sollten. Das rastloseste Pflichtgefühl aber beseelte doch Diederich. Er verschmähte jede Ruhe; seiner Gattin, die im Bett lag und ihn mit Vorwürfen empfing, erwiderte er blitzend: „Mein Kaiser hat ans Schwert geschlagen, und wenn mein Kaiser ans Schwert schlägt, dann gibt es keine ehelichen Pflichten mehr. Verstanden?“ Worauf Guste sich schroff herumwarf und das mit ihren hinteren Reizen ausgefüllte Federbett wie einen Turm zwischen sich und den Ungefälligen stellte. Diederich unterdrückte das Bedauern, das ihn beschleichen wollte, und schrieb ungesäumt einen Warnruf gegen das freisinnige Säuglingsheim. Die „Netziger Zeitung“ brachte ihn auch, obwohl sie vor zwei Tagen aus der Feder des Herrn Doktors Heuteufel eine überaus warme Empfehlung des Säuglingsheims gebracht hatte. Denn, wie der Redakteur Nothgroschen hinzusetzte, das Organ des gebildeten Bürgertums war es seinen Abonnenten schuldig, an jede neu auftauchende Idee vor allem den Prüfstein seines Kulturgewissens zu legen. Und dies tat Diederich in geradezu vernichtender Weise. Für wen war so ein Säuglingsheim naturgemäß in erster Linie bestimmt? Für die unehelichen Kinder. Was begünstigte es also? Das Laster. Hatten wir das nötig? Nicht die [pg 407]Spur; „denn wir sind Gott sei Dank nicht in der traurigen Lage der Franzosen, die durch die Folgen ihrer demokratischen Zuchtlosigkeit schon so gut wie auf den Aussterbeetat gesetzt sind. Die mögen uneheliche Geburten preiskrönen, weil sie sonst keine Soldaten mehr haben. Wir aber sind nicht angefault, wir erfreuen uns eines unerschöpflichen Nachwuchses! Wir sind das Salz der Erde!“ Und Diederich rechnete den Abonnenten der „Netziger Zeitung“ vor, bis wann sie und ihresgleichen hundert Millionen betragen würden, und wie lange es höchstens noch dauern könne, bis die Erde deutsch sei.
Hiermit waren, nach der Meinung des nationalen Komitees, die Vorbereitungen getroffen für die erste Wahlversammlung der „Partei des Kaisers“. Sie sollte bei Klappsch sein, der seinen Saal patriotisch aufgemacht hatte. In Tannenkränzen glühten Transparente: „Der Wille des Königs ist das höchste Gebot.“ „Es gibt für euch nur einen Feind, und der ist mein Feind.“ „Die Sozialdemokratie nehme ich auf mich.“ „Mein Kurs ist der richtige.“ „Bürger, erwacht aus dem Schlummer!“ Für das Erwachen sorgten Klappsch und Fräulein Klappsch, indem sie überall immer frisches Bier hinstellte, ohne so peinlich wie sonst die Bierfilze aufzuhäufen. So ward Kunze, als der Vorsitzende, Pastor Zillich, ihn der Versammlung vorstellte, schon mit Stimmung aufgenommen. Diederich freilich, hinter der Rauchwolke, in der das Bureau saß, machte die unliebsame Bemerkung, daß auch Heuteufel, Cohn und einige von ihrem Anhang in den Saal gelangt waren. Er stellte Gottlieb Hornung zur Rede, denn Hornung hatte die Aufsicht. Aber er wollte sich nichts sagen lassen, er war gereizt, es hatte ihn zu große Mühe gekostet, die Leute zusammenzutreiben. [pg 408]So viele Lieferanten wie das Kaiser-Wilhelm-Denkmal dank seiner Agitation nun schon hatte, konnte die Stadt nie bezahlen, und wenn der alte Kühlemann dreimal starb! Geschwollene Hände hatte Hornung von den Begrüßungen all der neubekehrten Patrioten! Zumutungen hatten sie an ihn gestellt! Daß er sich mit einem Drogisten assoziieren sollte, war noch das wenigste. Aber Gottlieb Hornung protestierte gegen diesen demokratischen Mangel an Distanz. Der Besitzer der Löwenapotheke hatte ihm soeben gekündigt, und er war entschlossener als je, weder Schwämme noch Zahnbürsten zu verkaufen.... Inzwischen stammelte Kunze an seiner Kandidatenrede. Denn seine finstere Miene täuschte Diederich nicht darüber, daß der Major dessen, was er sagen wollte, durchaus nicht sicher war und daß der Wahlkampf ihn befangener machte, als der Ernstfall es getan haben würde. Er sagte: „Meine Herren, das Heer ist die einzige Säule“, da jedoch einer aus der Gegend Heuteufels dazwischenrief: „Schon faul!“, verwirrte Kunze sich sogleich und setzte hinzu: „Aber wer bezahlt es? Der Bürger.“ Worauf die um Heuteufel Bravo riefen. Hierdurch in eine falsche Richtung gedrängt, erklärte Kunze: „Darum sind wir alle Säulen, das dürfen wir wohl verlangen, und wehe dem Monarchen –“ „Sehr richtig!“ antworteten freisinnige Stimmen, und die gutgläubigen Patrioten schrien mit. Der Major wischte sich den Schweiß; ohne sein Zutun nahm seine Rede einen Verlauf, als hielte er sie im liberalen Verein. Diederich zog ihn von hinten am Rockschoß, er beschwor ihn, Schluß zu machen, aber Kunze versuchte es vergebens: den Übergang zur Wahlparole der „Partei des Kaisers“ fand er nicht. Am Ende verlor er die Geduld, ward jäh dunkelrot und stieß mit unver[pg 409]mittelter Wildheit hervor: „Ausrotten bis auf den letzten Stumpf! Hurra!“ Der Kriegerverein donnerte Beifall. Wo nicht mitgeschrien wurde, erschienen auf Diederichs Wink eilends Klappsch oder Fräulein Klappsch.
