Moritz Küpper

Es war einmal ein Spiel


Скачать книгу

gut 50 Prozent gestiegen.

      „Letztendlich ist der Fußball heut zutage ein Geschäft“

      Es sind viele Zahlen, aussagekräft ige Zahlen mit vielen Nullen, die im Gespräch durch die Luft fliegen. Doch auch die Prozesse rund um Nielsen Sports beziehungsweise dessen Vorgängerunternehmen Repucom sind symptomatisch für die angesprochene Entwicklung: Denn in den Wochen rund um diesen warmen Sommertag im Juli 2016, an dem Lehmann über die gesellschaft liche Bedeutung des Fußballs berichtet, wird Repucom übernommen. Die einst schwarz-grüne Farbkombination des Unternehmens verschwindet in den nächsten Wochen, stattdessen dominiert künft ig Blau. Es ist eben die Farbe von Th e Nielsen Company, dem neuen Besitzer und Marktführer bei Marketing- und Medieninformationen. Niederlassungen in über 100 Ländern, rund 40.000 Mitarbeiter, der Jahresumsatz 2014 betrug 6,3 Milliarden Dollar. Was einst im Jahr 1984 als „Sport+Markt“ begann, als ehemalige Studenten der Sporthochschule Köln eine Firma gründeten, mit der sie Daten im Sport-Sponsoring und -Werbemarkt erheben wollten, endet damit in einem globalen Konzern: Im Jahr 2010 von Repucom übernommen, wurde aus der einstigen Studenten-Gründung eines der international führenden Unternehmen im Bereich Sportbusiness. Und nun – sozusagen als nächster Schritt – wird es von dem weltweit führenden Informations- und Marktforschungsunternehmen übernommen. Dort gehört Nielsen Sports zur Abteilung Nielsen Entertainment. Unterhaltung also. Auch für Lehmann ist diese Entwicklung logisch: „Letztendlich ist der Sport – und in Deutschland vor allem der Fußball – heutzutage ein Geschäft.“

      Lehmanns Zahlen, aber auch die Firmengeschichte seines Arbeitgebers stehen damit prototypisch für eine Entwicklung, in der sich der Fußball von seinem Status als Sportart entkoppelt hat und stattdessen zu einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen geworden ist. Fußball ist Small-Talk-Thema Nummer eins, gilt als der letzte Kitt der Gesellschaft. 90 Minuten lang sind alle gleich: egal ob reich oder arm, jung oder alt, männlich oder weiblich. Die Nationalmannschaft ist eine der Instanzen, der die Kraft nachgesagt wird, dem wiedervereinigten, durch Zuwanderung geprägten Land eine gemeinsame Identität zu geben – wie einst beim „Wunder von Bern“, der „wahren Geburtsstunde der Bundesrepublik“, so der Politologe Arthur Heinrich.

      Dabei war und ist das Spiel eigentlich recht simpel: ein Platz, ein Ball, 22 Spieler. Seit den Anfängen im 19. Jahrhundert haben sich die Spielregeln so gut wie kaum verändert. Zumindest auf dem Platz. Doch abseits des Rasens ist aus dem Fußball eben ein gesellschaft-licher Faktor geworden, der seinesgleichen sucht und dessen Einfluss sich mittlerweile in (fast) allen Bereichen finden lässt: Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Justiz, Medien, Gesellschaft, Kultur, Entertainment, Tourismus, sogar innerhalb der Sprache.

      Wenn die deutsche Nationalmannschaft das Endspiel um die Weltmeisterschaft erreicht, fliegen Bundespräsident und Bundeskanzlerin zu dem Spiel ein, obwohl gemeinsame Auslandsbesuche der beiden Staatsorgane – nach Auskunft des Bundespräsidialamtes – eigentlich vermieden werden sollen. Das war nicht nur bei der WM 2014 der Fall, sondern auch bei der WM 2002 in Japan, als der damalige Bundespräsident Johannes Rau sowie der seinerzeitige Bundeskanzler Gerhard Schröder nach Yokohama flogen. Weitere gemeinsame Auftritte der Staatsspitze im Ausland in der jüngeren Vergangenheit? Fehlanzeige.

      Wenn Nationalspieler Mesut Özil ein paar Sätze bei Facebook postet, erreicht er bei seinen gut 31 Millionen Likes knapp fünfzehnmal so viele Menschen wie zeitgleich Bundeskanzlerin Merkel mit 2,2 Millionen Fans auf diesem Social-Media-Kanal.

      Wenn Parteien einen Mitgliederschwund beklagen und alle im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien (CDU, CSU, SPD, Linke, Bündnis 90/Die Grünen) zusammen auf 1,3 Millionen Mitglieder kommen, kann der DFB auf steigende Zahlen und imposante 6,8 Millionen Mitglieder verweisen.

      Wenn es in Deutschland einen Pilotenstreik gibt, kann der FC Bayern München trotzdem pünktlich fliegen, wie beispielsweise nach seinem Champions League-Auswärtsspiel im April 2014 in Manchester: „Damit sie weiter trainieren können und uns im Rückspiel keine Schande machen“, kommentierte der Leiter des Lufthansa-Flugbetriebs, Werner Knorr, damals.

