bin hinübergerannt zu dem Arzt gegenüber. Er war sehr nett und kam sofort mit mir, obwohl er die Praxis voller Patienten hatte. Er heißt Barrister, Michael Barrister. Er sagte mir, dass sie tot sei.«
3
»Das Essen wird wohl gleich serviert«, sagte Emanuel, als er ins Schlafzimmer trat. »Hallo, Kate. Pandora hat auch für dich gedeckt. Wie diese Frau einfach so weitermacht, ist mir ein Rätsel, aber sie hat ja noch nie etwas für die Polizei übriggehabt.«
»Du hältst dich auch ganz gut«, sagte Kate.
»Heute war es ja im Grunde noch so wie sonst. Die Patienten wussten noch nichts, bis auf den letzten um sechs Uhr. Der hatte eine Abendzeitung bei sich.«
»Wird es schon in der Zeitung erwähnt?«, fragte Nicola.
»Erwähnt? Ich fürchte, im Augenblick sind wir der Aufmacher. Psychiatrie, Couch, Patientin, männlicher Doktor, Messer – man kann es ihnen kaum verübeln. Lass uns den Jungen gute Nacht sagen und dann zu Abend essen.«
Doch es dauerte bis nach dem Dinner – sie waren inzwischen im Wohnzimmer –, ehe wieder von dem Mord die Rede war. Kate hatte halbwegs erwartet, dass Emanuel gleich verschwinden würde, aber anscheinend wollte er darüber reden. Normalerweise trieb ihn ein inneres Bedürfnis, »etwas zu tun«, »die Zeit zu nutzen«, von gesellschaftlichen Anlässen fort, und wenn er blieb, stand er unter dem Druck einer sich steigernden inneren Spannung. Aber heute Abend, da von draußen ein wirkliches Problem drohte, schien Emanuel sich fast dankbar und ganz entspannt in die Betrachtung einer Sache zu vertiefen, die sich außerhalb seiner Kontrolle befand. Dass der Mord etwas war, was von außen zu ihm eingedrungen war, verschaffte ihm so etwas wie Erleichterung. Kate bemerkte das und wusste, die Polizei würde seine Ruhe als ein Symptom missdeuten, als ein Zeichen von Schuld, obwohl es – wenn sie es nur wüssten – gerade Ausdruck seiner Unschuld war. Hätte er das Mädchen ermordet, dann wäre das Ganze natürlich kein Problem, das quasi draußen, vor der Tür, blieb. Aber welchen Polizisten auf der Welt könnte man von alledem überzeugen? Stern? Kate zwang sich, ihre Gedanken wieder auf die Fakten zu konzentrieren.
»Emanuel«, fragte sie, »wo bist du zwischen zehn vor elf und halb eins gewesen? Erzähl mir jetzt nicht, du hättest einen Schlag auf den Kopf bekommen und seist umhergeirrt, ohne zu wissen, wer du bist.«
Emanuel sah sie an, dann Nicola und sagte schließlich zu Kate: »Wie viel hat sie dir erzählt?«
»Nur, wie der normale Tag verlief, und natürlich ein, zwei Worte darüber, wie sie die Leiche gefunden hat. Die magische Stunde selbst haben wir für den Augenblick mal übersprungen.«
»Magisch ist das richtige Wort«, sagte Emanuel. »Das Ganze ist derart schlau eingefädelt, dass ich der Polizei wirklich keinen Vorwurf machen kann, wenn sie mich verdächtigt. Fast verdächtige ich mich selbst. Wenn du zu dem durchaus berechtigten Verdacht der Polizei den geheimnisumwobenen und noch immer, wie ich fürchte, nicht wirklich als amerikanisch akzeptierten Beruf des Psychiaters dazurechnest, ist es kein Wunder, wenn sie annehmen, dass ich durchgedreht sei und das Mädchen auf meiner Couch erdolcht hätte. Ich glaube, sie haben da keinerlei Zweifel.«
»Warum hat man dich nicht festgenommen?«
»Das habe ich mich auch gefragt und bin zu dem Schluss gekommen, dass es einfach noch nicht genug Beweise gegen mich gibt. Ich weiß nicht genau, was für eine Verhaftung alles erforderlich ist, aber ich denke mir, die Staatsanwaltschaft muss erst einmal überzeugt werden, dass die Beweise für eine Verurteilung ausreichen, bevor sie einer Verhaftung und einem Verfahren zustimmt. Ein wirklich kluger Anwalt (und sie nehmen an, dass ich mir den ohne Probleme leisten kann) würde das, was sie bisher gegen mich haben, praktisch in der Luft zerreißen. Für mich entstehen daraus folgende Probleme: Welche Auswirkungen wird die Sache für mich beruflich haben – ich ziehe vor, das vorerst zu ignorieren. Und: Solange sie glauben, dass ich es war, werden sie wenig tun, um den wahren Täter zu finden. In dem Fall ist dann so oder so das Urteil über mich schon gesprochen.«
Eine große Welle der Bewunderung und Zuneigung erfasste Kate für diesen zutiefst intelligenten und ehrlichen Mann. Niemand wusste besser als sie (oder vielleicht auch Nicola?), wie sehr es ihm an dem mangelte, was die kleinen alltäglichen Anforderungen an eine persönliche Beziehung anging, aber tief in seinem Innern spürte sie eine jeder Krise standhaltende Wahrhaftigkeit, eine Integrität, die nichts und niemand würde zerbrechen können. Sie war alt genug, um zu wissen: Wenn man jemandem begegnet, der über Intelligenz und Integrität gleichermaßen verfügte, dann hat man das große Los gezogen.
