sich ohnehin ausschließlich von Obst, und rechnete mir bei jedem Bissen vor, wie viele Kalorien ich zu mir nahm. Vermutlich hätte ich das Frühstücken längst aufgegeben, wenn es dabei nicht doch etwas zu essen gäbe.
An diesem Tag aber gab es zusätzlich zu viele Tretminen, die das Potenzial hatten, dieses spezielle Frühstück in eine absolute Katastrophe zu verwandeln: das Törtchenattentat. Die Übernachtungslüge. Und natürlich die Sache mit dem magischen Anhänger.
Man kann sich also vorstellen, dass ich ziemlich angespannt war, als ich mich auf meinen Platz neben Paps setzte. Der drückte mir zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange, holte ein großes Glas Schokocreme hinter seinem Rücken hervor und platzierte es mitten in Sylvias Null-Prozent-Zucker-Hundert-Prozent-BioIdylle.
»Das habe ich für meine Süßen aus der Schweiz mitgebracht.« Er zwinkerte mir zu.
»Du weißt genau, dass wir so etwas nicht essen, Bernd. So viel Zucker ist nicht gesund für uns.« Demonstrativ stieß meine Stiefmutter einen spitzen Finger in den winzigen Bauchansatz meines Vaters. Ich unterdrückte ein Seufzen und spürte, dass Lulu stumm kicherte.
»Nun sei mal nicht so, Sylvieschatz. Ist doch eine absolute Ausnahme.« In der Prä-Sylvia-Ära gab es bei uns eine Schokoschublade, die niemals leer war. Heutzutage hielt sich Paps leider meist an Sylvias Null-Zucker-Politik – wie auch sonst an so ziemlich jede Regel, die sie aufstellte. Wobei ich ihn im Verdacht hatte, sich seine Dosis einfach in den Hotels zu holen, in denen er übernachtete.
Mein Vater arbeitete für eine Firma, die hochspezielle Dichtungssysteme herstellte. Er verdiente sein Geld damit, Unternehmen im Ausland davon zu überzeugen, dass sie genau diese Dichtungen brauchten. Ich fragte mich manchmal, weshalb er all diese Kunden von der Notwendigkeit exakt dieser Dichtungen überzeugen konnte, nicht jedoch seine eigene Frau von der überlebenswichtigen Notwendigkeit von Schokolade.
»Pff«, machte Sylvia. Es klang, als wäre eine ihrer Dichtungen nicht ganz dicht, aber wenigstens ließ sie die Schokocreme stehen. Schnell schnappte ich mir das Glas, bevor sie ihre Meinung ändern konnte. Lulu goss sich Kaffee in meine Tasse ein.
»Ich bin etwas überrascht, dich zu sehen.« Sylvia stand auf und holte ein weiteres Gedeck, das sie mit einem gekünstelten Lächeln vor Lulu hinstellte. »Ich dachte, ihr hättet Streit.«
»Ich konnte nicht schlafen wegen des Streits. Deshalb war ich ganz früh da, um mich mit Claire zu versöhnen«, log Lulu und machte ein übertrieben unglückliches Gesicht. Ich hoffte bloß, dass Sylvia das nicht auffiel.
»Guten Morgen.« Sophie wehte herein, frischer als der Sommerblumenstrauß auf dem Tisch. Sie lächelte meinen Vater und Sylvia an, ignorierte Lulu und bedachte mich mit einem mörderischen Blick.
»Wie war denn die Party?« Mein Vater schob mir die Schokocreme wieder zu, nachdem er sein Brötchen bestrichen hatte. Ich hielt die Luft an.
»Der Auftritt der Band war ein voller Erfolg.« Sophie schnitt einen Apfel in schmale Spalten und ordnete diese auf ihrem Teller in einem Kreis an.
Ich nahm einen großen Bissen von meinem Schokobrötchen.
»Also ich hätte mir das nicht zweimal anhören müssen«, warf Lulu ein.
Ich verschluckte mich beinahe an dem Brötchen. Mein Vater runzelte irritiert die Stirn. Verstohlen trat ich Lulu unter dem Tisch gegen das Schienbein.
»Die Jungs wollen mich unbedingt beim Auftritt im Alten Wartesaal nächste Woche dabeihaben.« Sophie nahm sich eine Handvoll Erdbeeren, halbierte jede davon und drapierte sie hoch konzentriert auf den Apfelspalten. Doch ich hatte den Eindruck, dass sie mich verstohlen dabei beobachtete. Ich schluckte schwer und biss erneut in das Brötchen.
