Robert Heymann

Maria Stilke. Der Roman einer Lehrerin


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blass, bald rot und flüchtete sich schnell über die dunklen Gänge in ihr Zimmer. Dort verriegelte sie die Tür hinter sich, als fürchte sie, man könnte sie verfolgen.

      Indes hörte sie auch bald die sonore Stimme des Pfarrers. Eine Weile später rief er nach ihr. Sie ging zögernd hinab.

      „Wo steckst Du denn, mein Kind?“ fragte er und führte sie in das grosse Wohnzimmer. Der Fremde, der dem Kaplan gegenüber an dem grossen Eichentisch sass, stand auf und verneigte sich.

      „Das ist ein famoser Zufall“, sagte der Kooperator. „Thomas Förster wird voraussichtlich in diesem Jahre Ihr Lehrer werden, Fräulein Maria!“

      Sie erschrak ordentlich und wagte kaum, den Fremden anzusehen. Er reichte ihr über den Tisch die Hand:

      „Sind Sie mir noch böse?“

      „Was haben Sie ihr denn schon getan?“ fragte Pfarrer Händel mit einem Lächeln.

      „Ich habe die Kühnheit gehabt, sie bei meinem Einzug in Tannenau lachend zu grüssen — wirklich, mein Fräulein, es war nicht schlimm gemeint! Es schien mir nur ein gutes Zeichen für meine Ferienfahrt, solch reizendes Gesichtchen gerade im Pfarrhof zu finden, sozusagen als ersten Gruss, den mir das Leben jenseits der Schule spendete.“

      „Maria Stilke ist meine Pflegetochter“, sagte der Pfarrer. Das passte eigentlich gar nicht hierher. Die Fröhlichkeit des Kaplans verstummte plötzlich und es lag wieder die alte, drückende Stimmung über dem Pfarrhaus. Maria wagte kaum, aufzuatmen. Der Kaplan brach schliesslich die Stille. Er erzählte, dass Thomas Förster sein bester Jugendfreund gewesen sei; vor ein paar Jahren hatten sie sich aus den Augen verloren.

      „Ich wollte eigentlich erst Medizin studieren, aber schliesslich neigte ich doch mehr dem geistlichen Berufe zu. Es war auch der Wunsch und Wille meiner alten Mutter.“

      „Und bei mir reichten die Mittel nicht aus für ein langjähriges Universitätsstudium“, warf Thomas Förster ein. „Nun habe ich es glücklich zum Seminarlehrer gebracht und komme Ihnen zweifellos furchtbar wichtig vor, was, Fräulein Stilke?“

      Sie nickte ernsthaft und wollte nicht begreifen, dass der Kaplan sie deshalb auslachte.

      Der Pfarrer bat, ihn zu entschuldigen. Er musste sich noch mit der morgigen Predigt beschäftigen. Auch der Kooperator hatte zu tun.

      „Ich möchte gern die Kirche sehen“, sagte Thomas Förster.

      „Maria mag Sie begleiten, Herr Seminarlehrer“ — Händel wandte sich an seine Pflegetochter — „Du kennst ja die Kirche und magst darum Herrn Förster am besten als Führerin dienen.“

      Maria brachte nicht sogleich eine Antwort heraus. Fast fürchtete sie sich, allein mit dem Fremden zu gehen.

      Wie sie aber in das Sonnenlicht hinaustraten und die schwere, mit geschnitzten Engelsköpfen gezierte Eichentüre des Pfarrhofes sich hinter ihnen schloss, fand sie ihren natürlichen Frohsinn wieder. Sie vergass, dass der Herr neben ihr in kurzer Zeit ihr Lehrer sein sollte. Er war ihr schon gar nicht mehr so sehr fremd, obgleich er plötzlich schweigsam und in sich gekehrt war.

      „Sind Sie schon lange hier, Fräulein Stilke?“ fragte er schliesslich.

      „Seit einem Tag, Herr Seminarlehrer. Ich verbringe meine Ferien bei dem Herrn Pfarrer.“

      Er hob ihr Kinn sanft in die Höhe und blickte ihr unter den Strohhut mit dem schwarzen Samtband.

      „Sprechen Sie doch nicht immer dieses greuliche „Herr Seminarlehrer“ aus! „Förster“ genügt! Sie haben gewiss keine Eltern mehr?“ Sie stockte.

      „Vater ist wohl tot . . .“ stammelte sie fassungslos. Er sah sie betroffen an.

      „Verzeihen Sie . . . natürlich . . . ich konnte mir doch denken, dass Sie keine Eltern mehr haben, wenn Pfarrer Händel an Ihnen Vaterstelle vertritt.

