das ist sehr traurig“, entgegnete Maria in einem Ton, der den Priester betroffen aufsehen liess. „Aber“, fuhr sie fort, „jene wollte mich kränken. Es war im letzten Präparandenkurs, als sie das sagte. Ich habe es Ihnen nur bisher verschwiegen, Herr Pfarrer. Sie fügte ihren Worten bei: Du hast keine Mutter, weil man Deinen Vater nicht kennt . . .“
Die Sonne stand hoch, es war erdrückend heiss.
„Gehen wir in das Haus“, sagte der Priester.
Maria gehorchte und es wurde nicht weiter über diese Frage gesprochen, die einen Sturm schmerzlicher Gefühle in ihr geweckt.
Der Pfarrer war bei Tische schweigsam und verschlossen; der Kooperator bemühte sich vergeblich, ihn aufzuheitern.
Schliesslich wandte er sich an Maria.
„Heute über ein Jahr haben sich die Pforten des Seminars bereits hinter Ihnen geschlossen. Freuen Sie sich darauf?“
„Ich fürchte mich vor dem Alleinsein, Herr Kaplan. Die Schwestern sind sehr gut zu mir und besonders Schwester Benedikta habe ich ins Herz geschlossen.“
Der Pfarrer sah flüchtig auf. Sein Blick haftete eine Weile an seiner Pflegetochter und wanderte dann durch das offene Fenster. Wie Gold stand das Getreide. Davor dehnten sich die Wiesen reif zum Mähen. Übersät mit falschem Schirling, erweckten sie den Eindruck schneeiger Flächen; sattrot schimmerte dazwischen der Klee. Am Ende der Ebene tauchte der Horizont in einen blauen Dunstschleier gehüllt, in den Himmel.
„Du wirst in München praktizieren!“ sagte er. „Ich mache mir bereits Sorge darüber, wo ich Dich am besten unterbringe!“
„Anna Wagners Eltern wollten mich so gerne bei sich haben“, erwiderte Maria. „Aber es ist, als hätten sie sich eines anderen besonnen.“
Der Kaplan warf dem Pfarrer einen fragenden Blick zu. Die Köchin trat ein und brachte die Post. Er warf einige Schreiben zornig beiseite:
„Den Inhalt kenne ich schon an der Schrift. Schmähungen über Schmähungen!“
„Es scheint, als wollte diese Flut kein Ende nehmen“, murmelte Pfarrer Händel. Darauf der Kaplan:
„Wann findet die Gemeindeversammlung statt?“
„In einigen Tagen.“
„Und Sie haben wirklich die Absicht, im Falle eines Misstrauensvotums zurückzutreten?“
„Ja, kann ich länger meines Amtes in der Gemeinde walten, wenn die Saat des Misstrauens und der Verleumdung erst solche Früchte getragen hat?“
„Verleumdet man Sie, Herr Pfarrer?“ fragte Maria Stilke. Ihre Augen bekamen plötzlich einen leidenschaftlich erregten Ausdruck, Pfarrer Händel schien über die Frage zu erschrecken, denn er antwortete schnell, verwirrt:
„Du hast uns missverstanden“, und an den Kaplan gewandt: „Ich habe jetzt Unterricht zu erteilen und dann eine Beschwerde zu erledigen, die mir in meiner Eigenschaft als Lokalschulinspektor zugegangen ist.“
„Ich halte um vier Uhr den Rosenkranz ab.“ —
Maria war wieder allein. Die Einsamkeit drückte auf sie. Sie empfand sie doppelt schwer, da die Köchin sie keines Blickes würdigte, ihr kein gutes Wort gönnte. So nahm sie ihre Bücher vor und studierte. Die Zeit bis zur Seminarschlussprüfung würde schnell vorüber sein. Dann kam das letzte Examen, und schliesslich würde sich ihr die Welt öffnen, die ihr bis jetzt verschlossen gewesen, von der sie kaum etwas wusste. Sie würde in engste Verbindung mit dem Leben da draussen treten, das ihr ein Buch mit sieben Siegeln war.
Dann war sie Praktikantin, — Lehrerin.
Dann waren ihr, wenn auch noch unter Aufsicht, junge Menschenkinder anvertraut. Sie wollte wahrlich gut zu ihnen sein. Wenn sie an diese Kinder dachte, die sie noch gar nicht kannte, machte sie sich ganz bestimmte Vorstellungen. Der Knabe würde braune Augen, jener blonde Haare haben. Der würde ganz schwarz sein, und dann musste sie ein Mädchen in ihrer Klasse haben, das nie müde werden würde, zu fragen.