»Was ist das für ein Auftritt?«, erkundigte sich meine Stiefmutter wenig begeistert und nippte an ihrem grünen Tee. »Solltest du jetzt nicht besser für das Mathematik-Kolloquium lernen?«
»Ach, Mama, das findet doch erst in drei Wochen statt.« Sophie rundete die Obstdekoration mit mehreren Scheiben Honigmelone ab. Das Ganze sah aus wie eine exotische Blume, und ich fragte mich, ob sie es essen oder öffentlich ausstellen wollte.
»Trotzdem.« Sylvia wiegte den Kopf hin und her. »Du hast es bis in die Finalrunde geschafft. Darauf solltest du dich bestmöglich vorbereiten, oder nicht?«
»Ja, natürlich, Mama.« Sophie schob die Melonenstücke auf ihrem Teller hin und her.
Ich rollte mit den Augen. Der Mathematikwettbewerb war aktuell Sylvias Lieblingsthema. Frau Dr. No hatte Sophie angemeldet. Und nachdem meine Stiefschwester sich durch die ersten beiden Runden gerechnet hatte, würde sie nun gegen die größten Nerds des ganzen Landes antreten.
Der Wettbewerb fand im Rahmen des Jahrestreffens der Deutschen Mathematischen Gesellschaft statt, das in diesem Jahr in unserer Stadt abgehalten wurde. Eine Veranstaltung, die im Normalfall komplett an mir vorbeigegangen wäre.
Doch Frau Dr. No war irgendwie an der Organisation des Treffens beteiligt. Deshalb hatte sie in unserer Klasse gefragt, wer sich mit einem Job an der Garderobe oder im Service ein bisschen Geld dazuverdienen wollte. Lulu fand, das wäre eine gute Gelegenheit, um unser Erspartes aufzubessern, und hatte mich schließlich dazu überredet. Auch wenn ich mit meinem Taschengeld eigentlich auskam – im Gegensatz zu Lulu, die wegen ihrer Shoppingsucht ständig knapp bei Kasse war –, wollte ich ihr den Gefallen nicht abschlagen.
»Ich kann trotzdem für das Kolloquium üben«, versuchte Sophie, ihre Mutter zu überzeugen. »Auf den Bandauftritt muss ich mich ja nicht vorbereiten.«
»Nun lass ihr doch den Spaß, Sylvieschatz«, ergriff mein Vater für Sophie Partei.
»Dass du sie unterstützt, war ja klar«, entgegnete Sylvia bissig. »Du weißt eben nicht, was es bedeutet, wenn das eigene Kind hochbegabt ist. Das ist eine große Verantwortung.«
»Natürlich.« Wieder zwinkerte mein Vater mir zu. Mein Paps hatte in der Schule eine Ehrenrunde gedreht – aus purer Faulheit, wie er betonte.
»Was ist eigentlich mit dem Anhänger passiert?«, fragte Sophie plötzlich. Vermutlich wollte sie vom Thema ablenken. Mit spitzem Finger deutete sie erst auf meine und dann auf Lulus Brust. »Habt ihr ihn etwa schon kaputt gemacht?«
Ich wollte protestieren, doch ich hatte den ganzen Mund voller Schokobrötchen. Ich schluckte eilig, um zu widersprechen, aber natürlich verirrte sich ein Krümel in meine Luftröhre und statt einer schlagfertigen Antwort kam nur ein ersticktes Röcheln heraus, gefolgt von einem keuchenden Husten.
»Blödsinn«, mischte Lulu sich schnell ein, als sie meine Notlage erkannte, und hämmerte mir unsanft auf den Rücken. Mein Vater hielt mir ein Glas Wasser hin.
»Ich habe mich nur gefragt, ob Claire vorsichtig genug mit einem so wertvollen Familienerbstück umgeht«, hörte ich Sophie zwischen zwei Hustenanfällen. »Und weil ich die Verantwortungsbewusstere bin, dachte ich …«
Ich hatte es geahnt! Das war ihre Rache für die Törtchenattacke, noch viel hinterhältiger und gemeiner, als ich es erwartet hatte.
»Du … bist …«, presste ich hervor. Aber die Worte »hinterhältig« und »gemein« gingen in einem erneuten Hustenanfall unter.
»Stimmt das?« Mein Vater maß mich mit einem intensiven Blick. »Habt ihr den Anhänger wirklich zerbrochen?«
Wieder schluckte ich. Und dieses Mal hörte das Husten zum Glück endlich auf.
»Natürlich nicht«, erklärte ich so überzeugend wie möglich.
»Es waren von Anfang an zwei Hälften«, sprang Lulu mir bei. »Sie waren nur …«
» … ineinander verhakt«, vollendete ich schnell den Satz, bevor Lulu von Magnetismus und Magie anfangen konnte.
»So, so.« Mein Vater legte den Kopf schräg und blickte von mir zu Lulu und wieder zu mir zurück.
»Wirklich«, betonten wir einstimmig.
»Ich