(aus bester Absicht) unbedingt verhindern wollte, also die Thematisierung der Differenz, wird durch sein bewusstes Nicht-Reagieren eher noch provoziert. Es entsteht ein Vakuum, das die Schülerinnen und Schüler umso mehr füllen: Sie thematisieren fortlaufend und vielfältig die Differenz und versuchen schließlich, die Situation zu lösen, indem sie Jona Handlungsalternativen anbieten. Dabei reproduzieren sie typische Handlungsmuster von Lehrenden, die wir an anderer Stelle explizit auch für das exponierende Lehrerhandeln rekonstruieren konnten: Dazu gehören etwa die direkte Ansprache eines einzelnen Schülers mit seinem Namen in Kombination mit der Isolation in der musikalischen Tätigkeit, eine Fokussierung auf sie oder ihn als Objekt der Bewertung (insbesondere vor der Gruppe als Publikum) und auch die Reproduktion eines Fehlers durch Imitation (Heberle und Kranefeld 2012 b). Hier übernehmen also Schülerinnen und Schüler typische Handlungsmuster der Exposition in einer Situation, in der sich der Lehrende der Aushandlung von Differenz entzieht.
Es wird deutlich, dass insbesondere die konsequente Fortsetzung der Übung mit dem damit verbundenen permanenten Aufrufen der Differenz bei gleichzeitiger Strategie des Übergehens durch den Lehrer kaum Aussicht auf Lösung innerhalb dieser Konstellation hat, gerade auch angesichts der offensichtlichen Hartnäckigkeit der Gruppe. An dieser Stelle lohnt es sich durchaus, auch über einen möglichen Kamera-Effekt11 insbesondere in Bezug auf das Verhalten des Lehrers nachzudenken. Der Lehrer möchte sich und seine Gruppe in der Unterrichtsstunde, die ein bestimmtes inhaltliches Konzept verfolgt, angemessen präsentieren und sich nun – angesichts der Beobachtungssituation – nicht durch diese „Störung“ aus dem Konzept bringen lassen.
Wo ist Jona?
In der Fallanalyse wird deutlich, dass der Schüler, der in diesem Konflikt eigentlich im Mittelpunkt der Diskussion steht, an der verbalen Interaktion höchst unbeteiligt erscheint und zum Beispiel die wiederholte Kritik an seinem Spiel nicht kommentiert oder zurückweist. In den Phasen der Lösungsversuche der anderen Kinder verhält er sich im Gegenteil kooperativ und versucht, diese still umzusetzen. Sein auffälliges Nicht-Erscheinen als Akteur in der (verbalen) Interaktion verweist zusätzlich auf seinen Objektstatus in diesem Konflikt: Er bzw. seine differente Klangerzeugung wird zum Objekt der Aushandlung, er selbst kaum zum Akteur. Die anderen Kinder springen entsprechend abwechselnd in den Modus, zu ihm oder (untereinander oder mit dem Lehrer) über ihn zu sprechen.
Hier wird als Grenze videobasierter Forschung deutlich, dass eine Innensicht der beteiligten Akteure nicht rekonstruiert werden kann, wenn diese nicht expliziert wird bzw. aufgrund starker Indizien vermutet werden kann. Auch in diesem Fall kann nur darüber spekuliert werden, ob oder wie intensiv Jona die Situation als Beschämung wahrnimmt.
Lösungen?
Dadurch, dass die Situation in gewisser Weise ungelöst bleibt, regt sie – auch im Kontext von Aus- und Fortbildung – dazu an, nach Lösungen bzw. alternativen Handlungsmöglichkeiten für den Lehrer zu suchen. Je nach didaktischer Fantasie sind viele Wege denkbar. Soll nach einer Lösung innerhalb der ursprünglichen Strategie des Lehrers gesucht werden, also die Differenz tatsächlich übergangen werden, wäre sicherlich ein Phasenwechsel geeignet, der eine musikalische Aktivität initiiert, die weniger als die Übung „Eine Kette von Tönen“ Differenzwahrnehmung verstärkt. Damit ist natürlich das grundsätzliche Problem einer technischen Schwierigkeit bei Jona noch nicht gelöst.
Genauso gut könnte über sehr unterschiedliche Alternativen außerhalb der festgefahrenen Strategie des Übergehens nachgedacht werden, etwa indem der Lehrer die Thematisierung der Differenz aufgreift. Schon wenn man sich allein auf die Lösungsstrategien bezieht, die die Kinder selbst in ihrer Interaktion in Ansätzen einbringen, zeigen sich Anknüpfungspunkte für weiterführendes didaktisches Handeln. Hierzu nur zwei Beispiele:
1. Martin imitiert den schnarrenden Ton von Jona: So ist eine Aufgabe denkbar, in der alle Kinder versuchen, den Klang von Jona auf ihren eigenen Instrumenten möglichst gut nachzuahmen und experimentell herauszufinden, was die eine Tonerzeugung von der anderen unterscheidet, gegebenenfalls auch darüber nachzudenken, wann ein solcher Klang wie der von Jona besonders gut etwa zum Ausdruck einer Empfindung oder zur Illustration eines Bildes eingesetzt werden kann. Das würde Lernmöglichkeiten im Bereich Klangerzeugung, Tonqualität oder Klangsensibilität für alle eröffnen. Das Problem wäre – etwas plakativ gesagt – vergemeinschaftet, die Fokussierung auf Jona dadurch abgeschwächt, vielleicht sogar aufgehoben.
