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Seit das Dach ausgebaut war, besaß sie endlich ein eigenes. Sie würde Musik hören, Joni Mitchell oder Leonard Cohen, lesen und warten, auf etwas, von dem sie nicht wusste, was es war.

      4

      Es wurde abends später und später, vor allem am Wochenende, zu spät, fanden ihre Eltern. Ich fahr noch mal los, rief sie in die Küche oder ins Wohnzimmer, ohne eine Antwort abzuwarten. Als Fünfzehnjährige oder als Sechzehnjährige fing sie an, eigene Wege zu gehen. Den Abend mit Mama Elisabeth auf dem Sofa zu verbringen, zu stricken oder zu nähen, das hatte sie lange genug gemacht. Mit Erfolg, sie lernte schnell, stellte sich geschickt an und verstand es bald, sogar leichte Sommerkleider zu nähen. Schneiderin, das wär ein Beruf für dich, sagte Mama Elisabeth, doch Lisa sah ihr an, dass sie diesen Gedanken selbst nicht ernst nahm. Lisas Augenbrauen schnellten in die Höhe, sie lächelte, dachte nicht daran, empört zu widersprechen.

      Das war ihr Haus, ihr Garten, und sie würde immer wieder an die Schlei zurückkehren, doch sie wusste, dass sie all das nach dem Abitur zurücklassen musste, zumindest eine Zeit lang. Sie spürte ihr Herz, wie es sich zusammenzog, wenn die Eltern gegen halb elf zu gähnen begannen und sich auf ihr Bett freuten. So leben wollte sie nicht.

      Ich fahr noch mal los. Am Freitag und Samstag, manchmal mittwochs. Als Vierzehnjährige ging sie mit den anderen zur Tanzschule nach Schleswig, lustlos eher. So aber kam sie einmal die Woche aus dem Haus – oder zweimal, wenn am Samstag Party war. Sie boykottierte den Abschlussball, versetzte den Lehrersohn, der die Augen und die Finger nicht von ihr lassen konnte. Bist du sicher?, flüsterte sie ihm ins Ohr, als er bei Seasons in the Sun das schummrige Licht ausnutzte und ihr mit seinen fahrigen Händen über den Hintern streichen wollte. Sie spürte seinen Atem, der weder gut noch schlecht roch, an ihrer Schulter. Sie wartete einige Takte ab, bis sie sich mit einem Ruck aus seiner Umarmung wand. Vergiss es, leck einer anderen den Hals.

      Sie tanzte allein weiter, zu Kung Fu Fighting, machte sich nichts daraus, dass die anderen ihr nachblickten und den Lehrersohn bemitleideten. Sie brauchte niemanden, um zu tanzen. Sie bestimmte, wer ihr an den Hintern fasste. Dass der sich sehen lassen konnte, war ihr klar.

      Als Fünfzehnjährige ließ sie sich nach Hause fahren, von einem, der einen roten Käfer fuhr, nicht mehr zur Schule ging und keine dummen Sprüche machte. Sie hatten ein Eis gegessen, bevor sie beschloss, mit ihm zu schlafen. Lass uns eine Runde drehen. Er zögerte, sah sie skeptisch an, sie wich seinem Blick nicht aus. Hast du keine Traute?

      Sie fuhren Richtung Ostsee. Er kenne da ein ruhiges Plätzchen, am Strand zwischen Damp und Schönhagen, da sei um die Zeit nichts mehr los. Sie setzte die Sonnenbrille auf, verzog keine Miene, als er an roten Ampeln seine Hand auf ihren Oberschenkel legte. Er war nervös, sie nicht. Sie sagten kein Wort, bis er in einer versteckten Parkbucht anhielt. Ein Dünenpfad führte zu einem Strandstück, zwei Lachmöwen trippelten am Wassersaum, in der Ferne bellte ein Hund.

      Er trat neben sie, fuhr mit seiner Linken durch ihr Haar, sie nahm die Sonnenbrille ab, sah ihn an, neugierig, mit einer Abwehr, die ein Hintertürchen offen ließ. Sie ließ sich küssen, wollte sehen, wie er sich dabei anstellte. Erste Kusserfahrungen hatte sie, fast alle enttäuschend. Es schien Jungen schwerzufallen, beim Küssen nur zu küssen. Das verstanden die wenigsten. Und wer nicht gut küsste, war chancenlos. Das dachte sie als Fünfzehnjährige, als Fünfundzwanzigjährige, als Fünfunddreißigjährige und als Fünfundvierzigjährige. Einer ihrer wenigen Grundsätze.

      Als Fünfzehnjährige am Strand zwischen Damp und Schönhagen drückte sie ein Auge zu. Er schob ihr seine Zunge hastig in den Mund.

      Immerhin hatte er scharf geschnittene Lippen. Der Junge am Strand, der fast schon ein Mann war, durfte sie in die Dünen ziehen, auf ein ausgespartes Sandstück, das gerade genug Platz bot. Sie nahm seit Kurzem die Pille, hatte Mama Elisabeth so eindringlich angesehen, dass keine Gegenrede kam und ihr tattriger Hausarzt das Rezept am nächsten Tag ausstellte. Du musst wissen, was du tust, pass aber auf.

