Will Berthold

Die Frauen nannten ihn Charly


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und nutze den Abend, seine vorläufige Endgültige zu präsentieren. Tisch II kolportierte, daß es sich um eine blutjunge rumänische Zigeunerprinzessin handle; bei Tisch III war sie zur amerikanischen Dollarmillionärin geworden, und zuletzt erfuhren Petra, Cynthia und Julia, Charly und seine Auserwählte seien sogar von einem echten Bischof getraut worden.

      »Glaubst du das?« fragte Petra.

      »Den Bischof würde ich ihm schon abnehmen«, erwiderte Julia. »Aber nicht die Ehe. Er hat immer einzelne Damen hintergangen, weil er allen treu sein wollte.«

      Sie lachten; der Kummer von einst war zur Episode geworden, Charlys Unverfrorenheit zum Witz.

      »Er sagt immer, er fürchte nur drei Dinge im Leben«, erklärte die reizvolle Julia, der die kurzgeschnittenen Haare ausgezeichnet standen. »Angeborene Verschwendungssucht –«

      »– sture Gesetze«, ergänzte Petra.

      »Und weibliche Eifersucht«, schloß die Amerikanerin.

      Sie lachten alle drei – sie gefielen einander.

      Der Stellvertreter des Gastgebers bat zum Büfett. Er hatte sich entschlossen, die Überraschung des Abends bis nach dem Dinner aufzuschieben, da sie sich den meisten auf den Magen schlagen mußte. Die Gäste standen Schlange; sie griffen beherzt zu. Der Kalorienterror war noch nicht in Mode, und die wenigsten brauchten nach den Hungerjahren um ihre Figur zu fürchten.

      In vierzehn Tagen würde das ereignisreiche Jahr 1948 zu Ende gehen. In Bonn tagte der Parlamentarische Rat, um die Verfassung für die künftige Bundesrepublik auszuarbeiten. Die Währungsreform, an der sich die Sowjets – trotz Einladung ihrer früheren Verbündeten – nicht beteiligt hatten, beendete den Traum von der Einheit Deutschlands und füllte die leeren Regale in den Geschäften bis zum Bersten. Die Lebensmittelbewirtschaftung war nur noch ein Feigenblatt auf der Brieftasche.

      Im Gegenzug strangulierten die Russen Berlin, schalteten der tapferen Stadt den Strom ab, blockierten den Güterverkehr. Die drei Westsektoren der früheren Reichshauptstadt mußten aus der Luft versorgt werden. Ununterbrochen starteten die »Rosinenbomber«; an einem Rekordtag schafften 896 Flugzeuge 7000 Tonnen Nahrungsmittel über die Luftbrücke nach Berlin. Trotzdem stellte sich die Bevölkerung die bange Frage, wie lange die Alliierten die Versorgung aus der Luft noch durchstehen würden.

      Mehr als eineinhalb Millionen Kriegsgefangene befanden sich noch im Gewahrsam der Sieger. 750 deutsche Fabrikanlagen waren demontiert worden, aber auch anderswo hatte man Sorgen. Während die DM zum Siegeszug ansetzte, mußten der französische Franc und die italienische Lira abgewertet werden.

      Der Marshallplan lief an. Für das erste Jahr waren 4875 Millionen Dollar für das amerikanische Hilfsprogramm vorgesehen. Die Zeit war hart, der Westen rückte zusammen. Mitunter wurden die Sorgen übermächtig, aber es gab auch Lichtblicke: Die Frauen waren eher feminin als feministisch, die rechtschaffenen Buchhalter wurden noch nicht durch seelenlose Computer ersetzt, es gab noch keine Gammler, Fixer, Rocker, keine Punks, Spontis und Chaoten, keine Massenarbeitslosigkeit und keine Geldwaschanlagen für nimmersatte Politiker. Die Roten waren eher rosarot, und Grün war eine Farbe und keine politische Richtung; saurer Regen, Flugzeugentführungen, radioaktive Verseuchung, Retorten-Babies, Herzverpflanzung und Gen-Manipulation gehörten noch in die Horrorkammer der Zukunft.

      Am langen Büfett kam es zu kurzen Gesprächen.

      »Wenn Charly eine Erbschaft gemacht hat, dann bringt er sie jedenfalls heute abend durch«, sagte Staatsanwalt Nimm zu dem Bankier. »Oder hat er einen Fischzug gelandet und ruiniert sich wieder einmal?«

      »Er ist ein routinierter Selbstruinierer«, erwiderte der Mann von Geld. »Aber mir ist darüber nichts bekannt. Und ich führe ja schließlich seine Konten.«

      »Alle?«

      »Die überzogenen«, versetzte der Privatbankier lachend. »Aber ich will das Bankgeheimnis nicht verletzen.«

      Der Andrang der Wartenden wurde noch größer, es gab einen Stau.

      »Soll ich Ihnen etwas holen, Frau Gräfin?« fragte Jimmy höflich.