      Wenn der Präsident des FC Bayern München, Uli Hoeneß, wegen Steuerhinterziehung in München vor dem Landgericht steht, übersteigen die 545 Akkreditierungsanfragen der Journalisten deutlich die 324 Journalisten-Gesuche an dasselbe Gericht beim Prozess gegen den sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund (NSU), der zehn Menschen umgebracht haben soll.

      Wenn sich der Kapitän der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, Michael Ballack, im Vorfeld der WM 2010 verletzt, sendet die ARD einen „Brennpunkt“ nach der Tagesschau – wie sonst nur bei Terroranschlägen, Naturkatastrophen oder dem Rücktritt des Bundespräsidenten.

      Wenn Vorstandsvorsitzende von Dax-Konzernen auf ihren Bilanzpressekonferenzen ein schlechtes Ergebnis verkaufen müssen, dann heißt es, dass „wir in der zweiten Halbzeit aufholen“ müssen (Telekom-Chef Timotheus Höttges). Denn: Man wolle ja „in der Champions League spielen“.

      Wenn heutzutage Professoren auf wissenschaftlichen Tagungen ernsthaft darüber debattieren, ob „Fußball als Religionsersatz“ diene, und diese Frage bejahen, wenn es vereinseigene Friedhöfe sowie Gottesdienste gibt und das Maskottchen des 1. FC Köln, der Geißbock Hennes, in den Stein des Kölner Doms gemeißelt ist, erinnert sich kaum noch einer daran, dass sich bei der WM 1954 der Rundfunk-Reporter Herbert Zimmermann für seine Wortwahl „Turek, du bist ein Fußball-Gott“ noch rechtfertigen musste.

      Und wenn das renommierte Frankfurter Naturmuseum Senckenberg seine Besucher darüber abstimmen lässt, wessen Gehirn in 50-facher Vergrößerung zu einer Begehung nachgebaut werden soll, gewinnt nicht der weltbekannte Physiker Albert Einstein, der Inbegriff der Intelligenz, sondern Karl-Heinz Körbel. Seines Zeichens Bundesliga-Rekordspieler, einst Verteidiger bei Eintracht Frankfurt, dessen Gehirn durch unzählige Kopfbälle erschüttert wurde. Er bekam gleich doppelt so viele Stimmen wie Einstein.

      Wolfgang Holzhäuser schüttelt den Kopf, wenn er solche Vergleiche hört: „Die gesellschaftliche Beachtung des Fußballs ist zu hoch“, sagt er. „Ob der Fußball will oder nicht: Er ist mittlerweile eine Plattform, auf der sich alle tummeln.“ Holzhäuser sitzt in seinem Haus im Westen des Rheinisch-Bergischen Kreises. Es ist der Tag nach dem zweiten Vorrundenspiel der deutschen Fußball-Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft 2016 gegen Polen. Rund 26 Millionen Zuschauer in Deutschland verfolgten das dröge 0:0-Unentschieden. Holzhäuser kommt aus dem Kopfschütteln nicht mehr raus. Ein sportlich fast bedeutungsloses Gruppenspiel wird zum Straßenfeger: „Ich habe mich heute Morgen, als ich das gelesen habe, ernsthaft gefragt: Wissen die Leute eigentlich, was sie sich da angetan haben?“ Der ehemalige Geschäftsführer von Bayer 04 Leverkusen guckt etwas ratlos. 26 Millionen TV-Zuschauer in der Vorrunde? Solche Zahlen sind mittlerweile Standard in Deutschland. Holzhäuser ist wahrlich kein Fußball-Skeptiker. Er gehört vielmehr einer Generation von Männern an, die den Fußball in Deutschland groß gemacht haben. Wie Heribert Bruchhagen. Auch der ehemalige Manager von Schalke, dem Hamburger SV, Arminia Bielefeld und Eintracht Frankfurt, neuerdings Vorstandsvorsitzender des HSV – und einst sportlicher Gegenspieler Holzhäusers –, ist angesichts dieser Entwicklung fast sprachlos. „Früher haben von den Zuschauern mindestens 60 bis 70 Prozent den kicker gelesen und selbst gespielt, die Fachspezifik des Publikums war hoch“, sagte Bruchhagen im Sommer 2016. „Diese Zahlen haben sich verändert. Heute ist der Fußball mehr erlebnisorientiert und emotional.“ Mit Bruchhagen hat Holzhäuser viele Auseinandersetzungen ausgetragen, hier aber stimmt er ihm ausdrücklich zu.

      Holzhäuser nennt sich selbst ein Kind der Bundesliga. „Des Profi-fußballs“, schiebt er nach. Man könnte auch sagen: Er ist einer der Väter der Bundesliga, wie wir sie heute kennen. Denn Holzhäuser war maßgeblich an der Gründung der DFL sowie der Einführung der Kapitalgesellschaft en im Profifußball beteiligt. Dass aus dem Bundesliga-Klub mit dem Zusatz „e.V.“, dem eingetragenen Verein, eine GmbH oder eine Aktiengesellschaft wurde, ist mit sein Werk. Genauso wie die sogenannte „50+1-Klausel“, nach der der Verein weiterhin das Sagen in den Kapitalgesellschaft en haben soll.

      All das sind große Weichenstellungen im deutschen Fußball gewesen, deren Anfänge jedoch auf einen Arbeitsamtbesuch im Jahr 1975 zurückgehen: Nach dem Abschluss seines BWL-Studiums erkundigte sich Holzhäuser dort