      Schwarze Wolkenhügel türmten sich auf, es war fast Nacht, wenige Schiffslichter blinkten in regelmäßigem Rhythmus. Sie begann ihn auszuziehen. Er wich zurück, hatte damit nicht gerechnet, fügte sich … Und wenn sie als Fünfundzwanzigjährige an ihren ersten Sex, an diesen Sex zwischen Damp und Schönhagen zurückdachte, fiel ihr der Name des Jungen mit dem Käfer nicht mehr ein, aber sie erinnerte sich daran, dass es danach keinen Grund gab, aneinander vorbeizusehen.

      Auf der Rückfahrt legte er wieder seine Hand auf ihren Oberschenkel, und diesmal strahlte sie ihn an. Gut war es gewesen. Vielleicht würde sie Inger davon erzählen, ihren Eltern nicht.

      5

      Irgendwann will ich Kinder haben, viele. Sie hörte ihrer Schwester Anika zu und fragte: Bist du sicher? Wie unterschiedlich sie waren. Sie verstand sich gut mit Anika, bildete ein Bündnis mit ihr, gegen das die Eltern nicht ankamen. Anika ging auf die Realschule und machte danach eine Ausbildung, in einem Reisebüro. Glaub nur nicht, hatte sie gesagt, dass ich mich lange hinter einen Schreibtisch setze. Kinder will ich haben, und den Mann dazu finde ich. Lisa nickte und wusste, was sie nicht wollte.

      Als Achtzehnjährige hielt sie das Abiturzeugnis in Händen, keins mit Glanz und Gloria, doch eines, das sich sehen ließ. Vor allem in Deutsch und in den Fremdsprachen. Eine Woche später saß sie mit ihren Eltern und Anika in einem Hamburger Fischlokal, das in Restaurantführern gelobt wurde. Ein runder Tisch am Fenster mit Blick hinüber zu den ein- und ausfahrenden Containerschiffen und den Barkassen auf Hafentour. Die Aussicht erwies sich als nützlich, wenn das Gespräch ins Stocken geriet.

      Mama Elisabeth, der die Preise auf der Speisekarte einen Schock versetzt hatten, fragte, was sie nun machen wolle, nach diesem Abitur, auf das sie, die Eltern, natürlich mächtig stolz seien. Sie schwieg, konzentrierte sich auf die Dorade im Salzmantel – ein von hart gewordenem Meersalz umschlossener Fisch, der vom Kellner, der sich etwas darauf einbildete, in diesem Restaurant zu arbeiten, mit einem silbernen Hämmerchen aufgehauen wurde. Salzbrocken splitterten ab, fielen auf die Servierplatte, ein paar davon auf das weiße Tischtuch. Was der Kellner zu entschuldigen bat.

      Weiß nicht, Mama. Ich such mir erst mal einen Job, mach eine Ausbildung, Buchhändlerin vielleicht. Danach studier ich vielleicht. Ihre Eltern tauschten Blicke aus. Mama Elisabeth fand den Pannfisch zu trocken und die Senfsoße zu senfig. Papa Karl fragte, was die mit der Salzkruste der Dorade machen würden. Einfach wegwerfen?

      Was sie sagte, war das, was sie dachte. Wobei es ausgesprochen eindeutiger klang. So als hätte sie sich das ausgiebig überlegt, einen Plan für ihr Leben entworfen. Sie wollte Dinge ausprobieren, um herauszufinden, was sie fühlte, nachdem sie die Dinge ausprobiert hatte. Dass sie damit ihren Eltern viel abverlangte, war klar. Von deren Sicherheitsdenken hatte sie einiges abbekommen. Wird sich schon finden, dumm bin ich nicht.

      Hast du einen festen Freund, Lisa? Nein, Anika, hab ich nicht. Oder siehst du einen? Brauch auch keinen. Ihre Schwester lief ums Haus herum und sah im Schuppen nach. Nein, Lisa, da ist keiner, schade für dich. Ich hab die Tür zum Schuppen offen gelassen. Falls einer reinwill.

      Sie warf einen Topflappen, einen schmutzigen, nach ihrer Schwester, ohne ihr böse zu sein. Einerseits wollten alle, dass sie sich nicht zu früh festlegte, sich ihren Weg nicht verbaute, wie Mama Elisabeth sagte, und womöglich ein Kind bekam. Andererseits machte ihnen die Selbstständigkeit ihrer Tochter Angst. Werd du nur nicht hochmütig. Wir sind einfache Leute. Auf einen reichen Prinzen kannst du lange warten. Ein Prinz, Mama? Wo lebst du? Eher gehe ich ins Kloster!

      Als Achtzehnjährige wollte sie die Zeit still stehen lassen, einen Sommer lang. Sonntags am Mittagstisch gab sie bekannt, dass sie sich im Juli einen Ferienjob als Büroaushilfe oder in einer Boutique suchen und danach vier Wochen unterwegs sein werde. Mit dem Zug, Interrail, und mit Inger. Nach Griechenland. Ja, nur sie beide allein. Man zwang sie nicht, auf ihre Volljährigkeit zu pochen. Santorin und Kreta, sagte sie, das sei nichts Gefährliches, nicht mal für allein reisende junge Frauen. Sie gab sich Mühe, die Route bis ins Detail zu erklären, aus Nettigkeit, um ihren Eltern die Sorge zu nehmen.

      Wenn sie an Griechenland dachte, sah sie Aussteiger vor sich. Vom Süden Kretas las sie, von