Zur Diskussion meldete sich alsbald Doktor Heuteufel, aber Gottlieb Hornung kam ihm zuvor. Diederich für seine Person blieb lieber im Hintergrund, hinter der Rauchwolke des Präsidiums. Er hatte Hornung zehn Mark versprochen, und Hornung war nicht in der Lage, sie auszuschlagen. Knirschend trat er an den Rand der Bühne und erläuterte die Rede des verehrten Herrn Majors dahin, daß das Heer, für das wir alle zu jedem Opfer bereit seien, unser Bollwerk gegen die Schlammflut der Demokratie sei. „Die Demokratie ist die Weltanschauung der Halbgebildeten“, stellte der Apotheker fest. „Die Wissenschaft hat sie überwunden.“ „Sehr richtig!“ rief jemand; es war der Drogist, der sich mit ihm assoziieren wollte. „Herren und Knechte wird es immer geben!“ bestimmte Gottlieb Hornung, „denn in der Natur ist es auch so. Und es ist daß einzig Wahre, denn jeder muß über sich einen haben, vor dem er Angst hat, und einen unter sich, der vor ihm Angst hat. Wohin kämen wir sonst! Wenn der erste beste sich einbildet, er ist ganz für sich selbst was und alle sind gleich! Wehe dem Volk, dessen überkommene, ehrwürdige Formen sich erst in den demokratischen Mischmasch auflösen, und wo der zersetzende Standpunkt der Persönlichkeit das Übergewicht bekommt!“ Hier verschränkte Gottlieb Hornung die Arme und schob den Nacken vor. „Ich,“ rief er, „der ich einer hochfeinen Verbindung angehört habe und den freudigen Blutverlust für die Ehre der Farben kenne, ich bedanke mich dafür, daß ich Zahnbürsten verkaufen soll!“
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„Und Schwämme auch nicht?“ fragte jemand.
„Auch nicht!“ entschied Hornung. „Ich verbitte mir ganz energisch, daß noch mal einer kommt. Man soll immer wissen, wen man vor sich hat. Jedem das Seine. Und in diesem Sinne geben wir unsere Stimme nur einem Kandidaten, der dem Kaiser so viel Soldaten bewilligt, als er haben will. Denn entweder haben wir einen Kaiser oder nicht!“
Damit trat Gottlieb Hornung zurück und sah, den Unterkiefer vorgeschoben, aus gefalteten Brauen in das Beifallsgebrause. Der Kriegerverein ließ es sich nicht nehmen, mit geschwungenen Biergläsern an ihm und Kunze vorbeizudefilieren. Kunze nahm Händedrücke entgegen, Hornung stand ehern da – und Diederich konnte nicht umhin, mit Bitterkeit zu empfinden, daß diese beiden zweitklassigen Persönlichkeiten den Vorteil hatten von einer Gelegenheit, die sein Werk war. Er mußte ihnen die Volksgunst des Augenblicks wohl lassen, denn er wußte besser als die beiden Gimpel, wo dies hinauswollte. Da der nationale Kandidat am Ende nur dazu da war, eine Hilfstruppe für Napoleon Fischer anzuwerben, tat man gut daran, sich nicht selbst hinauszustellen. Heuteufel freilich legte es darauf an, Diederich hervorzulocken. Der Vorsitzende, Pastor Zillich, konnte ihm das Wort nicht länger verweigern, sofort begann er vom Säuglingsheim. Das Säuglingsheim sei eine Sache des sozialen Gewissens und der Humanität. Was aber sei das Kaiser-Wilhelm-Denkmal? Eine Spekulation, und die Eitelkeit sei noch der anständigste der Triebe, auf die spekuliert werde.... Die Lieferanten dort unten hörten zu in einer Stille voll peinlicher Gefühle, denen hier und da ein dumpfes Murren entstieg. Diederich bebte. „Es gibt Leute,“ behauptete Heuteufel, „denen es auf hundert Millionen mehr für das [pg 411]Militär nicht ankommt, denn sie wissen schon, womit sie es für ihre Person wieder hereinbringen.“ Da schnellte Diederich auf: „Ich bitte ums Wort!“ und mit Bravo! Hoho! Abtreten! explodierten die Gefühle der Lieferanten. Sie grölten, bis Heuteufel fort war und Diederich dastand.
Diederich wartete lange, bevor das Meer der nationalen Empörung sich beruhigte. Dann begann er. „Meine Herren!“ „Bravo!“ schrien die Lieferanten, und Diederich mußte weiter warten in der Atmosphäre gleichgestimmter Gemüter, worin das Atmen ihm leicht war. Als sie ihn reden ließen, gab er der allgemeinen Empörung Worte, daß der Vorredner es habe wagen können, die Versammlung in ihrer nationalen Gesinnung zu verdächtigen. „Unerhört!“ riefen die Lieferanten. „Das beweist uns nur,“ rief Diederich, „wie zeitgemäß die Gründung der ‚Partei des Kaisers‘ war! Der Kaiser selbst hat befohlen, daß alle diejenigen sich zusammenschließen, die, ob edel oder unfrei, ihn von der