2. Die Kinder der Gruppe etablieren selbst in zwei Phasen (Phase 2 und 4) kooperative Settings: Gegebenenfalls könnten Formate des Tutorlernens die vom Lehrer befürchtete Exposition von Jona im Plenum der Gruppe abmildern und dabei gleichzeitig zu seiner musikalischen Entwicklung gezielter beitragen. Zudem würde auch der Tutor oder die Tutorin zur Verantwortungsübernahme angeregt.
Zu bedenken ist allerdings, dass letztere Strategie auch Ausdruck eines impliziten und unhinterfragten „Homogenisierungsdenkens“ (Wischer 2007, 32) sein kann, das noch immer die subjektiven Theorien vieler Lehrenden im Hinblick auf den Umgang mit Heterogenität prägt. Nicht nur die aktuell verstärkte Etablierung von inklusiven Gruppen im instrumentalen Gruppenunterricht lässt dieses Ziel allerdings zweifelhaft erscheinen. In der inklusiven Didaktik wird deshalb die Aushandlung von Differenz als immerwährender und notwendiger Prozess heterogener Gruppen betrachtet und gefördert. Hier zeigt sich, dass das Dilemma von individueller Förderung und einer Gefahr der Exposition im Umgang mit Differenz zu den aktuellen Herausforderungen der musikpädagogischen Praxis und Forschung gehört und im Phänomen des Umgangs mit hörbarer Differenz eine fachspezifische Besonderheit aufweist.
Differenz als Konstruktion
Hintergrund des Blicks auf den Fall ist die Deutung der Wahrnehmung von Differenz als „soziale und kulturelle Konstruktionsakte, die in Schule und Unterricht in Interaktionen, in räumlichen Arrangements, in symbolischen Ausdrucksformen, in Artefakten, usw. generiert, verhandelt und festgeschrieben werden“ (Budde 2013, 15). Diese Annahme der Konstruktion von Heterogenität gilt nicht nur für ein in der Forschung häufig thematisiertes Phänomen wie der Konstruktion von Geschlecht (s. etwa Faulstich-Wieland, Weber und Willems 2004), sondern kann auch entsprechend auf fachdidaktische Phänomene und Leistungsdifferenz übertragen werden.12 So ist etwa die in der beschriebenen Unterrichtssequenz verhandelte Differenzlinie die abweichende Klangqualität, nicht etwa das pünktliche Einsetzen der einzelnen Spieler. Würde man dieses Differenzkriterium anlegen, so würde eher Laura mit verfrühten und verspäteten Einsätzen auffallen, nicht aber Jona, der zwar mit abweichendem Klang, aber meist pünktlich einsetzt.
3. Den gemeinsamen Klang entwickeln
Orientierungsmuster von Lehrenden
Hinsichtlich der Frage, wie gewappnet sich Lehrende (n = 111) für die Formate instrumentalen Gruppenunterrichts (IGU) fühlen, zeigten sich in einer Befragung in unserer Studie BEGIn im Jahr 2010 nicht nur große Unterschiede zwischen dem Einzelunterricht und dem IGU in JeKi, sondern in der Einschätzung der Lehrenden ebenso ein Unterschied zwischen dem IGU in der Musikschule und dem IGU in JeKi. Das Gefühl, gewappnet zu sein, nimmt in der Reihenfolge der Formate Einzelunterricht an Musikschulen, IGU an Musikschulen, IGU an Grundschulen im Rahmen von JeKi ab, wobei sich im Hinblick auf JeKi-Unterricht im Vergleich zum IGU an Musikschulen ein moderater und im Vergleich zum Einzelunterricht an Musikschulen sogar ein starker Unterschied ergeben (Kranefeld et al. 2015). Offensichtlich nehmen Lehrende die „Anforderungsstruktur“ (Bromme 1992) des JeKi-Unterrichts gegenüber ihrer bisherigen Berufspraxis in der Musikschule als abweichend wahr. Dabei spielen möglicherweise die durchschnittlich größere Lerngruppe und ihre wahrgenommene größere Heterogenität als unterrichtsbezogene Merkmale13 einer spezifischen Anforderungsstruktur eine bedeutsame Rolle, wie auch aus Fortbildungswünschen der Lehrenden ablesbar ist: Von den Lehrkräften, die in unserem Fragebogen in einem offenen Frageformat Wünsche zu Fortbildungsthemen angegeben haben, verwiesen immerhin über 63 Prozent auf das Thema Umgang mit Heterogenität