Robert Heymann

Maria Stilke. Der Roman einer Lehrerin


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Die bösen Stimmen verstummten nicht. In Nachbardörfern ging das Gerücht weiter, nahm immer grösseren Umfang an und drohte, in die breite Öffentlichkeit überzugehen.

      Der Regierungsrat in München schwankte, was er glauben sollte. Schliesslich liess der Bezirksamtmann eine Gemeindeversammlung in Tannenau einberufen, die entscheiden sollte, ob Pfarrer Händel je durch sein Leben Ärgernis gegeben und welche Ansicht die Gemeinde in bezug auf Maria Stilke vertrat.

      Diese Versammlung fand im Schulhaus statt. Fast alle Männer des Dorfes waren erschienen, der Amtmann selbst war zur Stelle. Zum ersten Male nahm der Lehrer des Ortes in dieser Sache das Wort. Er verstand sich nicht gut mit dem Pfarrer; denn während er gegen die geistliche Aufsicht in der Schule kämpfte, vertrat der Pfarrer das Prinzip, Schule und Kirche seien untrennbare Begriffe. Diese gegenteiligen Überzeugungen, die keine persönlichen waren, sondern von der gesamten Lehrerschaft wie der Geistlichkeit vertreten wurden, gaben zu manchem Konflikt den Anlass, mehr noch zu wachsender Erbitterung auf Seiten des Lehrers, weil Händel als Lokalschulinspektor sein Vorgesetzter war.

      Um so schwerer fiel es ins Gewicht, dass der Lehrer rückhaltslos für das makellose Leben des Pfarrers eintrat. Die Versammlung endete, wie vorauszusehen war, mit einer für die Bewohner von Tannenau geradezu grossartigen Vertrauenskundgebung für ihren Priester. Am Sonntag, als der Pfarrer wieder die Kanzel bestieg, um zum ersten Male nach vielen Wochen die Predigt zu halten, dankte er der Gemeinde in rührenden Worten. Damit war seine Stellung gesichert, und die Stimmen, die ihn anklagten, mussten öffentlich schweigen. Aber im geheimen wühlten sie weiter und verbitterten dem Seelsorger das Leben.

      Die neue Köchin nahm sich erst das Schicksal ihrer Vorgängerin zu Herzen; aber alsbald zogen Geschwätzigkeit und Klatschsucht auch sie von Treue und Vertrauen zum Pfarrhaus ab. —

      So gingen zwei Monate um; die Zeit nahte, wo Maria nach Raubingen zurückkehren musste.

      Sie hatte wohl bemerkt, dass man sie wieder freundlicher grüsste; aber viele, die zum Hut vor ihr griffen, blieben hinter ihr stehen und verfolgten sie mit den Augen. Schliesslich erfasste sie eine krankhafte Angst.

      Diese Angst kreiste um das eine verhängnisvolle Wort: Pfarrerstochter. Sie liess alles Gefühl beiseite und begann mit scharfem Verstand das Wort zu zergliedern, Tag für Tag. Mitten in der Nacht fuhr sie einmal aus solchen Gedanken auf, setzte sich auf ihrem schmalen Lager hoch und starrte mit brennenden Augen vor sich hin.

      Blitzartig hatte sich ihr Verstand erhellt. Sie hatte die Lösung:

      Pfarrerstochter — nun begriff sie! Ein namenloses Weh krampfte ihr Herz zusammen. Sie hätte aufschreien mögen vor Scham und Verzweiflung. Die ganze Nacht sass sie so und grübelte. Am Morgen kam sie bleich zum Frühstückstisch. Der Pfarrer und der Kaplan sassen in dem Wohnzimmer mit den grün und weiss gestrichenen Tapeten, dem mächtigen, grünen Kachelofen und den gewaltigen Bücherschränken, die die Bibliothek enthielten.

      Beiden fiel ihr verstörtes Wesen auf. Der Kaplan begab sich alsbald zur Messe, Pfarrer Händel blieb zurück. Er alterte stark. Maria sah es mit Schmerz und aufrichtiger Sorge. Sie würde gerne über das Leid, das sie selbst bedrückte, geschwiegen haben, hätte er nicht selbst davon begonnen:

      „Mein Kind, in Dir ist etwas Fremdes. Ich würde es sehr schwer empfinden, wenn Du gerade vor mir Dein Herz verschliessen solltest. Willst Du mir nicht mitteilen, welches Leid Dich quält?“

      Da machte der Schmerz sich Luft, der seit Wochen in diesem armen kleinen Herzen zusammengedrängt war. Sehnsucht, Ungewissheit, Scham und hilflose Liebe — das alles sprudelte mit einem Male hervor, und unter Tränen verriet sie alles — nur das Wort vermied sie . . . Pfarrerstochter.

      Sie empfand das Wort so, als ob ihr jemand einen argen körperlichen Schmerz zufügte.

      Pfarrer Händel hörte sie ruhig an bis zum Ende. Dann legte er die Pfeife beiseite, zu der er gern nach dem Frühstück griff, und antwortete:

      „Gehen wir in das Speisezimmer.“

      Der Madonna gegenüber nahm er mit ihr auf dem Sofa Platz. Sie merkte wohl aus seinem Wesen heraus, dass er entschlossen war, ihr bedeutungsvolle Mitteilungen zu machen. Er verschränkte die Arme und sah lange Zeit zu dem Bildnis hinüber. Maria Stilke fand nichts Absonderliches in dieser Art, denn sie hatte den Pflegevater oft so gesehen.