      Sie traten in die kühle Kirche; dieser Ort, der ihr so sehr vertraut war, gab ihr Ruhe und Sicherheit wieder. Thomas Förster betrachtete mit grosser Aufmerksamkeit die kostbaren Einzelheiten, über die Maria ihn nicht ohne Stolz aufklärte:

      „Dies Bildnis der stabat mater hier zur linken Bankreihe, wo die alten Frauen sitzen, ist uralt und gewiss nicht ohne grossen Wert. Betrachten Sie, bitte, den Glanz der Farben, der heute kaum mehr erreicht wird.“

      Er sah eine Weile das Gemälde an, dann Maria.

      „Wer hat über das Bildnis zu Ihnen gesprochen?“

      „Der Herr Pfarrer lobte mehrmals den unbekannten Meister . . . ich habe gewiss eine Torheit gesagt . . . aber ich meine, heutzutage fände kein Künstler Farben von so unmittelbarem Glanz . . .“

      „Haben Sie denn Kunstausstellungen besucht?“

      „Im verflossenen Jahr fuhr der Herr Pfarrer während der Ferien mit mir nach München. Ein Studienfreund von ihm führte mich in den Glaspalast.“

      „Das war ein gutes Werk . . .“ murmelte Thomas Förster. Sein Blick streifte sie mit seltsamem Ausdruck.

      „Hier, Herr Förster, auf der anderen Seite, sehen Sie die Maria Hilf mit Sonne, Mond und Wolken . . . ein wertvolles Gemälde, wenn es auch die stabat mater an Ausdruck nicht erreicht. Dies hier ist das marmorne Taufbecken mit Johannes dem Täufer auf dem Deckel. Die Figur ist ganz aus Holz geschnitzt und übermalt . . . und hier, der Engel auf erzenem Sockel, wurde zum Gedächtnis unserer Soldaten gestiftet, die im Kriege 1870 vor dem Feinde fielen.“

      Er sah kaum auf die Dinge, die sie ihm zeigte, und behielt von diesem Guss eigentlich nur den alten Raupenhelm in Erinnerung, der als Skulptur unter anderen Waffen das Denkmal schmückte. Maria erklärte indes die Seitenaltäre — den der Heiligen Antonius und Mathias, den Nepomukaltar und den des heiligen Saturninus . . . und dann die kostbaren Statuen an den Seitenwänden, den heiligen Sebastian und Franziskus, die heilige Apollonia und Notburga. Zwischen diesen stand ein kunstvoll geschnitzter Beichtstuhl. Der Vorhang hatte eine warme, blaue Farbe, Thomas Försters Auge ruhte einige Sekunden darauf, um sich schliesslich dem Muttergottesaltar zuzuwenden, unter dem die sterbliche Hülle eines Heiligen, in Edelstein und Stickereien gekleidet, hinter schützendem Glase lag.

      „Gehen wir ins Freie“, sagte er. Sie zeigte ihm aber noch die Kanzel mit der strahlengeschmückten Maria auf der Schalldecke und den Hochaltar mit den prächtig geschnitzten Chorstühlen, ehe sie ihm nach dem Kirchhofe folgte. Sie berichtete, was sie von diesen Toten wusste. Seitwärts, wo die Kirchhofmauer steil den Hügel hinaufstieg — man sah hier über blühende Felder hinweg in den Pfarrgarten — lag ein vereinzeltes Grab.

      Ein Grab mit einem einfachen Kreuz und einem Namen. Die Inschrift besagte, dass die, welche da ruhte, in erster Jugendblüte gestorben sei.

      „Ein Findling“, sprach Maria Stilke.

      Er blieb stehen und betrachtete eine Weile den Efeu, der sich um Kreuz und Grab rankte, und wunderte sich, wer die Blutstropfen dazwischen gesät . . . schwere, volle Geranien.

      „Ich“, entgegnete Maria scheu und blickte zur Seite. In seine Augen trat ein warmer Glanz.

      „Sie! Kannten Sie diesen Findling?“

      Sie schüttelte den Kopf.

      „Ich habe nur weniges über das Mädchen gehört. Es soll mit einer fahrenden Truppe gezogen sein. Man sagt aber, es sei sehr schön gewesen. Es muss schwer sein, so früh zu sterben.“

      „Wer weiss . . ,“

      „O ja! Sie wurde geliebt.“

      Sie sagte das ganz leise, als fürchtete sie, es laut auszusprechen, und fügte nach einer Weile hinzu: „Es würde sonst niemand ihr Grab pflegen . . . die Truppe zog weiter, und dann hatte sie wohl niemanden mehr auf Erden . . .“

      Sie bogen vom Friedhof ab und gelangten auf freies Feld.

      Mächtige Ahornbäume und Linden standen in stolzer Kraft in den Sommer hinein. Wenn der Wind durch ihre Blätter fuhr, dann wiegten sie sich in ihrer