anlangten, spürten sie davon nichts mehr. War Joni Mitchell nicht auch hier gewesen? Übrig gebliebene Althippies hockten im Sand, verdienten sich mit Aushilfsjobs ein paar Drachmen fürs Nötigste, rauchten Hasch und bedachten die Rucksacktouristen mit einem müden Lächeln. Auch Lisa und Inger, mit ihren Gestellen, die sie im Zug – über fünfzig Stunden lang – und auf den Fähren mit sich herumgeschleppten. Ein Trampergestell musste es sein, um echt zu wirken, ein Gestell, das auf der Fähre als Kopfstütze diente. Schafskäse, Gurken, Tomaten und Rotwein, damit bestritten sie die Wochen, die Reiseschecks im ledernen Brustbeutel verstaut, der sich vom Schweiß allmählich dunkel färbte.
Immerhin ließen sie einen in Ruhe, nachdem ihre Versuche, den Mädchen einen nächtlichen Höhlenaufenthalt schmackhaft zu machen, fehlgeschlagen waren. Sie hatte gefaucht, die englischen Schimpfwörter, die sie kannte, lautstark eingesetzt. Inger war ihr dankbar, wäre trotzdem um ein Haar abgereist.
Später, am Strand von Chania, trat sie in einen Seeigel. Sie suchte einen Dorfarzt auf, der keine Fremdsprachen verstand, ihr ein Antibiotikum verschrieb. Zwei Tage und Nächte blieb sie schwitzend in ihrer Unterkunft, einem weißen Haus mit blauen Fensterläden, verschanzte sich auf der Toilette und hoffte, dass sich die Seeigelstacheln bald aus ihrem Fuß lösten.
Die Wunde verheilte endlich, Inger war erleichterter als sie, und nach ein, zwei Tagen fühlte sie, wie die wirren Gedanken aus ihren morgendlichen Wachträumen verschwanden. Alles verblasste so angenehm, versank in wohligem Nebel. Sie blieb lange im Bett, schlug das dünne Laken um ihren nackten Körper, bis Inger von ihren Altstadtgängen zurückkehrte, einen Kaffee, ein Weißbrot mit Feigenmarmelade mitbrachte. Und davon erzählte, wer sie auf dem Markt angesprochen habe und wem sie in letzter Minute entkommen sei. Irgendwann, Inger, sagte sie, musst du stehen bleiben. Oder willst du vor allem davonrennen?
Ans Meer gehen, aufs Meer sehen, sich eincremen, ein Glas Wein trinken und keinmal auf die Uhr schauen. Zwei Ansichtskarten schickte sie nach Hause, mit wenig Text. Inger suchte alle paar Tage nach einer Telefonzelle, um ihre Eltern anzurufen. Lisa dachte nicht daran, solchen Aufwand zu betreiben. Kaufte einem Straßenhändler zwei Fleischspieße ab oder setzte sich in ein Café, wo alte Männer Holzkettchen durch ihre Finger gleiten ließen und diese junge schwarzhaarige Deutsche aus den Augenwinkeln musterten. Einen blaugrünen, furchtbar kitschigen Nixenkörper, um den sich Algen und anderes Gestrüpp rankten, und eine dieser Ketten mit dunkelblauen, an einem braunen Lederband aufgereihten Perlen erstand sie am letzten Tag ihrer Reise. Niemals hätte sie sich davon getrennt.
»Liebe Elisabeth, lieber Karl …«
Noch immer nicht mehr, auch auf dem neuen Blatt Papier nicht. Das alte verbrannte sie sorgfältig. Die Asche fiel in sich zusammen, auf dem Frühstücksteller Hahn und Henne, von dem sie schon als Kindergartenkind gegessen hat … »Seid nicht böse auf mich. Ich …« Der Stift rutschte ihr aus den feuchten Fingern. Sie nahm ein Papiertaschentuch, rieb sie trocken. Böse sein? Darum ging es nicht … Auf dem Balkon gegenüber schüttelte eine Frau ein Staubtuch aus. Das sah man selten in der Stadt. Ihre Mutter hatte das jeden Morgen gemacht, nicht aus dem Vorderfenster, nur nach hinten raus. »Weint nicht …«, wollte sie schreiben. Sie zerknüllte das Blatt, trommelte mit den Fäusten auf das Papierknäuel und weinte nicht.
6
Sie pendelte anfangs, als sie als Achtzehnjährige oder Neunzehnjährige ihre Ausbildung zur Buchhändlerin machte. Sie las im Bus und im Zug, jeden Morgen und jeden Abend, stand früher als Mama Elisabeth und Papa Karl auf, trank kaum mehr als einen Schluck Kaffee und kam abends spät zurück. Bis sie auf das Angebot einer Hamburger Tante einging, sich unter der Woche doch bei ihr in Eimsbüttel einzuquartieren. Ein Zimmer mit Dachschräge. Der Tante, die neugierig war, ging sie aus dem Weg. Sie arbeitete im Rundfunkarchiv und erzählte beglückt, wenn sie einem Künstler, Knut Kiesewetter oder Hilde Sicks, auf den Gängen des Senders begegnet war.