      »Salat und etwas mageres Fleisch«, erwiderte sie. »Nicht viel und nichts anderes, bitte.«

      Er erhob sich sofort. Erleichtert, weiterer Erörterung des seinerzeitigen Reinfalls zu entkommen, prallte er mit Gerber zusammen.

      »Schon wieder raus?« fragte der Kripobeamte taktlos.

      »Ja«, entgegnete Jimmy, »und zwar diesmal für immer und ewig.«

      »Also mindestens für sieben Monate und drei Wochen – nutzen Sie die Ewigkeit«, spottete der Mann vom Dezernat zur Bekämpfung der Intelligenzdelikte. »Hat Ihr Freund Charly heute abend eigentlich etwas vor?« fragte er.

      »Das weiß ich nicht«, versetzte Jimmy. »Und wenn ich’s wüßte, würde ich es Ihnen nicht auf die Nase binden.«

      Der Bulle ging an das Büfett, häufte auf seinen Teller zielstrebig Delikatessen, die es in keinem Beamtenhaushalt gab, selbst an den höchsten Feiertagen nicht: Kaviar, Lachs, Salm, Hummer, getrüffelte Gänseleber, Bündnerfleisch, Carpaccio und vieles, was er nicht kannte, dazu raffinierte Saucen, delikate Marinaden, pikante Salate.

      Die Kenner aus Finanz-, Regierungs- und industriekreisen erörterten, ob »Humpelmayer« das Büfett erstellt habe oder »Schwarzwälder«. Sie bedienten sich bescheiden: Einmal hatten sie es öfter, und dann achteten sie bereits auf ihre Gesundheit, gewillt, den Tag, an dem in schwarzumrandeter Anzeige versichert wurde, wie unvergeßlich der teure Verblichene bleiben werde, möglichst lange hinauszuschieben. Ausgerechnet die Einnehmer hoher Diäten hielten sich als erste an die Diät.

      Um 22 Uhr 30 war es so weit: Dr. Kündig erhob sich und klopfte an sein Glas. Er hatte es schwer, sich gegen die ausgelassene Stimmung durchzusetzen. Die Gäste hatten dem Schampus so lebhaft zugesprochen, daß die Marke gewechselt werden mußte, nicht jedoch die Qualität. Endlich wurde es ruhiger. Selbst den Beschwipsten fiel jetzt die ernste Miene des Gastgeber-Stellvertreters auf – aber Juristen müssen ja immer ihr feierliches Brimborium abziehen.

      »Verehrte Ehrengäste«, sagte der Rechtsanwalt mit einer knappen Verbeugung zum Tisch der Wirtschaftsgrößen, an dem auch der Staatsanwalt und der Kripobeamte Platz genommen hatten. »Liebe Freunde des Gastgebers«, ergänzte der Bevollmächtigte die Anrede. »Zunächst noch einmal meinen Dank für Ihr Kommen. Mein Mandant hat auf Ihr Erscheinen großen Wert gelegt und mich sogar gebeten, auf Ihrer Zusage mit Nachdruck zu bestehen, was glücklicherweise gar nicht nötig war.« Er wirkte sachlich. Nur sein linkes Auge zwinkerte nervös. »Sie alle stehen in einer freundschaftlichen, geschäftlichen oder amtlichen Beziehung zu dem Mann, der uns heute so verwöhnt. Er ist der Regisseur dieses Abends, und ich folge nur seinen Anweisungen, sowohl als sein Freund wie als sein Rechtsvertreter.«

      Die Nebengeräusche verstummten allmählich. Die letzten Genießer legten das Eßbesteck beiseite, verschoben den Nachtisch auf später.

      »Leider kann er nicht unter uns sein – und warum das der Fall ist, wird er Ihnen nun selbst erklären.« Dr. Kündig nickte den Musikern zu.

      Sie zogen die Schutzhaube von einem unförmigen Gerät, verbanden es mit ein paar Handgriffen mit dem Verstärker, an den die Lautsprecher angeschlossen waren. Tonbandmaschinen waren im Nachkriegsdeutschland noch neu und mußten von den Amerikanern ausgeliehen werden.

      »Okay, Herr Doktor«, rief der Schlagzeuger, und der Rechtsanwalt trat an das Gerät heran und ließ das Band von der Spule. Sie drehte sich; zuerst war nichts zu hören, dann kamen Geräusche und schließlich Charlys Stimme, klar, deutlich, ein wenig akzentuierter, als er sonst zu sprechen pflegte. Vermutlich hatte er für die Aufnahme lange geprobt.

      »Also, ihr Lieben«, begann er. »Ich kann euch gar nicht schildern, wie gerne ich jetzt unter euch wäre – aber das ist leider unmöglich, und ihr werdet auch gleich erfahren, warum wir nie mehr beisammen sein werden.« Die Spule drehte sich ein paarmal tonlos, und bevor Charlys Stimme wieder da war, starrten alle seinen Sachwalter an. Er war der einzige, der den Inhalt des Tonbands kannte;