zwanzig Minuten, Delilah«, drängt der Filmmann. »Bitte machen Sie es möglich – tun Sie mir den persönlichen Gefallen.«
»Zehn Minuten«, entschließt sie sich. »Punkt fünfzehn Uhr. Genau zehn Minuten später kommt das Taxi, das mich zum Flughafen bringt – Ihr Freund muß sich kurz fassen. Sagen Sie ihm bitta.« ihm das bitte.«
»Danke und guten Flug.« Gärig legt auf und macht Gremlitzka sprungbereit.
Mit dem Wagen ist es von Frankfurt nach Wiesbaden nur ein Katzensprung, aber man muß mit Staus rechnen; der Traumfabrikant hat die Zeit gleich mit eingeplant. Die Freiwillige Filmselbstkontrolle tagt ein paar Kilometer außerhalb der hessischen Landeshauptstadt in einem idyllischen Schloß, das ganz im Dienst der Flimmerkunst steht. Keiner der fast fünfhundert Filme im Jahr, auch kein ausländischer, darf in der Bundesrepublik öffentlich vorgeführt werden, wenn er die Prüfung auf Sex und Sünden nicht bestanden hat.
Es ist eine Zensur, wenn auch eine freiwillige. Die Mitglieder des Kontrollgremiums, unter ihnen natürlich auch Interessenvertreter der Filmindustrie, setzen sich nach dem üblichen Proporz zusammen. Vorsitzender ist ein evangelischer Pfarrer und Amateurcineast, der sich abwechselnd gegen den Vorwurf verteidigen muß, er leiste durch zu liberale Handhabung der Bestimmungen der Unmoral Vorschub oder er behindere als Berufsmoralist die freie Entfaltung der Filmkunst. Wie er auch entscheidet, es ist falsch, wenigstens nach Meinung der unterliegenden Partei.
Trotzdem stellt ein eigentlich Ohnmächtiger eine gewaltige Macht dar. Im Vorjahr zum Beispiel schrieb er 6483 Filmtheaterbesitzern, die über 2,7 Millionen Sitzplätze verfügen, vor, was sie spielen, und 818 Millionen Kinobesuchern – vielen also mehrmals –, was sie sehen durften. Ob Filme »jugendfrei« eingestuft werden oder das Prädikat »besonders wertvoll« erhalten, hat erhebliche kommerzielle wie steuerliche Auswirkungen.
Gärig hat Wiesbaden erreicht und fährt durch eine lange Allee nach Biebrich. Als er die Schloßeinfahrt passiert, sieht er vor dem Eingang seinen Hausautor Nurell mit betretenem Gesicht stehen. »Was ist denn los?« fährt er ihn an. »Warum sind Sie nicht in der Vorführung?«
»Verschoben auf vierzehn Uhr.«
»Warum?«
»Weil Schluckesaft nicht da war –«
»So stiehlt man uns die Zeit«, tobt Gärig. »Und wo ist der Scheißkerl jetzt?«
»Tot«, erwidert der verstörte Papierdramatiker, noch immer überrollt von einem echten Schicksal.
»Was sagen Sie da?« tönt Gärig erschrocken. »Unfall?« Er faßt sich wieder.
»So könnte man es nennen«, antwortet Nurell, der eigentlich Nuller heißt, doch mit so einem Namen in der Zelluloidbranche nicht glänzen kann. »Er hatte darum gebeten, bei der Vorführung von ›Liebe am Lago‹ dabei zu sein. Als Schluckesaft nicht erschienen war, erklärte sich der Vorsitzende bereit, die Vorführung um eine halbe Stunde zu verschieben, obwohl das Gremium zeitlich ziemlich im Druck ist. Er zog dann einen anderen Streifen vor, und ich fuhr ins Hotel, um Schluckesaft aufzustöbern.« Er unterbricht sich und schüttelt den Kopf, sein Gesicht verdüstert sich. »Als ich ankam, wurde er gerade hinausgetragen. In einer Blechwanne. Er ist beim Zähneputzen im Badezimmer einfach umgefallen. Herzinfarkt. Aus. Sense. Amen –«
»So eine verdammte Scheiße«, spricht Gärig einen ordinären Nachruf auf seinen Vielzweckdramaturgen. »So mußte es ja eines Tages kommen. Der Mann hat einfach zu schnell gelebt: zu viel Whisky, zu viele Zigaretten, zu üppiges Essen und Weiber am laufenden Band. Und zu Hause ständiger Krach mit seiner verbitterten Alten.«
»Das Schlimmste kommt noch«, berichtet Nurell weiter. »Die Polizei vernahm Gerda Forbes, unser Nachwuchs-Starlet. Schluckesaft hat gestern abend mit ihr geflirtet und sie dann in sein Hotel abgeschleppt. Dabei hat er sich übernommen.«
»Quatsch, diese Schnepfe ist doch im Bett steif wie ein Bügelbrett.« Gärig muß es ja wissen, schließlich hat er Gerda entdeckt, eine aus der riesigen Schar der Nackten und der Schönen, die ganz groß beim Film herauskommen wollen und häufig nicht auf der vertikalen, sondern auf der horizontalen Leinwand landen. »Haben Sie die Witwe verständigt?« fragt er dann.
