Oliver Fröhlich

Perry Rhodan 3107: Vor Trojas Toren


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vermutlich maschinellen Wesens, das jenseits des Bernsteingefängnisses schwebte und ihn mit einer schier endlosen Heldensaga über die Frühgeschichte der Gharsen vollplapperte.

      Seit wann steckte er in dieser durchscheinenden Hülle fest?

      Er wusste es nicht.

      Fünf Stunden? Sechs? Oder womöglich einen Tag?

      Der Gedanke nahm ihm den Atem und ließ sein Herz schneller schlagen. Er fühlte Schweiß auf der Stirn. Gerne hätte er ihn weggewischt, ehe er ihm in die Augen rann, aber das war unmöglich. Die Kunsthaut, die ihn umgab, gewährte nur minimalen Spielraum.

      Er konnte nicht sehen, ob die Schicht tatsächlich seinen gesamten Körper einhüllte. Dazu hätte er den Kopf neigen und an sich hinabschauen müssen. Aber egal, ob er mit den Fingern wackelte, den Beinen zuckte oder die Schultern hob, nach einem, maximal zwei Millimetern stieß er auf ein Hindernis.

      Obwohl sein Kerker nahezu durchsichtig war und lediglich einen bernsteinernen Schleier über sein Blickfeld legte, kam sich Overgaard eingesperrt vor. Nun, er war eingesperrt.

      Es fühlte sich an, als dränge die Kunsthaut von allen Seiten auf ihn ein und zerquetschte ihn. Ohne dass er sich dagegen wehren konnte, reagierte sein Körper auf die dümmste vorstellbare Art: einem Fluchtreflex. Die Muskeln in den Beinen und im Rücken spannten sich an, bereit loszuschnellen und Overgaard rennen zu lassen, so schnell es ging, weg, bloß weg, irgendwohin in Sicherheit. Nur würde das nicht geschehen können, und allein das Wissen darum ließ die Muskeln noch mehr verkrampfen.

      Reiß dich zusammen!, ermahnte er sich. Niemandem war damit geholfen, wenn er in Panik geriet. Am allerwenigsten ihm selbst.

      Ein kluger Ratschlag. Jemand, der Troja-Stigma nicht erlebt hatte, mochte ihn befolgen können. Ihm gelang es nicht.

      Die hauchdünne Schicht der Eingewöhnung und des Sich-Abfindens, die sich um seinen Geist gelegt hatte, barst. Vielleicht ließ auch die Medikation nach, mit der ihn sein Gefängnis offenbar ruhigzustellen versuchte.

      Mit einem Mal fühlte er sich wie vor fünf oder sechs Stunden – oder vor einem Tag? –, als er zum ersten Mal aus der Bewusstlosigkeit erwacht war.

      Sein Atem ging schnell und flach. Er glaubte, ersticken zu müssen, wollte um sich schlagen, schreien, wollte raus aus seinem Gefängnis.

      Thies Overgaard schloss die Augen, zwang sich, alles auszublenden und sich stattdessen auf die Luft zu konzentrieren, die in seine Lungen und wieder hinaus strömte. Einatmenausatmeneinatmenausatmen.

      Komm schon! Das kannst du besser.

      Er dachte an die Techniken, die ihm seine Therapeutin beigebracht hatte.

      Einatmen ausatmen einatmen.

      Allmählich wurde er ruhiger. Zumindest ein bisschen.

      Einatmen, ausatmen.

      Ein – aus. Ein – aus.

      Die Spannung der Muskeln ließ nach.

      Overgaard versuchte, nicht daran zu denken, dass dieser Zustand nicht lange anhalten würde. Dafür sorgte zweifellos bald sein hinterhältiges Gedächtnis, das ihn weiter in Endlosschleife mit der Stimme von Gramma Ellis und der Geschichte des Reisenden quälte, die ihn so sehr an seine eigene erinnerte.

      ... doch das Schiff geriet in einen Sturm, und das Ruderboot, in dem sich Gulliver zu retten versuchte, kenterte. Mit letzter Kraft kämpfte er sich durch die aufgepeitschte See und erreichte den Strand, wo er erschöpft einschlief. Aber, o weh, als er wieder erwachte, ...

      Sei still, Gramma! Ich will das nicht hören!

      ... als er wieder erwachte, fand er sich mit Schnüren an Armen, Beinen und Haaren an den Boden gefesselt und zu keiner Bewegung fähig.

      Sei still! Bitte!

      Die winzigen Wesen aus dem Volk der Liputensier, die ihn gefangen hielten, gaben ihm zu essen und zu trinken. Aber befreien, mein kleiner Thies, befreien mochten sie ihn nicht. Stattdessen erfreuten sie sich an ihrem wertvollen Fundstück, betrachteten es mit vielen Ahs und Ohs, kletterten auf ihm herum. Gewiss, sie kümmerten sich um ihn, führten zu seiner Zerstreuung Theaterstücke auf, doch wie es ihm tief in seinem Inneren ging, schien sie nicht zu interessieren.

