Robert Heymann

Maria Stilke. Der Roman einer Lehrerin


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mehr ein abgeklärtes Dasein, das sie führte, und die Läuterungen und die Busse, denen sie sich regelmässig unterwarf, stellten eigentlich nur mehr einen Tribut dar, den sie verflossenen Zeiten zollte.

      So strenge sie aber gegen sich selbst und gegen die Gegenwart dachte, war sie gleichwohl stets bereit, den Massstab ihrer eigenen Vergangenheit bei anderen anzulegen. Indem sie so nie verlernte, die Menschen zu begreifen, war sie auch stets in der Lage, zu verzeihen, während in Schwester Clementinas steinernem Antlitz niemals der Funke jener Liebe aufleuchtete, die nicht nur fordert, sondern auch gibt.

      „Welchen Grund hast Du, die Entlassung des Herrn Seminarlehrers zu bedauern, Maria?“ fragte Schwester Benedikta endlich. „Ich will Dir nicht verhehlen, dass Du soeben die Farbe gewechselt hast . . .“

      „Ach, ehrwürdige Schwester!“ stammelte das junge Mädchen verwirrt, stockte aber sogleich wieder in seiner Rede. Es war ihr noch nicht zum Bewusstsein gekommen, welcher Art die Empfindungen waren, die sie für Thomas Förster hegte. Aber sie war kaum mehr imstande, ihre Bewegung zu verbergen, wenn Schwester Benedikta mit ihrer weichen Stimme seinen Namen aussprach. Da die Schwester ihren Gedanken nicht zu Hilfe kam, so suchte sie selbst nach einer aufrichtigen Antwort und fuhr schliesslich fort:

      „Ich habe mich so ganz verwandelt gefühlt, so lange er hier war! Ich weiss das nicht recht in Worte zu fassen und möchte meine Empfindungen etwa mit den Augen eines Blinden vergleichen, der immer in die Dunkelheit geblickt hat und plötzlich über sich den Sonnenglanz des Himmels sieht.“

      Schwester Benedikta nickte vor sich hin. Sie fand ihre Befürchtungen bestätigt.

      „Mein Kind, die nächste Empfindung nach dem ersten Moment des Entzückens wäre wohl eine völlige Blendung, denn man sieht nicht ungestraft in den trügerischen Schein der Gestirne. Es ist ein Zeichen der Schwäche, sich Gegensätzen zu ergeben, Maria. Thomas Förster ist ein ebensolcher Gegensatz, wie die Sonne, die Du zum Vergleich gewählt hast.“

      „Wie meinen Sie das, ehrwürdige Schwester?“

      „Ich will sagen, dass das Ziel, dem wir alle entgegenstreben, was wir im Leben auch immer zu leisten versuchen, eine Harmonie sein muss, die uns frei von jeder weltlichen Abhängigkeit macht. Solche Abhängigkeiten führen uns zur Sünde . . .“

      Maria erschrak. Sie fürchtete die Sünde nicht nur, sie verabscheute sie aus tiefstem Herzen. Bisher war sie ihr nur ein Begriff gewesen, und wenn sie zu fündigen glaubte, so konnte sie dem Geistlichen Rate, der der Beichtvater der Seminaristinnen war, höchstens Vergehen anvertrauen, die Verstösse gegen die Klosterregeln darstellten.

      Nun aber, da Schwester Benedikta das Wort Sünde gebrauchte, tat sich vor Marias Bewusstsein blitzartig etwas Unerhörtes auf; ohne sie zu begreifen, fühlte sie Gefahren, für die sie bisher nicht das geringste Verständnis besessen; in diesem Augenblick bekam sie vor Thomas Förster Scheu und Furcht.

      „Ich habe in letzter Zeit gesehen, ehrwürdige Schwester,“ fuhr sie zu sprechen fort, den Blick zu Boden gesenkt, mit Anstrengung ihre Gedanken sammelnd, „dass das Leben draussen, ausserhalb unserer Mauern, sich in den grössten Differenzen abspielt. Und wenn ich den Unterricht des Herrn Seminarlehrers richtig verstanden habe, so bedeuten diese Gegensätze gewaltige Werte, die alle zusammen in ihrem Aufeinanderstossen den Fortschritt erzeugen.“

      Schwester Benedikta lächelte.

      „Was ist der Fortschritt, mein Liebling? Und hat nicht Thomas Förster selbst in einer Unterrichtsstunde, der ich beiwohnte, diesen Götzen Fortschritt, den er auf der einen Seite anbetete, auf der anderen Seite mit mächtigen Hammerschlägen zertrümmert? Hat er nicht unsere Kultur verneint? Und glaubst Du im Ernst, dass Du irgend welche positive Arbeit leisten könntest, wenn Du Dich den Wogen solcher Gegensätze preisgäbest? Würdest Du Dich wirklich für stark genug halten, ihnen zu widerstehen? Fürchtest Du nicht, von ihnen verschlungen zu werden?“

      Maria Stilke schwieg. Ihr Herz klopfte hörbar. Eine namenlose Angst vor dem Unbekannten, das sie nicht erklären konnte, das ihre Seele in Feuerlohe tauchte, erfüllte sie.

