im katholischen Gymnasium mit sich brachte und die nun in den Stress der Ungewissheit mündet. Nach dem Taufschein ihres Sohnes habe man sie gefragt. War das ernst gemeint? War es Ironie?
Ein aus einer deutschen Familie stammenden Anwärter hat auf die Frage, warum er unbedingt nach Sankt Ansgar wolle, geantwortet: »Weil ich mit Beritan zusammenbleiben will. Beritan ist mein bester Freund.« – Könnte das als Kumpanei ausgelegt werden, die an einer auf Höchstleistung gepolten Schule unerwünscht ist? Gehört, andererseits, der Zusammenhalt nicht zu den christlichen Werten?
»Vergiss den Teig nicht!«, ermahnt Fetiye eine die Dribblings ihres Sohnes beobachtende deutsche Mutter. »Und denk du an das Waffeleisen!«, erwidert die junge Frau. »Auch das Backpulver dürfen wir nicht vergessen«, fügt sie hinzu.
Plötzlich erfasst mich eine irritierende Überlegung: Du hast während deiner Jahre als Fernsehkorrespondent über Bürgerkriege, Volksaufstände, Erdbeben und Feuersbrünste berichtet. Du hast Präsidenten interviewt, Kanzler und Künstler. Du hast Dokumentationen auf dem Himalaya gedreht, auf den südpazifischen Atollen, im australischen Outback, am Gelben Meer. Und nun notierst du dir auf diesem Trainingsgelände in Hamburg-Eimsbüttel hektisch, fast schon übereifrig, die banalsten Dialoge. Hast du die journalistischen Maßstäbe verloren? Keineswegs, beruhige ich mich. Denn indem die beiden aus so unterschiedlichen Verhältnissen stammenden Frauen sich völlig unverkrampft über Alltägliches verständigen, verkörpern sie nichts Geringeres als den Idealzustand interkulturellen Zusammenlebens: die Normalität. Und sie ist ein Wert, den auch ich als Journalist häufig unterschätzt und ignoriert habe.
Spätestens am kommenden Freitag, also in vier Tagen, trifft das Elitegymnasium, wie man Fetiye mitteilte, seine Entscheidungen. Eltern, deren Kind den Sprung nach Sankt Ansgar nicht schafft, erhalten bis zum Abend dieses Tages telefonisch Auskunft. Die Auserwählten werden in der Woche danach per Brief informiert. Es ist ein Verfahren, das an den Nerven zerrt – auch an meinen.
Freitag, 28. Februar, vormittags. Fetiye schüttelt den Kopf, als ich sie an ihrem Stand frage, ob sich das Direktorium von Sankt Ansgar schon gemeldet hat. »Gott sei Dank, nicht. Normalerweise freut man sich ja über einen Anruf. Aber heute schrecke ich jedes Mal zusammen, wenn das Telefon klingelt.«
Freitagnachmittags. Das Telefon klingelt. Wenn das Sankt Ansgar ist, bedeutet das: Es wird nichts mit der Eliteschule. Bevor sie den Hörer abnimmt, beruhigt Fetiye sich (und mich) mit vorauseilendem Trost: »Bei diesem Zeugnis gibt es für Beritan genügend Alternativen. Es muss ja nicht eines der besten Gymnasien Hamburgs sein.« Aber nicht Sankt Ansgar ruft an, sondern eine Kundin, die eine Bestellung aufgibt.
Freitag, früher Abend: das Telefon ruht, gleichzeitig Hoffnung und Ängste verbreitend, in seiner Fassung. Zwei, maximal drei Stunden noch – dann wird Feierabend sein in Sankt Ansgar. Aber kann man denn automatisch mit einer Zusage rechnen, wenn bis heute Abend keine Absage eintrifft? Ich lenke Fetiye ab, indem ich eine Informationslücke fülle. Was ist eigentlich aus ihrem Vater geworden, dem Hirten, der auszog, um seinen Traum vom eigenen Trecker zu verwirklichen?
Hüseyin Yldirim kehrt Ende der neunziger Jahre, also drei Dekaden nach seinem Aufbruch nach Deutschland und sechs Jahre nach einem verheerenden Brandanschlag auf ein von Türken bewohntes Haus in Mölln, zurück in den Osten Anatoliens. In seinem Heimatstädtchen Erzincan bezieht er mit seiner Frau eine kleine Wohnung und holt, aus reiner Freude am Lernen, die Realschulreife nach. Als er an Leberkrebs erkrankt, entschließt er sich zu einer Transplantation. Im Hamburger Universitätskrankenhaus, wo man auch seiner Tochter das Leben rettete, begibt er sich in die Obhut der Ärzte. Seine Verwandtschaft beruhigt er mit einer schlichten Gleichung: Ich war in Deutschland immer fleißig und ehrlich, nun wird Deutschland gut zu mir sein. Der Chirurg, der ihn erfolgreich behandelt, sagt: Es ist auch dieser Optimismus, der ihn geheilt hat.
Und der Trecker? Was wurde aus dem Trecker?