»Mich wundert, dass sie dich weiter deine Patienten empfangen lassen, sogar heute«, sagte Nicola mit sarkastischem Unterton. »Es könnte dich doch wieder überkommen, da wir das offensichtlich als Symptom deines Berufes ansehen sollen, und du könntest ein weiteres Opfer erdolchen. Würden sie dann nicht schön dumm dastehen?«
»Im Gegenteil«, sagte Kate unbeschwert. »Dann hätten sie den Fall doch im Kasten. Ich könnte mir vorstellen, dass sie sogar darauf hoffen und damit der letzte Zweifel weggewischt wäre, denn auch sie haben, auf ihre blässliche methodische Art, wohl tief in sich die Vermutung, dass Emanuel es vielleicht nicht gewesen sein könnte.« Emanuels Blick traf den ihren, dann schlug sie die Augen nieder, aber er hatte das Vertrauen in ihnen gesehen, und das hatte ihn gestärkt.
»Die Ironie der Geschichte, die selbst einen Shakespeare zum Heulen brächte«, sagte Emanuel, »ist, dass das Mädchen vor kurzem sehr wütend wurde, es fand also eine Übertragung statt. Als sie die heutige Stunde absagte, nahm ich an, dass es deswegen sei, und war nicht weiter überrascht. Wie schlau wir uns manchmal vorkommen!«
»Hat sie dich angerufen, um den Termin abzusagen?«
»Ich habe nicht mit ihr selbst gesprochen, aber das ist bei normalem Verlauf der Dinge auch nicht verwunderlich. Jedenfalls erfuhr ich um fünf vor elf, dass beide, sie und der Zwölf-Uhr-Patient – der dann später doch auftauchte und Nicki in die Situation brachte, die Leiche zu finden – ihre Termine abgesagt hatten.«
»Ist das nicht etwas ungewöhnlich?«
»Eigentlich nicht. Normalerweise passiert es zwar selten, dass gleich zwei Patienten hintereinander absagen, aber es kann vorkommen. Manchmal treffen Patienten auf solch eine Masse schwieriger Probleme, dass sie ihnen für eine Weile ausweichen. Das kommt im Verlauf jeder Analyse vor. Oder sie reden sich ein, dass sie sich zu müde fühlen, dass sie zu beschäftigt sind oder zu aufgeregt. Freud hat das schon sehr früh erkannt. Das ist einer der Gründe, warum wir unseren Patienten die verabredeten Stunden berechnen, auch wenn sie scheinbar – oder wirklich – eine ganz und gar einleuchtende Entschuldigung haben. Leute, die von der Psychiatrie nichts wissen, sind immer ganz schockiert und glauben, wir wollten nur Geld scheffeln, aber dieser ganze Mechanismus des Bezahlens und sogar der finanziellen Opfer, die für eine Analyse zu bringen sind, bilden einen wichtigen Teil der Therapie.«
»Wie hast du denn um fünf vor elf erfahren, dass beide abgesagt hatten?«
»Ich habe das Fernsprechamt angerufen, und sie haben es mir gesagt.«
»Das Fernsprechamt macht für dich den Auftragsdienst? Rufst du jede Stunde dort an?«
»Nein, nur wenn ich weiß, dass ein Anruf eingegangen ist.«
»Du meinst, während du mit einem Patienten sprachst, hat das Telefon geläutet, und du bist nicht drangegangen?«
»Das Telefon läutet nicht; es hat ein gelbes Lämpchen, das stattdessen aufleuchtet. Der Patient kann das von der Couch aus nicht sehen. Wenn ich nach dreimal Läuten bzw. Aufleuchten nicht abhebe, meldet sich der Auftragsdienst. Natürlich unterbreche ich nie einen Patienten, um ans Telefon zu gehen.«
»Konntest du erfahren, wer mit dem Auftragsdienst gesprochen und die Termine abgesagt hat? Waren es ein Mann und eine Frau, oder war es einer für beide oder was?«
»Ich habe natürlich als Erstes daran gedacht, aber als ich mit dem Auftragsdienst sprach, hatte jemand anders Dienst, und sie zeichnen die Anrufe nicht auf, sondern notieren nur die Nachricht und die Zeit. Zweifellos wird die Polizei dem noch genauer nachgehen.«