Sie stellte sich im Geiste vor, was sie auf allen Wissensdurst der Kinderseelen antworten würde. Von ihrem Geiste wollte sie ihnen geben, von ihrer Sehnsucht, von allem, was in ihr nach Leben und Betätigung drängte.
Und von ihrer Liebe . . .
Sie setzte sich an’s Fenster und sah auf die Strasse hinab. Dem Pfarrhof gegenüber lag das Gasthaus zur Post.
Vor der Posthalterei standen die gelbgestrichenen Wagen der Postillone. Einer tränkte eben die Pferde und sang:
Im Garten ein rot Blümelein
Steht leuchtend wie Blut,
Das brech’ ich am Abend fein
Und steck’ mir’s an Hut.
Dann schenk’ ich’s der Liebsten mein,
Die busselt’s und lacht.
Und da brennt das rot Blümelein
Wie ein Licht’l zur Nacht.
Über dem Eingang an der Wand, links und rechts in gleicher Höhe von der eichenen Tür mit schwerem Schnitzwert, befanden sich die verwitterten Bilder des Heiligen Antonius und Florian, der eine betend, auf einer Wolke schwebend, der andere in kriegerischer Rüstung, ein Miniaturbauernhaus löschend.
Marias Aufmerksamkeit wurde durch einen Fremden angezogen, der, ein Ränzel auf dem Rücken, einen derben Stock in der Hand, mit schnellem, elastischem Schritt dem Gasthof zustrebte.
In dem sonngebräunten, energisch geschnittenen Gesicht lag ein offener Ausdruck. Die hellen Augen waren voll Frohsinn und Heiterkeit. Maria Stilke beobachtete, wie er jedes Haus betrachtete, wie ihm nichts von jenen Einzelheiten entging, die auch ihre Freude bildeten, wenn sie durch das Dorf schritt: vor dem Bürgermeisterhof die breite Linde, das alte Bauernhaus, in dem sich die Käserei befand, und der geschmückte Ziehbrunnen davor, den ein goldverzierter heiliger Nepomuk beschützte.
Der Staub auf den Stiefeln des Wanderers lag dicht und zeugte von langem Marsch.
Wie er sich dem Pfarrhaus näherte, warf er einen Blick herauf. Da sah er das jugendliche Mädchen, und da sie nicht schnell genug über ihn hinwegblicken konnte, so begegneten sich ihre Augen.
Er zog den Hut, den er wohl auf früheren Wanderungen durch das bayrische Hochland mit Edelweiss geschmückt, und grüsste herauf; dabei lachte er übermütig. Maria aber wurde purpurrot und so verlegen, dass sie augenblicklich vom Fenster zurücktrat und sich in die Tiefe des Zimmers flüchtete. Eine heisse Welle ging über sie hinweg. Sie zitterte vor Aufregung.
Was war dem Fremden eingefallen? Wenn das Schwester Benedikta mit angesehen hätte!
War es nicht Sünde, sich von einem Unbekannten grüssen zu lassen?
Dann aber lächelte sie über sich selbst. Er hatte nichts an sich gehabt, das ihr Misstrauen gerechtfertigt hätte. Er war einfach und heiter gewesen und sein Gruss hatte sicher nur Höflichkeit ausgedrückt.
Sie war nun ärgerlich über sich selbst, ihm nicht wenigstens gedankt zu haben.
Als sie wieder an’s Fenster trat, sah sie ihn unter der Türe des Gasthauses stehen.
Er blickte verstohlen herüber. Sie setzte sich hinter die gehäkelten Vorhänge und beobachtete ihn.
Er mochte kaum dreissig sein. Das Gesicht beherrschten kühne, trotzige Augen. Die Lippen waren halb geöffnet und sogen begierig die mit Heu- und Blumenduft gesättigte Luft ein.
Eben kam der Kaplan aus der Kirche. Die Glocke läutete schon seit einer Weile; die Kirchtüren oben auf der kleinen Anhöhe standen weit offen und liessen die letzten Nachzügler heraus, die schwerfällig über die steinernen Stufen herabkamen.
Der Kaplan und der Fremde sahen sich einen Augenblick an, dann traten sie schnell auf einander zu und wechselten einige Worte. Sie hörte den Kaplan laut lachen. Er war immer lustig und guter