»So richtig benutzt«, sagt Fetiye, die noch immer auf das Telefon starrt, »hat mein Vater ihn nie. Aber weggeben wollte er ihn auf keinen Fall. Als mein Onkel den Trecker mal im Sommer benutzte, hat er ihm den Schlüssel wieder weggenommen. ›Du behandelst ihn nicht gut genug‹, hat er ihm vorgeworfen.«
»Und wo steht der Trecker jetzt?«
»In einer Hütte, die mein Vater extra für ihn gebaut hat. Manchmal macht er die Tür auf, sieht sich den Trecker an und macht die Tür wieder zu.«
»Wird er ihn eines Tages verkaufen?«
»Nie. Wir überlegen jetzt schon, wer in unserer Familie würdig genug ist, um ihn eines Tages zu erben.«
Dienstag, 1. Februar, Fetiyes Geburtstag. Gegen zwölf Uhr mittags – high noon in der Gustav-Falke-Straße – parkt der Briefträger sein Fahrrad vor dem Obst- und Gemüseladen. Beim Offnen des Umschlags, den er ihr überreicht, zittern Fetiye die Hände. Gymnasium Sankt Ansgar steht auf dem Briefkopf. Fetiye liest, liest, liest – und hebt den Daumen. Beritan hat es geschafft.
Freitag, 13. Mai 2011. Fetiye und ihr Mann Önder bitten mich, als ich, voll bepackt mit Tüten und Taschen, aus dem U-Bahnschacht meiner Wohnung zustrebe, in ihren Laden. »Wir haben ein Problem«, sagt meine Nachbarin. »Vielleicht können Sie uns helfen.«
Ist den Kindern etwas passiert? Wollen sich die türkischen Eheleute, was für mich zumindest eine inhaltliche Katastrophe wäre, zurückziehen aus meinem Buchprojekt? Brauchen die beiden einen Kredit für ihr Geschäft? Bevor ich mich der nächsten Hiobs-Variante ausliefere, erlöst mich Fetiye, indem sie ihrer Erklärung ein Lächeln vorausschickt, das mütterlichen Stolz signalisiert. »Vor wenigen Minuten«, sagt sie, »hat ein Jugendtrainer des HSV bei uns angerufen.«
»Und was wollte er?«
»Er hat gesagt, dass er Beritan schon seit längerer Zeit beobachte und dass er vor allem von seiner Laufstärke beeindruckt sei. Aus diesem Potential könne man etwas machen.«
»Und werden Sie darauf eingehen?«
»Wenn wir das tun, bedeutet das: Beritan muss dreimal die Woche jeweils zwei Stunden draußen am Stadtrand trainieren und sich fast jedes Wochenende für ein Turnier bereithalten. Na ja, und die katholische Schule, auf die er nun wechselt, stellt auch höchste Anforderungen an ihn. Wir wissen nicht, wie wir uns entscheiden sollen ...«
»Was glauben Sie: Wie würde er sich selbst entscheiden?«
Fetiye, die ins Zentrum eines Hochleistungs-Konfliktes geratene türkische Mutter, gibt ihre Antwort mit den Augen. Natürlich würde Beritan sofort bei seinem Lieblingsverein trainieren, sagt ihr Blick. Und mit der Ratlosigkeit, die danach aus ihren Gesichtszügen spricht, nimmt sie mich, den Nachbarn, Kunden, Autor und Fußballfan, in die Pflicht.
Eingerahmt von Apfelsinenkisten, Flaschenbatterien und Gemüsezwiebeln philosophiere ich an diesem lauen Nachmittag im Mai mit deutscher Tiefgründigkeit vor mich hin: »Wem der Schöpfer, sei es Allah, Buddha oder der Zufall, ein ganz besonderes künstlerisches oder sportliches Talent in die Wiege legte, der ist verpflichtet, es zu nutzen – und zwar nicht nur zur eigenen Erbauung, sondern auch zum Segen der Gesellschaft.«
»Haben Sie einen konkreten Vorschlag?«, fragt mich Fetiye mit spürbarer Ungeduld.
»Versuchen Sie es! Versuchen Sie, herauszufinden, ob sich Schule und Fußball miteinander vereinbaren lassen.«
Samstag, 14. Mai 2011. Es ist der letzte Spieltag einer Bundesliga-Saison, die der große HSV mit einem enttäuschenden Platz im Mittelfeld und der Erkenntnis beendet, die Nachwuchsarbeit zu intensivieren und den Fokus verstärkt auf die ehrgeizigen Söhne von Migranten zu richten. »Na, haben Sie sich entschieden?«, frage ich Önder, den Vater des laufstarken Fußballers.
»Gestern Abend hat sich noch mal der Trainer vom HSV bei uns gemeldet und uns dringend gebeten, unseren Sohn zum Training zu schicken. Wir haben zugesagt.«
Und wie ist das mit der Violine? Wird Beritan unter den neuen Bedingungen auf diesem Instrument weiter üben?«
»Nein, damit wird er aufhören. Aber ...«
»Aber?«
»Er