      „Wie kann man diesen Gefahren entgehen, Schwester Benedikta?“ fragte sie endlich.

      Da beugte sich diese etwas vor und nahm Marias Hände in die ihren:

      „Ich wünschte, gerade Dir blieben die Kämpfe, die Enttäuschungen, welche auch Dich noch erwarten, erspart. Ich wünschte, Du müsstest nicht all jene Wunden erdulden, die uns das Leben schlägt, die vielleicht nie mehr vernarben und uns der wahren Glückseligkeit nicht teilhaftig werden lassen. Ich sehe diese Glückseligkeit in der alleinigen Hingabe an Gott, an den göttlichen Gedanken, der das Gute fordert, der unsere ganze Hingabe an das wahrhaft Schöne heischt, der auch von uns verlangt, dass wir unsere Seele mit dreifachen Mauern vor den Lockungen des Lebens verschliessen. Die Menschen dort draussen meinen, wir brächten dadurch besondere Opfer, während Gott und die heilige Jungfrau uns in Wahrheit ihre höchste Gnade beweisen, indem sie uns diesen Entschluss eingeben. Denn während wir auf die scheinbaren Freuden der Welt verzichten, haben die schweren Enttäuschungen, die vergifteten Pfeile, welche die Leidenschaft versendet, keine Macht über uns, und wir sind in Wahrheit glücklich, weil wir nicht um unserer selbst willen leiden, sondern in der Anbetung des Ewigen unsere höchste Freude erblicken.“

      Maria lauschte dürstend auf diese Worte. Je mehr die Zeit vorschritt und je weiter Thomas Förster von ihr entfernt war, desto mehr wurde sie das Opfer einer Sehnsucht, gegen die sie wohl ankämpfte, die sie aber nicht zu unterdrücken vermochte. Lieber denn je flüchtete sie in solchem Zustand der Zwiespältigkeit, da sie noch am Kloster hing, indes ihre Seele schon ihre Schwingen prüfte, zu Schwester Benedikta. Die wurde nicht müde, für den Schleier zu werben. —

      Der Winter war gekommen. Der Klosterhof lag im Schnee, die Silhouette der Stadt versank in dem Grau des Himmels, der sich bis zur Erde niederzusenken schien. Lösten sich die schweren Nebel, dass sie nicht mehr auf die Türme der Kirche drückten, dann war zwischen Himmel und Erde eine schier undurchdringliche Mauer von Flocken.

      Ein harter, eisiger Winter.

      Die graue Einsamkeit und Öde lastete schwerer als auf den anderen auf Maria. Die Trostlosigkeit in der Natur verschärfte noch den Konflikt in ihrem Innern. Da erfuhr sie eines Tages, dass Thomas Förster auf den Bericht des Superiors hin auch von seinem weltlichen Amt vorläufig suspendiert worden war.

      Sie hatte gemeint, mit der Entlassung durch die Oberin hätte es seine endgültige Bewandtnis; ihr Gerechtigkeitssinn stempelte das Vorgehen des Geistlichen Rates als einen Akt der Leidenschaft, gegen den sie sich heimlich auflehnte. Die doppelte Niederlage des Seminarlehrers flösste ihrem Herzen eine neue, starke Empfindung ein, durch die es mit einem Schlage unempfänglich für alles Werben Schwester Benediktas wurde: Mitleid.

      Das Mitleid, diese Schwester der Liebe, zog ihre Gedanken immer von neuem von dem Kloster zu Thomas Förster ab. Den Verlust seiner Stellung wertete sie nicht einmal so sehr nach seiner praktischen als ideellen Seite. Musste es einem Manne wie ihm, dem Stürmer, dem stets Begeisterten, nicht furchtbar werden, sich so gebrandmarkt zu sehen, ausgeschlossen aus dem Lebenskreise, dem er sich mit Leib und Seele ergeben? Sie stellte sich vor, wie er nun so ganz einsam sein musste, wie niemand um ihn war, der ihn verstand, der ihn trösten und aufrichten konnte.

      Was würde aus ihm werden? Würde er nicht unter der Last, die man plötzlich auf seine Schultern legte, zusammenbrechen?

      Ihre Empfindsamkeit steigerte sich von Tag zu Tag. Die Ungewissheit über sein Schicksal, das Schweigen, das darüber herrschte, wurden ihr schliesslich unerträglich. Da fasste sie endlich, vielleicht nur, um ihre innere Gequältheit los zu werden, einen absonderlichen Entschluss. Sie bedurfte dazu eines Mutes, den ihr erst ihre gänzlich veränderte Stellung zum Kloster verleihen konnte.

      Sie schrieb an Thomas Förster einen Brief:

      „Hochverehrter Herr Seminarlehrer!

      Nachdem Sie so plötzlich unsere Schule verlassen und ich vergeblich gehofft, dass Sie Ihren Unterricht wieder fortsetzen würden, diesen Unterricht, der uns das lebendige Wort der Natur gelehrt, der mich zu völlig neuen Anschauungen geführt hat und für den