den Strickhandschuhen und die Ohren schmerzten von dem Wind, der über die vereisten Felder fegte. Sie trug keine Mütze, die drückte nur die Haare platt, und außerdem müsste sie die in der Kirche ohnehin ausziehen.
Jetzt bereute sie, runter zur Straße gelaufen zu sein, als der Zug vorbeikam. Sie war bloß neugierig, wollte nicht teilnehmen und machte sonst eigentlich nie das, wozu ihre Mutter sie aufforderte. Ihre Mutter sollte nicht bestimmen, ob sie Iris – oder eher deren Familie – diese letzte Ehre erweisen musste. Deine allerbeste Freundin, hatte ihre Mutter in einem vorwurfsvollen Ton gesagt, dessen Zweck so offensichtlich war, ihr ein schlechtes Gewissen zu machen. Das bist du ihr schuldig. Aber Iris sah es ja nicht. Miras Blick glitt hoch in den frostklaren dunklen Himmel mit weißen Punkten von Sternen, die mit den Eiskristallen des Schnees entlang des Weges und mit den Funken der vielen Fackeln um die Wette leuchteten. Gleichzeitig blinzelte sie die Tränen weg. Vielleicht sah Iris es doch. Wer wusste das schon?
Ulla hatte ihr eine Fackel in die Hand gedrückt, als sie sie in der Dunkelheit zögernd am Wegrand stehen sah. Jetzt schlurfte Ulla neben ihr her mit bebenden Lippen und rotem, tränennassem Gesicht, in das sich der Frost verbissen hatte. Warum sie wohl gekommen war? Warum waren all diese Menschen hier gekommen? Ein unpassendes Gefühl der Eifersucht schwelte in ihr. Obwohl Iris seit zwei Monaten verschwunden war, hatte die Konkurrenz um die Beliebtheit nicht aufgehört. Im Gegenteil. Sie war gewachsen, jedes Mal, wenn das Foto von Iris’ Gesicht im Fernsehen oder auf der Titelseite der Zeitungen gezeigt worden war. Sie war dann immer als hübsches, sympathisches und aktives Mädchen mit Top-Schulnoten und Rekordergebnissen in Sport und Freitauchen bezeichnet worden. Das perfekte junge Mädchen, das keine Feinde hatte, also wer wollte ihr etwas Böses? Nie hatte Iris so viel Aufmerksamkeit bekommen. Nicht mal, als sie letzten Winter in einem See in Schweden den Wettbewerb im Freitauchen unter dem Eis gewonnen hatte. Mira musste sich übergeben. Hier lief sie und war neidisch auf Iris, die tot war. Ermordet.
In der ersten Woche hatte Mira geglaubt, dass Iris das Ganze inszeniert hätte, um den Wettbewerb zwischen ihnen beiden zu gewinnen. Sie schreckte vor nichts zurück, um sich selbst und andere herauszufordern. Aber als die Wochen verstrichen, kamen ihr Zweifel. So lange würde Iris nicht ohne ihre Familie aushalten. Besonders ihren Bruder Jakob, der sie krankhaft vergötterte, eine Verehrung, die Iris schamlos ausnutzte. Jakob tat Mira leid, gleichzeitig beneidete sie diese Liebe. Sie selbst hatte nur eine bescheuerte Babyschwester, wünschte aber, sie hätte stattdessen einen großen Bruder, der sie beschützen konnte, wie Jakob Iris beschützt hatte. Ihre Wangen brannten, wenn sie an ihn dachte. Sie hatte Iris damit aufgezogen, in ihren Bruder verliebt zu sein, dann wurde Iris völlig hysterisch, als ob sie ihn besäße.
Die erste Begegnung mit Iris tauchte in ihren Gedanken auf, die verzweifelt vor der Wirklichkeit zu flüchten versuchten. Sie hatte gerade an der Askholt Privatschule angefangen und kannte niemanden. Iris war die Erste, die auf sie zukam und sie in die Regeln einwies. Alle Mädchen schauten zu Iris mit den schönen blauen Augen und den glänzenden, strohblonden langen Haaren auf. Sie wollten wie sie sein und mit ihr gesehen werden. Doch Iris wählte ihre Favoriten selbst und man musste es sich verdienen, zu ihnen zu gehören. Mira lechzte nach dieser Anerkennung. Nichts anderes war von Bedeutung. Sie hatten My Master gespielt, ein Spiel, das Iris erfunden hatte. Es fand in Iris’ perfektem Zimmer statt, das ihr alle missgönnten. Josefine und Frederikke waren da und und zwei Jungs-Oliver aus ihrer Klasse und Marius, der in eine höhere Klasse ging. Iris kannte ihn vom Kunstkurs und außerdem war er mit Oliver befreundet. Mira wusste nicht, warum sie eingeladen waren. Vielleicht, weil Iris in Oliver verliebt war. Er war seitdem in die Gang aufgenommen, wie sie ihre geschlossene Clique nannten, obwohl Iris anfangs bestimmt hatte, dass darin nur Mädchen sein sollten. Das hatte Iris’ Erfindung gefährlicher gemacht, als ob sie den Jungs irgendetwas beweisen musste. Das Spiel lief darauf hinaus, dass einer von ihnen per Los zum Master gewählt wurde. Der Master hatte das Recht, über denjenigen zu bestimmen, dessen Name aus einigen Zetteln, die Iris geschrieben und in eine Strickmütze geschüttet hatte, gezogen wurde. Wenn man seinen eigenen Namen zog, knüllte man den Zettel zusammen und warf ihn in den Papierkorb, der in zwei Meter Entfernung stand. Wenn man nicht traf, hatte der Master eine ganze Woche lang die freie Verfügung über den Ausgewählten. Natürlich war Iris Master an dem Tag, als Mira ihren eigenen Namen zog. Iris hatte sie lange angesehen, und Mira hatte der Ausdruck in den blauen Augen nicht gefallen. Sie war nervös geworden und hatte den Papierkorb verfehlt. Als der zusammengeknüllte Zettel weit weg vom Mülleimer landete, hatte sie das schreckliche Gefühl beschlichen, dass das folgenschwer werden würde.