      Overgaard öffnete die Augen. Erneut fiel sein Blick auf das vielleicht 30 Zentimeter große Maschinenwesen, das vor ihm schwebte und gerade die Sage von Thopsan, dem Galeristen, vortrug. Nach Überwindung der ersten sprachlichen Hürden hatte sich die Maschine als Dhoshaphard vorgestellt. Ob das ein Eigenname oder eine Tätigkeitsbezeichnung war, wusste Overgaard nicht. Es interessierte ihn auch nicht. Er sah in der Maschine seinen eigenen, privaten Liputensier, der ihm zur Zerstreuung ein Schauspiel darbot.

      Das Schlimme an Grammas Geschichte war, dass sich Overgaard nicht mehr an das Ende erinnern konnte. Hatte sich Gulliver schließlich befreit und war entkommen? Oder war er gezwungen gewesen, bis an sein Lebensende die Qualen zu ertragen, von denen sich seine Kerkermeister nicht einmal bewusst waren, dass sie sie ihm zufügten?

      Welche Rolle spielt es, was aus dem Kerl in einer uralten Erzählung geworden ist? Meinst du, nur weil es Ähnlichkeiten gibt, müsste deine Geschichte genauso enden? Du bist hier nicht in Liputanien, sondern in ...

      Ja, wo eigentlich?

      Er war sich nicht sicher. Der Schock nach dem ersten Erwachen und die Erkenntnis, bewegungslos gefangen zu sein – wieder einmal! –, hatten seinem Gedächtnis geschadet.

      Die Erinnerung an das Davor, an die letzten Ereignisse vor dem Erwachen, verschwammen in dichtem Nebel.

      Sein Schiff, die ROMEO CHO, war unter dem Kommando von Major Harper LeCount auf dem Planeten Fajem gelandet, das wusste Thies Overgaard noch. Eine dumme Idee, denn nur kurz danach hatte das Volk der Gharsen, von dem Overgaard nie zuvor gehört hatte, kurzerhand die Errichtung einer Diktatur über Fajem erklärt und ein striktes Startverbot für sämtliche Raumschiffe ausgesprochen. Oberhaupt der Gharsen war ein Kerl namens ...

      ... namens ...

      ... Khosen! Ja, so hieß er.

      Er bezeichnete sich selbst als »herrlichen Diktator«, obwohl nach Overgaards Auffassung die Bezeichnung »selbstherrlich« besser gepasst hätte.

      Was Major LeCount dazu veranlasst hatte, sich dem Verbot zu widersetzen, wusste Overgaard nicht mehr. Falls er es je gewusst hatte. Vielleicht ließ sich der Kommandant von einem Wildfremden nicht gerne Befehle erteilen. Vielleicht hatte er gefürchtet, die Gharsen könnten das Trojanische Imperium finden und ihm schaden, wenn sie auf die ROMEO CHO aufmerksam wurden. Aus welchem Grund auch immer, LeCount hatte den Start angeordnet. Und die Gharsen damit erst recht auf das Schiff aufmerksam gemacht.

      Kurz nach der Flucht, da ...

      An dieser Stelle setzte der Nebel ein. Overgaard erinnerte sich nur noch an Schreie der Besatzung, Schmerzen, Verwirrung, Schmerzen, Chaos und Schmerzen. Als endlich die Ohnmacht ihre Finger nach ihm ausstreckte, ergab er sich dankbar in ihren Griff.

      Aufgewacht war er ohne Schmerzen, doch leider auch ohne Orientierung und Bewegungsfreiheit.

      Vier oder fünf Panikanfälle und genauso viele medikamentös induzierte Ruhephasen später wusste er nicht wesentlich mehr. Er starrte in einen weiten Raum oder eine Halle von unbestimmter Höhe. Die Decke lag oberhalb des Sichtbereichs, den er nur mit Augenbewegungen absuchen konnte. Gelegentlich schwebten Gegenstände verschiedenster Art an ihm vorbei: Hiebwaffen mit langen Dornen und knorrigen Griffen, reich verzierte Schalen, ein grün glänzender Raumanzug von fremdartiger Fertigung, aber auch nicht identifizierbare Dinge aus Metall, Holz, Stein und sonstigen Materialien, bei denen es sich genauso gut um Werkzeuge wie um Waffen oder Artefakte handeln konnte.

      Ein Museum!, wurde ihm zum ersten Mal klar. Du bist ein Ausstellungsstück in einer bizarren Art von Museum!

      In einigen Metern Entfernung stand die Skulptur eines humanoiden Wesens auf einem Sockel, die ihm zuvor nicht aufgefallen war, vermutlich weil er bisher vorwiegend mit seinen inneren Befindlichkeiten beschäftigt