»Das hat die Polizei übernommen«, versetzt Nurell kleinlaut.
»Tun Sie es gefälligst selbst«, fordert ihn Gärig auf. »Es ist persönlicher. Und kondolieren Sie Frau Schluckesaft in unser aller Namen.«
Nurell zögert noch.
»Los!« faucht ihn der Produzent an. »Worauf warten Sie noch?«
Schluckesaft wohnte, wie die meisten AUWAG-Leute, in Berlin, wo die Firma – sie verfügt in München noch über einen Zweitsitz – sich aus steuerlichen Gründen niedergelassen hat. Der Hausautor muß seine Kondolenzbeteuerungen telefonisch übermitteln.
»Ausgerechnet Gerda Forbes«, sagt Gärig später zu Dr. Kupski. Aufgebracht droht er: »Ich schmeiß’ diese Schlampe raus!«
»Das würde ich nicht tun, Gärig«, entgegnet der Syndikus. »Erstens redet sie dann schlecht über uns, und sie kennt ja den einen oder anderen recht gut.« Der Spott verformt seine Lippen. »Aber wenn’s wirklich zu einem Kladderadatsch und zu übler Nachrede käme, könnten wir diese bittere Lovestory werbemäßig doch bestens vermarkten.«
»Möglich«, erwidert Gärig zerstreut. »Aber dieser Schluckesaft ist einfach unersetzlich«, stöhnt er. »Vertraut mit allen Schlichen, Finten und Usancen unserer köstlichen Branche. Überhöhte Gagenforderungen hat er abgeschmettert, mit Agenten ist er klargekommen und mit Schauspielern und der Selbstkontrolle wie nichts fertig geworden.« Lamentierend setzt er hinzu: »Wer soll mir diesen Mann ersetzen?«
»Wie ich Sie kenne, werden Sie schon einen Ersatz finden – Schlitzohren gibt es ja genug in unserem Metier. Aber wie schlagen wir jetzt die Zeit bis zur Vorführung tot?«
»Ihr Problem, Doktor«, versetzt der Produzent. »Ich muß zurück nach Frankfurt. Ich hab’ weiß Gott was noch alles zu erledigen. Gehen Sie mit Nurell anständig essen und präsentieren Sie mir eine saftige Spesenrechnung.«
»Mir ist der Appetit inzwischen vergangen«, entgegnet der Jurist.
In diesem Moment kommt Nurell zurück. »Diese Idioten von Polizei«, schimpft er schon von weitem. »Sie haben der Witwe doch tatsächlich genau erzählt, was vorgefallen ist, und jetzt ist sie außer sich. Als ich sie trösten wollte, hat sie mitten im Gespräch aufgehängt. Erst beim dritten Versuch habe ich die Fortsetzung geschafft. Ich soll Ihnen, Herr Gärig, persönlich bestellen, daß sie mit keinem AUWAG-Menschen mehr etwas zu tun haben will und auch nicht an der Beerdigung ihres Mannes teilnehmen wird.«
»Dann legen wir den Toten auf Eis«, entscheidet der Traumfabrikant. »Eine Beerdigung paßt mir ohnedies jetzt nicht ins Konzept. Es ist ganz gut, wenn sie erst nach der Premiere und dem Luna-Jubiläum stattfindet – dann aber ganz groß.«
»Aber wenn Frau Schluckesaft tatsächlich mauert?«
»Lassen Sie sich deswegen keine grauen Haare wachsen«, versetzt Gärig. »Wenn wir über die Penunze sprechen, wird sie schon wieder mit uns zu tun haben wollen. Macht’s gut, Sportsfreunde!« verabschiedet er sich. »Tut mir leid, aber ihr müßt mit diesen Erbsenzählern allein fertig werden.«
Neben seinem Cadillac hält ein grauer Ford, seinem Aussehen nach nicht mehr der jüngste, aus dem der schärfste Kritiker der AUWAG-Filme klettert: Fred Schusser, trotz der Plattformschuhe, die er trägt, ein kleiner Mann mit spärlichem Kopfschmuck; die Haare hat er in erster Linie auf den Zähnen. Seine Kolumne wird von einem halben Dutzend Zeitungen nachgedruckt und weist dem journalistischen Fußvolk die Richtung; der Daumen zeigt nach unten wie bei Kaiser Nero im Amphitheater.
»Tag, die Herren«, sagt Schusser mit einem halbgaren Lächeln.
»Wenn ich Sie schon sehe, dann ist mir der ganze Tag verleidet«, brummelt Gärig undiplomatisch.
»Ganz meinerseits«, kontert der Scharfschütze der Feder und betritt