in Frage.“ Jadassohn wandte sich um, mit einem Gesicht, als sei er im Begriff, jemand hineinzulegen. Da er Diederichs beunruhigte Miene sah, [pg 454]kam er zurück. „In vier Wochen“, sagte er merkwürdig ernst und gefaßt, „werden Sie es selbst sehen. Vielleicht ist es vorzuziehen, wenn Sie die Öffentlichkeit schon jetzt darauf vorbereiten.“ Diederich, ergriffen wider Willen, fragte: „Was haben Sie vor?“ Und Jadassohn, bedeutungsschwer, mit dem Lächeln eines opfervollen Entschlusses: „Ich stehe im Begriff, meine äußere Erscheinung in Einklang zu bringen mit meinen nationalen Überzeugungen“ ... Als Diederich den Sinn dieser Worte erfaßt hatte, konnte er nur noch eine achtungsvolle Verbeugung machen; Jadassohn war schon fort. Dahinten flammten, nun er die Halle betrat, seine Ohren noch einmal – das letztemal! – auf, wie zwei Kirchenfenster im Abendschein.
Auf den Bahnhof zu rückte eine Gruppe von Männern, in deren Mitte eine Standarte schwebte. Einige Schutzleute kamen nicht eben leichtfüßig die Treppe herab und stellten sich ihnen entgegen. Alsbald stimmte die Gruppe die Internationale an. Gleichwohl ward ihr Ansturm von den Vertretern der Macht erfolgreich zurückgeschlagen. Mehrere kamen freilich durch und scharten sich um Napoleon Fischer, der, langatmig wie er war, seine bestickte Reisetasche beinahe am Boden schleppte. Beim Büfett erfrischte man sich nach diesen, in der Julisonne für die Sache des Umsturzes bestandenen Strapazen. Dann versuchte Napoleon Fischer auf dem Bahnsteig, da der Zug ohnedies Verspätung hatte, eine Ansprache zu halten; aber ein Polizist untersagte es dem Abgeordneten. Napoleon setzte die bestickte Tasche hin und fletschte die Zähne. Wie Diederich ihn kannte, war er im Begriff, einen Widerstand gegen die Staatsgewalt zu begehen. Zu seinem Glück fuhr der Zug ein – und erst jetzt ward Diederich auf einen untersetzten Herrn aufmerksam, der sich aber [pg 455]abwandte, wenn man um ihn herumging. Er hielt einen großen Blumenstrauß vor sich hin und sah dem Zug entgegen. Diederich kannte doch diese Schultern ... Das ging mit dem Teufel zu! Aus einem Coupé grüßte Judith Lauer, ihr Mann half ihr herunter, ja, er überreichte ihr den Blumenstrauß, und sie nahm ihn mit dem ernsten Lächeln, das sie hatte. Wie die beiden sich nach dem Ausgang wandten, ging Diederich ihnen schleunigst aus dem Weg, und er schnaufte dabei. Mit dem Teufel ging es nicht zu, Lauers Zeit war einfach herum, er war wieder frei. Nicht daß von ihm etwas zu fürchten stand, immerhin mußte man sich erst wieder daran gewöhnen, ihn draußen zu wissen ... Und mit einem Bukett holte er sie ab! Wußte er denn nichts? Er hatte doch Zeit gehabt, nachzudenken. Und sie, die zu ihm zurückkehrte, nachdem er fertig gesessen hatte! Es gab Verhältnisse, von denen man sich als anständiger Mensch nichts träumen ließ. Übrigens stand Diederich den Dingen nicht näher als jeder andere; er hatte damals nur seine Pflicht getan. „Alle werden dieselbe peinliche Empfindung haben wie ich. Man wird ihm allerseits zu verstehen geben, daß er am besten zu Hause bleibt ... Denn wie man sich bettet, liegt man.“ Käthchen Zillich hatte es begriffen und die richtige Folgerung gezogen. Was ihr recht war, konnte gewissen anderen Leuten billig sein, nicht nur dem Herrn Lauer.