In der Filiale der Buchhandlung – ein gediegenes Familienunternehmen – fühlte sie sich wohl. Zehn Minuten zu Fuß brauchte sie. Aus dem, was ihr Kleiderschrank hergab, machte sie das Beste. Aussehen wie die älteren Kolleginnen, die in unförmigen Leinensäcken oder ausgebeulten Jeans zur Arbeit kamen, wollte sie nicht. Zusammen mit Mama Elisabeth hatte sie sich eine Handvoll Blusen und zwei Hosenröcke genäht, in denen sie älter aussah, als sie war.
Sie ignorierte den leisen Spott, wenn sie von ihrem Dorf an der Schlei erzählte. Als würden die alle aus den Elbvororten stammen. Sie stürzte sich auf die Vorabexemplare der Neuerscheinungen und scheute sich bald nicht mehr, in der Kaffeepause und bei Besprechungen ihre Meinung zu sagen. Nie als Erste oder Zweite, doch so, dass sie nicht zu überhören war. Nicht dumm, die Kleine, merkte der Filialleiter im Vorbeigehen an und strich ihr über den Oberarm.
Sie lehnte sich an ein Regal, um niemanden im Rücken zu haben, hörte zu und wartete darauf, wieder verkaufen zu dürfen. Die meisten Kunden wandten sich zuerst an die Stammbelegschaft, doch nach und nach spürten die Ersten, dass sie etwas von der Sache verstand und von den neuesten Krimis nahezu alle gelesen hatte. Vor allem an Samstagen kam sie aus dem Empfehlen und Abraten kaum mehr heraus. Männer um die dreißig, die sich unsicher im Laden bewegten, suchten ihre Nähe, ohne dass sie es darauf anlegte. Überrascht stellte sie fest, dass sie eine gute Verkäuferin war. Man vertraute ihr, und nach einigen Monaten hatte sie ihr Auftreten perfektioniert und setzte ihren zurückhaltenden Charme so ein, dass nicht einmal die skeptischsten Kolleginnen ihr etwas vorwerfen konnten. Schaut nur, wie die Lisa den Hübner um den Finger wickelt, der kauft gleich ein Handarbeitsbuch und lädt sie zum Strickabend ein.
Sie lästerte kaum über Kunden und strafte den Filialleiter mit einer liebenswürdigen Gleichgültigkeit, die ihn nervös machte. Wenn es etwas zu feiern gab, feierte sie mit, steuerte selbst gebackenen Rhabarber- oder Kirschkuchen bei, blieb bis zum Schluss und packte beim Aufräumen und Geschirrabwaschen mit an. So war sie es gewohnt.
Ab und zu traf sie sich mit Kolleginnen beim Italiener und hörte aufmerksam zu, wenn diese von zu Hause erzählten. Zwei, drei der jüngeren waren verheiratet und gaben ihren Job auf, sobald sich Nachwuchs einstellte. Sie interessierte sich für ihre Lebensentwürfe, obwohl sie ahnte, dass die meisten eher planlos agierten, in ihre Ehe, in ihr Familiendasein hineingestolpert waren und nun vor der Frage standen, ob man sich in Henstedt-Ulzburg oder Halstenbek ein Häuschen leisten oder auf eine Erbschaft, ein Grundstück spekulieren konnte. Andere wiederum wogen alles ab, taten keinen Schritt, ohne den nächsten im Blick zu haben. Sie wunderte sich über beide, über die Stolpernden und die Vorausschauenden. Fragen nach ihrer Zukunft wich sie aus. Gab Vages von sich, Sätze, die mit Auslassungspunkten endeten.
Alle paar Wochen gingen sie spontan zusammen aus, auf ein Glas Wein an der Alster. Private Grillabende lehnte sie ab, erfand Ausreden. Kinoeinladungen schlug sie aus, ins Kino ging sie allein. Den abgedunkelten Saal betreten, wenn Werbung und Trailer schon liefen, und sich an den Rand setzen. Mit keinem hätte sie während eines Films, mit keinem nach der Vorstellung reden wollen. Sie vergrub sich in ihren Sessel, verschränkte die Beine so, dass es nach dem Film eine Weile brauchte, um sie wieder zu entwirren, und vergaß das Drumherum. Saß jemand neben oder vor ihr? Sie wusste es bald nicht mehr. Eine zarte Traurigkeit überkam sie, jedes Mal, sie ließ sich hineinziehen in die Geschichte, fühlte sich als Teil davon. Je länger der Film war, umso besser, umso tiefer versank sie und umso verlorener stand sie danach auf der Straße, bog rasch um die Ecke und hoffte, niemandem zu begegnen.
So lachte sie für sich über die Beine von Fanny Ardant, die absichtlich an einem Kellerfenster vorbeischlenderte, um ihrem Arbeitgeber, einem des Mordes verdächtigen Makler, eine kleine Freude zu machen. Sie folgte den Schwarz-Weiß-Bildern, hatte nur Augen für Fanny Ardant und Jean-Louis Trintignant, den Makler, den Geliebten. Als Dreißigjährige oder Vierzigjährige würde sie lesen, dass Fanny Ardant drei Töchter von drei Männern bekommen und nie geheiratet hatte. Frei wolle sie sein, sagte sie in einem Interview, und wäre Lisa jemals interviewt worden, hätte sie nichts anderes gesagt. Das musste man aushalten. Auf Liebe und Tod hieß der Film.
Als Zwanzigjährige, in den letzten Wochen ihrer Ausbildung zur Buchhändlerin, beschloss sie von heute auf morgen, sich die Haare abschneiden zu lassen. Am Samstagnachmittag fuhr sie nach Ladenschluss ins Schanzenviertel und erklärte