Heinrich Mann

Gesammelte Werke


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gelangte, die Drohung, von der er sich schon seit gestern den Erfolg versprach.

      „Angesichts Ihrer unritterlichen Weigerung, Herr Leutnant, sehe ich mich leider veranlaßt, Ihren Oberst von der Sache in Kenntnis zu setzen.“

      Wirklich schien Herr von Brietzen peinlich getroffen. Er fragte unsicher: „Was wollen Sie damit erreichen? Daß ich eine Moralpredigt kriege? Na schön. Im übrigen aber –“ Herr von Brietzen festigte sich wieder, „was Ritterlichkeit ist, darüber denkt der Oberst denn doch wohl etwas anders als ein Herr, der sich nicht schlägt.“

      Da aber stieg Diederich. Herr von Brietzen möge gefälligst seine Zunge hüten, sonst könne es ihm passieren, daß er es mit der Neuteutonia zu tun bekomme! Ihm, Diederich, sei der freudige Blutverlust für die Ehre der Farben durch seine Schmisse bescheinigt! Er wolle dem Herrn Leutnant wünschen, daß er einmal in den Fall komme, einen Grafen von Tauern-Bärenheim zu fordern! „Ich hab’ ihn glatt gefordert!“ Und im selben Atem behauptete er, daß er so einem frechen Junker noch lange nicht das Recht einräume, einen bürgerlichen Mann und Familienvater nur so abzuschießen. „Die Schwester [pg 428]verführen und den Bruder abschießen, das möchten Sie wohl!“ rief er, außer sich. Herr von Brietzen, in einem ähnlichen Zustand wie Diederich, sprach davon, dem Koofmich von seinem Burschen die Fresse einschlagen zu lassen; und da der Bursche schon bereitstand, räumte Diederich das Feld, aber nicht ohne einen letzten Schuß. „Wenn Sie meinen, für Ihre Frechheiten bewilligen wir Ihnen auch noch die Militärvorlage! Sie sollen sehen, was Umsturz ist!“

      Draußen in der einsamen Allee wütete er weiter, zeigte dem unsichtbaren Feinde die Faust und stieß Drohungen aus. „Das kann euch schlecht bekommen! Wenn wir mal Schluß machen!“ Plötzlich bemerkte er, daß die Gärten noch immer zum Frühlingshimmel zwitscherten und dufteten, und es ward ihm klar, selbst die Natur, mochte sie schmeicheln oder die Zähne zeigen, war ohne Einfluß auf die Macht, die Macht über uns, die ganz unerschütterlich ist. Mit dem Umsturz war leicht drohen; aber das Kaiser-Wilhelm-Denkmal? Wulckow und Gausenfeld? Wer treten wollte, mußte sich treten lassen, das war das eherne Gesetz der Macht. Diederich, nach seinem Anfall von Auflehnung, fühlte schon wieder den heimlichen Schauer dessen, den sie tritt ... Ein Wagen kam von dort hinten: Herr von Brietzen mit seinem Koffer. Diederich, ehe er es bedachte, machte halb Front, bereit zu grüßen. Aber Herr von Brietzen sah weg. Diederich freute sich, trotz allem, des frischen und ritterlichen jungen Offiziers. „Den macht uns niemand nach“, stellte er fest.

      Freilich, nun er die Meisestraße betrat, ward ihm beklommen. Von weitem sah er Emmi nach ihm ausspähen. Ihm fiel auf einmal ein, was sie in der vergangenen Stunde, die ihr Schicksal entschied, durchgemacht haben mußte. Arme Emmi, nun war es entschieden. [pg 429]Die Macht war wohl erhebend, aber wenn es die eigene Schwester traf –. „Ich habe nicht gewußt, daß es mir so nahegehen würde.“ Er nickte hinauf, so ermunternd wie möglich. Sie war viel schmaler geworden, warum sah das niemand? Unter ihrem blaß flimmernden Haar hatte sie große schlaflose Augen, ihre Lippe zitterte, als er ihr zuwinkte; auch das fing er auf in seiner scharfsichtigen Angst. Die Treppe hinauf schlich er fast. Im ersten Stock kam sie aus dem Zimmer und ging vor ihm her in den zweiten. Oben drehte sie sich um – und als sie sein Gesicht gesehen hatte, ging sie hinein ohne eine Frage, ging bis zum Fenster und blieb abgewendet stehen. Er raffte sich zusammen, er sagte laut: „Oh! noch ist nichts verloren.“ Darauf erschrak er und schloß die Augen. Da er aufstöhnte, wandte sie sich um, kam langsam herbei und legte, um mitzuweinen, den Kopf an seine Schulter.

      Nachher hatte er einen Auftritt mit Guste, die hetzen wollte. Diederich sagte ihr auf den Kopf zu, daß sie Emmis Unglück nur mißbrauche, um sich zu rächen für die ihr nicht gerade günstigen Umstände, unter denen sie selbst geheiratet worden war. „Emmi läuft wenigstens keinem nach.“ Guste kreischte auf. „Bin ich dir vielleicht nachgelaufen?“ Er schnitt ab. „Überhaupt ist sie meine Schwester!“ ... Und da sie nun unter seinem Schutz lebte, fing er an, sie interessant zu finden und ihr eine ungewöhnliche Achtung zu erweisen. Nach dem Essen küßte er ihr die Hand, mochte Guste grinsen. Er verglich die beiden; wieviel gemeiner war Guste! Magda selbst, die er bevorzugt hatte, weil sie Erfolg gehabt hatte, kam in seiner Erinnerung nicht mehr auf gegen die verlassene Emmi. Denn Emmi war durch ihr Unglück feiner und gewissermaßen ungreifbarer geworden. Wenn ihre Hand so bleich [pg 430]und abwesend dalag und Emmi stumm in sich versenkt war wie in einen unbekannten Abgrund, fühlte Diederich sich berührt von der Ahnung einer tieferen Welt. Die Eigenschaft als Gefallene, unheimlich und verächtlich bei jeder anderen, um Emmi, Diederichs Schwester, legte sie eine Luft von seltsamem Schimmer und fragwürdiger Anziehung. Glänzender zugleich und rührender war nun Emmi.