Diederich selbst, der von achtungsvollen Grüßen geleitet durch die Stadt schritt, nahm jetzt auf die natürlichste Weise den Platz ein, den seine Verdienste ihm bereitet hatten. Durch diese harte Zeit hatte er sich nun so weit hindurchgekämpft, daß bloß noch die Früchte zu pflücken waren. Die anderen hatten angefangen an ihn zu glauben: alsbald kannte auch er keinen Zweifel mehr ... [pg 456]Über Gausenfeld liefen neuerdings ungünstige Gerüchte um, und die Aktien fielen. Woher wußte man, daß die Regierung der Fabrik ihre Aufträge entzogen und sie dem Heßlingschen Werk übertragen hatte? Diederich hatte nichts verlauten lassen, aber man wußte es, noch bevor die Arbeiterentlassungen kamen, die die „Netziger Zeitung“ so sehr bedauerte. Der alte Buck, als Vorsitzender des Aufsichtsrates, mußte sie leider persönlich anregen, was ihm allgemein schadete. Die Regierung ging wahrscheinlich nur wegen des alten Buck so scharf vor. Es war ein Fehler gewesen, ihn zum Vorsitzenden zu wählen. Überhaupt hätte er mit dem Geld, das Heßling ihm anständigerweise gegeben hatte, lieber Schulden bezahlen sollen, statt Gausenfelder Aktien zu kaufen. Diederich selbst äußerte überall diese Ansicht. „Wer hätte das früher von ihm gedacht!“ bemerkte er auch hierzu wieder, und wieder tat er einen gedankenvollen Blick in das Schicksal. „Man sieht, wozu einer imstande ist, der den Boden unter den Füßen verliert.“ Worauf jeder den beklemmenden Eindruck mitnahm, der alte Buck werde auch ihn selbst, als Aktionär von Gausenfeld, in seinen Ruin hineinreißen. Denn die Aktien fielen. Infolge der Entlassungen drohte ein Streik: sie fielen noch tiefer ... Hier machte Kienast sich Freunde. Kienast war unvermutet in Netzig eingetroffen, zur Erholung, wie er sagte. Keiner gestand es gern dem anderen ein, daß er Gausenfelder hatte und hereingefallen war. Kienast hinterbrachte es dem, daß jener schon verkauft habe. Seine persönliche Meinung war, daß es hohe Zeit sei. Ein Makler, den er übrigens nicht kannte, saß dann und wann im Café und kaufte. Einige Monate später brachte die Zeitung ein tägliches Inserat des Bankhauses Sanft & Co. Wer noch Gausen[pg 457]felder hatte, konnte sie hier mühelos abstoßen. Tatsächlich besaß zu Anfang des Herbstes kein Mensch mehr die faulen Papiere. Dagegen ging das Gerede, Heßling und Gausenfeld sollten fusioniert werden. Diederich zeigte sich verwundert. „Und der alte Herr Buck?“ fragte er. „Als Vorsitzender des Aufsichtsrates wird er wohl noch mitreden wollen. Oder hat er selbst schon verkauft?“ – „Der hat mehr Sorgen“, hieß es dann. Denn in seiner Beleidigungssache gegen die „Volksstimme“ war jetzt die Verhandlung anberaumt. „Er wird wohl hineinfliegen“, meinte man; und Diederich, mit vollkommener Sachlichkeit: „Schade um ihn. Dann hat er in seinem letzten Aufsichtsrat gesessen.“
In diesem Vorgefühl gingen alle zu der Verhandlung. Die auftretenden Zeugen erinnerten sich nicht. Klüsing hatte schon längst zu jedem vom Verkauf der Fabrik gesprochen. Hatte er von jenem Terrain besonders gesprochen? Und hatte er als den Unterhändler den alten Buck genannt? Dies alles blieb zweifelhaft. In den Kreisen der Stadtverordneten war bekannt gewesen, daß das Grundstück in Frage komme für das damals in Aussicht genommene Säuglingsheim. War Buck dafür gewesen? Jedenfalls nicht dagegen. Mehreren war es aufgefallen, wie lebhaft er sich für den Platz interessierte. Klüsing selbst, der noch immer krank war, hatte in seiner kommissarischen Vernehmung ausgesagt, sein Freund Buck sei bis vor kurzem bei ihm ein und aus gegangen. Wenn Buck ihm von dem Vorkaufsrecht auf das Terrain gesprochen haben sollte, so habe er dies keinesfalls in einem für Buck ehrenrührigen Sinne aufgefaßt ... Der Kläger Buck wünschte festgestellt zu sehen, daß der verstorbene Kühlemann es gewesen sei, der mit Klüsing verhandelt habe: Kühlemann selbst, der Spender des Geldes. Aber die [pg 458]Feststellung mißlang, Klüsings Aussage war unentschieden auch hierin. Daß Cohn es behauptete, war nicht wesentlich, da Cohn ein Interesse hatte, seinen eigenen Besuch in Gausenfeld harmlos erscheinen zu lassen. Als gewichtigster Zeuge blieb Diederich übrig, dem Klüsing geschrieben und der gleich darauf mit ihm eine Unterredung gehabt hatte. War damals ein Name gefallen? Er sagte aus:
„Mir lag nicht daran, den oder jenen Namen zu erfahren. Ich stelle fest, daß ich, was alle Zeugen bestätigen, niemals öffentlich den Namen des Herrn Buck genannt habe. Mein Interesse in der Sache war einzig das der Stadt, die nicht durch einzelne geschädigt werden sollte. Ich bin für die politische Moral eingetreten. Persönliche Gehässigkeit liegt mir fern, und es würde mir leid tun, wenn der Herr Kläger aus dieser Verhandlung nicht ganz vorwurfsfrei hervorgehen sollte.“
Seinen Worten folgte ein anerkennendes Gemurmel. Nur Buck schien unzufrieden; er fuhr auf, rot im Gesicht ... Diederich sollte nun angeben, welches seine persönliche Auffassung der Sache sei. Er setzte an: da trat Buck vor, straff aufgerichtet, und seine Augen flammten wieder, wie in der tragisch verlaufenen Wahlversammlung.
„Ich erlasse es dem Herrn Zeugen, ein schonendes Gutachten abzugeben über meine Person und mein Leben. Er ist nicht der Mann dazu. Seine Erfolge sind mit anderen Mitteln erreicht als die meinen, und sie haben einen anderen Gegenstand. Mein Haus war immer jedem offen und zugänglich, auch dem Herrn Zeugen. Mein Leben gehört seit mehr als fünfzig Jahren nicht mir, es gehört einem Gedanken, den zu meiner Zeit mehrere hatten, der Gerechtigkeit und dem Wohl aller. Ich war vermögend, als ich in die Öffentlichkeit trat. Wenn ich [pg 459]sie verlasse, werde ich arm sein. Ich brauche keine Verteidigung!“
Er schwieg, sein Gesicht zitterte noch – aber Diederich zuckte nur die Achseln. Auf welche Erfolge berief sich der Alte? Er hatte schon längst keine mehr und brachte nun hohle Worte vor, auf die niemand eine Hypothek gab. Er tat erhaben und befand sich schon unter den Rädern.