der Welt, seit ihrer Geburt. So hat sie ihren Namen bekommen“, erklärte er und nun hörte Anne deutlich den Kummer in seiner Stimme.

      Sie drehte sich wieder zu den Bildern um und fühlte sich plötzlich unbehaglich dabei zumute, in die Augen eines toten Mädchens zu starren.

      „Wir müssen jetzt los“, sagte Kaja hinter ihnen schwach. Anne wusste nicht, wie lange sie dort gestanden hatte.

      August brach den Augenkontakt mit Iris nicht sofort ab; er wirkte fast hypnotisiert. Doch dann riss er sich endlich los und nickte.

      Kapitel 4

      Der flackernde Schein der Fackeln bewegte sich in der Dunkelheit den Hügel hinab wie ein langsamer Lavastrom. Der Kloß in Miras