      Der Leutnant, der das alles veranlaßt hatte, verlor erheblich gegen sie – und mit ihm die Macht, in deren Namen er triumphiert hatte. Diederich erfuhr, daß sie manchmal einen gemeinen und niedrigen Anblick bieten könne: die Macht und alles, was in ihren Spuren ging, Erfolg, Ehre, Gesinnung. Er sah Emmi an und mußte zweifeln an dem Wert dessen, was er erreicht hatte oder noch erstrebte: Gustes und ihres Geldes, des Denkmals, der hohen Gunst, Gausenfelds, der Auszeichnungen und Ämter. Er sah Emmi an und dachte auch an Agnes. Agnes, die Weichheit und Liebe in ihm gepflegt hatte, sie war in seinem Leben das Wahre gewesen, er hätte es festhalten sollen! Wo war sie jetzt? Tot? Er saß manchmal da, den Kopf in den Händen. Was hatte er nun? Was hatte man vom Dienst der Macht? Wieder einmal versagte alles, alle verrieten ihn, mißbrauchten seine reinsten Absichten, und der alte Buck beherrschte die Lage. Agnes, die nichts vermochte als leiden, es beschlich ihn, als ob sie gesiegt habe. Er schrieb nach Berlin und erkundigte sich nach ihr. Sie war verheiratet und leidlich gesund. Das erleichterte ihn, aber irgendwie enttäuschte es ihn auch.

      Aber während er, den Kopf in den Händen, dasaß, kam der Wahltag herbei. Erfüllt von der Eitelkeit der Dinge, hatte Diederich von allem, was vorging, nichts mehr sehen [pg 431]wollen, auch nicht, daß die Miene seines Maschinenmeisters immer feindlicher ward. Am Sonntag der Wahl, frühmorgens, als Diederich noch im Bett lag, trat Napoleon Fischer bei ihm ein. Ohne sich im geringsten zu entschuldigen, begann er: „Ein ernstes Wort in letzter Stunde, Herr Doktor!“ Diesmal war er es, der Verrat witterte und sich auf den Pakt berief. „Ihre Politik, Herr Doktor, hat ein doppeltes Gesicht. Uns haben Sie Versprechungen gemacht, und loyal, wie wir sind, haben wir gegen Sie nicht agitiert, sondern bloß gegen den Freisinn.“

      „Wir auch“, behauptete Diederich.

      „Das glauben Sie selbst nicht. Sie haben sich bei Heuteufel angebiedert. Er hat Ihnen Ihr Denkmal schon bewilligt. Wenn Sie nicht gleich heute mit fliegenden Fahnen zu ihm übergehen, dann tun Sie es sicher bei der Stichwahl und treiben schnöden Volksverrat.“

      Napoleon Fischer tat, die Arme verschränkt, noch einen langen Schritt auf das Bett zu. „Sie sollen bloß wissen, Herr Doktor, daß wir die Augen offen halten.“

      Diederich sah sich in seinem Bett hilflos dem politischen Gegner ausgeliefert. Er suchte ihn zu besänftigen. „Ich weiß, Fischer, Sie sind ein großer Politiker. Sie sollten in den Reichstag kommen.“

      „Stimmt.“ Napoleon blinzte von unten. „Denn wenn ich nicht hineinkomme, dann geht in Netzig in mehreren Betrieben ein Streik los. Einen von den Betrieben kennen Sie ziemlich genau, Herr Doktor.“ Er machte kehrt. Von der Tür her faßte er Diederich, der vor Schreck ganz in die Federn gerutscht war, nochmals ins Auge. „Und darum hoch die internationale Sozialdemokratie!“ rief er und ging ab.

      Diederich rief aus seinen Federn: „Seine Majestät, der Kaiser hurra!“ Dann aber blieb nichts übrig, als [pg 432]der Lage ins Gesicht zu sehen. Sie sah drohend genug aus. Schwer von Ahnungen eilte er auf die Straße, in den Kriegerverein, zu Klappsch, und überall mußte er erkennen, daß in den Tagen seiner Mutlosigkeit die tückische Taktik des alten Buck weitere Erfolge zu verzeichnen gehabt hatte. Die Partei des Kaisers war verwässert durch Zulauf aus den Reihen des Freisinns und der Abstand Kunzes von Heuteufel unbeträchtlich gegen die Kluft zwischen ihm und Napoleon Fischer. Pastor Zillich, der mit seinem Schwager Heuteufel einen verschämten Gruß austauschte, erklärte, daß die Partei des Kaisers mit ihrem Erfolg zufrieden sein dürfe, denn sicher habe sie dem Kandidaten des Freisinns, wenn er schließlich siege, das nationale Gewissen gestärkt. Da Professor Kühnchen sich ähnlich äußerte, war der Verdacht nicht von der Hand zu weisen,