      Endlich begann er:

      „Ich hätte vielleicht nicht so lange zögern dürfen, Deinem natürlichen Verlangen, Näheres über Deine Eltern zu erfahren, nachzugeben. Du weisst nur, dass Deine Mutter gestorben ist, aber Du weisst nicht, unter welchen Umständen. Du hast nie etwas von Deinem Vater gehört, und ich hätte sehnlichst gewünscht, niemals über ihn sprechen zu müssen; denn das, was ich Dir sagen muss, ist vielleicht nicht geeignet, ihm Deine Liebe zu sichern, und es tut mir weh, diese Erinnerungen wachrufen zu müssen.

      Ich habe meinem Gotte nichts genommen, als ich, damals noch ein junger Theologiestudent, von einer tiefen Zuneigung zu Franziska von Achenbach ergriffen wurde. Ich hatte, wie viele meiner Amtsbrüder, lange geschwankt, welchen Beruf ich ergreifen sollte. Ein tiefes religiöses Gefühl, das durch meine Eltern besonders gepflegt worden war, führte mich dem geistlichen Stande zu. Ich verkehrte damals viel im Hause des Herrn von Achenbach, der als Reichstagsabgeordneter in München eine bedeutende Rolle spielte und als geistreicher Vorkämpfer des Zentrums besonderen Einfluss auf mich ausübte. Der Sohn eines seiner Freunde, deren er viele auch im liberalen Lager hatte, Fritz Stilke, studierte Medizin und genoss das besondere Vorrecht, Franziska zum Eislauf zu begleiten oder gemeinsam mit ihr die Tanzschule zu besuchen. — Seine auffallende, hübsche Erscheinung, sein verbindliches Wesen und manche andere Vorzüge lähmten Herrn von Achenbachs Vorsicht und Misstrauen und übten auf Franziska einen verhängnisvollen Einfluss aus.

      Ich will aufrichtig gestehen, dass meine Verehrung für dieses schöne und ausgezeichnete Mädchen nicht frei war von dem heimlichen, wenn vielleicht auch ungeklärten Wunsch, sie als Gattin zu erringen. In diesem Falle hätte ich natürlich das geistliche Gewand, das ich bereits trug, wieder ablegen müssen. Ich verbrachte eine qualvolle Zeit im Kampfe mit mir selbst, in verzweifeltem Ringen zwischen der Pflicht und meinem Glauben und dieser Liebe, die immer mehr Besitz von mir ergriff.

      Franziskas scharfem Blicke blieb mein trostloser Zustand nicht verborgen. Sie zeichnete mich bei jeder Gelegenheit aus, aber ich sah wohl, dass sie einzig meinem Freunde Stilke anhing. So schmerzlich mich dies berührte und so sehr ich auch darunter litt, erleichterte es mir doch den endlichen Sieg über mich selbst. Ich habe nie aufgehört, Franziska zu lieben. Diese Liebe aber war nun frei von Schlacken, frei von Wünschen und Begehren.

      Dieser Sieg brachte mir eine Zuversicht und Ruhe, darin ich heute noch eine besondere Gnade Gottes erblicke. Hingegen wuchs meine Unruhe immer mehr, da ich sah, welch verhängnisvollen Einfluss Fritz auf Franziska gewann. Obgleich wir Freunde waren, zog ich mich immer mehr von ihm zurück, denn er entpuppte sich alsbald, als eine Natur, deren Grundsätze sich mit den meinen nicht vertrugen. Er entdeckte plötzlich sein besonderes Talent als Künstler; obgleich nicht nur sein Vater, sondern auch seine Freunde ihn beschworen, seine Studien nicht aufzugeben, sie wenigstens zu Ende zu führen, verliess er ohne weiteres die Universität und bezog die Akademie. Gewiss war er ein ungewöhnliches Talent, und ich bin sicher, dass ihm grosse Erfolge beschieden gewesen wären, wenn er die Fähigkeit besessen hätte, sich selbst zu zügeln. Seine offene Werbung um Franziska wurde von Herrn von Achenbach angesichts seines ungeklärten Lebensziels und auch wegen der Gerüchte, die über seinen Lebenswandel in Umlauf waren, zurückgewiesen. Da fasste er den unseligen Entschluss, die Geliebte zu entführen. Ich habe wenig Bestimmtes darüber gehört, ich weiss nur, dass Franziska, betört durch die Zusicherungen, die er ihr gemacht, ihm nach Amerika gefolgt ist.“

      Der Pfarrer machte eine Pause. Die Erzählung strengte ihn sichtlich an. Maria warf leise ein:

      „Meine Mutter . . .“

      Er fuhr fort:

      „Was sich drüben ereignet hat, weiss ich nicht, doch mag das Leben dieser unglücklichen jungen Frau, die in Newyork Fritz Stilkes Gattin wurde, ein unbeschreibliches Martyrium geworden sein, eine Kette von Enttäuschungen, Gram und