Mira kehrte abrupt in die Gegenwart zurück, als Ulla eine tröstende Hand auf ihren Arm legte und sie spürte, dass ihre Tränen liefen. Irritiert wischte sie die Wangen mit dem Handschuh trocken und schielte nach unten zu Ulla, die ihr nur bis zur Schulter reichte. An ihrer Stelle wäre sie nicht hergekommen und hätte geweint. Ulla gehörte nicht zur Gang. Vielleicht sah sie das jetzt als eine Möglichkeit. Aber Iris war nicht die Einzige, die sie nicht in der Clique haben wollte. Ulla war einfach unbeliebt. Sie war fett, schielte, stotterte, trug unvorteilhafte Klamotten, hatte eine unmoderne Brille und kein iPhone. Gerüchten zufolge hatte ihre Familie Weihnachtshilfe bekommen. Mira wusste nicht, ob das stimmte. Ihr Vater hatte geschnaubt, als sie im Fernsehen darüber berichtet hatten, dass immer mehr Leute Hilfe brauchten, um Weihnachten zu bewältigen. Er nannte sie Schmarotzerärsche und Parasiten und betonte verärgert, dass sie auf Kosten seiner hart verdienten Steuergelder Weihnachten feierten und einfach keinen Bock hätten, selbst genug Geld zu verdienen, weil es genauso in Dänemark sei – dass alle hinten und vorne Hilfe bekämen. Er selbst bekam keine bei der Möbelfabrik und es sei so gut wie unmöglich, Arbeitskräfte zu finden, behauptete er.
Mira befreite sich von Ullas Hand, ließ den Blick über die Landschaft schweifen. Die Kälte drang von dem vereisten Asphalt durch die Sohlen und machte die Füße gefühllos. Waren sie nicht bald bei dieser Kirche?
Die Leute in der Stadt hatten nach Iris gesucht in dichten, langen Reihen, die langsam durch die Felder und Wälder der Umgebung gingen. Sie hatten ihren Namen gerufen. Polizeihunde wurden eingesetzt. Taucher hatten in Mooren und Seen gesucht. Schnake, die Sportlehrerin an der Askholt, hatte den Fackelzug und den Gedenkgottesdienst in der Kirche gemeinsam mit Iris’ Eltern organisiert. Iris sei ihre beste Schülerin gewesen, hatte sie einer Journalistin vom Lokalfernsehen gegenüber geäußert, als sie in den Nachrichten von der Veranstaltung berichteten. Nun, da Iris nicht mehr da war, musste es ja sie, Mira, sein, die diesen Platz einnahm. Natürlich nicht beim Tauchen, aber in allen anderen Sportdisziplinen.
„Das G…G…Ganze wird a…a…aufgenommen fürs F…F…Fernsehen“, stotterte Ulla bewegt, den Blick auf ihre Füße mit den abgenutzten, hässlichen Stiefeln gerichtet, die versuchten, auf dem spiegelglatten Weg Halt zu finden.
Mira hatte die Journalistin von TV2 Ostjütland schon gesehen, die auch Schnake interviewt hatte. Sie gesellte sich zwischendurch zu der Gruppe und sprach mit denen, die sich äußern wollten, während der Bodybuilder-Typ filmte und Kaugummi kaute.
Mira zog sich aus der Gruppe zurück, als die Journalistin in ihre Richtung steuerte. Sie wollte nicht ins Fernsehen und schon gar nicht mit Ulla. Was würden die anderen aus der Gang denken, wenn sie das sähen? Waren sie auch hier? Sie hatte keinen Einzigen von ihnen gesehen.
Die Journalistin sprach mit Ulla, die weinend und stotternd losplapperte. Was konnte die schon erzählen? Was wusste sie überhaupt über Iris? Die Eifersucht kribbelte wieder unter der Haut.
Mira war zwischen dem Ehepaar gelandet, dem die Bäckerei gehörte. Sie wusste nicht mal, wie sie hießen. Die Bäckerin hatte rote Augen unter der Pelzmütze und knüllte ein Taschentuch in einem schwarzen Skihandschuh. In dem anderen Arm hing ihr Mann, der ein ganzes Stück älter war. Es fiel ihm schwer, fest auf dem Eis zu stehen, und er traf die ganze Zeit beinahe andere mit seiner Fackel.
„Das ist so tragisch“, schluchzte die Bäckerin. „Warst du nicht mit Iris unterwegs, als sie verschwand?“
Mira nickte. „Wir hatten ein Taxi genommen, aber Iris ist ja ausgestiegen, und …“
„Wieso hast du das zugelassen? Warum hast du sie nicht bis nach Hause begleitet? Wie konntest du sie allein gehen lassen?“