Heinrich Mann

Gesammelte Werke


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Bahnhof gedrängt, bis an den Rand eines weiten Platzes und in die Straßen dahinter, die sofort wieder abgesperrt wurden. Aber Diederich, in entfesselter Begeisterung, durchbrach die Schranken. Guste, die entsetzt die Arme reckte, ließ er mit allem Handgepäck dastehen und stürzte drauflos. Schon war er inmitten des Platzes; zwei Soldaten mit Federhüten jagten ihm nach, daß ihre bunten Frackschöße flogen. Da schritten die Bahnhofsrampe mehrere Herren herab, und [pg 390]alsbald fuhr ein Wagen auf Diederich zu. Diederich schwenkte den Hut, er brüllte auf, daß die Herren im Wagen ihr Gespräch unterbrachen. Der rechts neigte sich vor – und sie sahen einander an, Diederich und sein Kaiser. Der Kaiser lächelte kalt prüfend mit den Augenfalten, und die Falten am Mund ließ er ein wenig herab. Diederich lief ein Stück mit, die Augen weit aufgerissen, immer schreiend und den Hut schwenkend, und einige Sekunden lang waren sie, indes ringsum dahinten eine fremde Menge ihnen Beifall klatschte, in der Mitte des leeren Platzes und unter einem knallblauen Himmel ganz miteinander allein, der Kaiser und sein Untertan.

      Schon verschwand der Wagen drüben in der beflaggten Straße, die Hochrufe schwollen schon ab in der Ferne, und Diederich, der aufseufzte und die Augen schloß, setzte den Hut wieder auf.

      Guste winkte ihn krampfhaft herbei, und die Leute, die noch umherstanden, klatschten ihm zu, mit Gesichtern voll heiteren Wohlwollens. Auch die Soldaten, die vorhin ihn verfolgt hatten, lachten nun. Einer von ihnen ging in seiner Teilnahme so weit, daß er einen Kutscher herbeirief. Wie er abfuhr, grüßte Diederich die Menge. „Sie sind wie die Kinder“, erklärte er seiner Gattin. „Na, aber auch entsprechend schlapp“, setzte er hinzu, und er gestand: „In Berlin wäre das denn doch nicht gegangen ... Wenn ich an den Krawall Unter den Linden denke, der Betrieb war ’n bißchen schärfer.“ Und er setzte sich zurecht, um am Hotel vorzufahren. Dank seiner Haltung bekamen sie ein Zimmer im zweiten Stock.

      Die erste Morgensonne aber sah Diederich schon wieder in den Straßen. „Der Kaiser steht früh auf“, hatte er Guste bedeutet, die nur aus den Kissen grunzte. Übrigens [pg 391]konnte er sie nicht brauchen bei seiner Aufgabe. Den Finger auf dem Plan der Stadt, gelangte er bis vor den Quirinal und stellte sich hin. Der stille Platz war hellgolden von schrägen Strahlen, grell und wuchtig im leeren Himmel stand der Palast – und gegenüber Diederich, der Majestät gewärtig, auf vorgestreckter Brust den Kronenorden vierter Klasse. Die Treppen herauf aus der Stadt trippelte eine Ziegenherde und verschwand hinter dem Brunnen und den riesigen Rossebändigern. Diederich sah sich nicht um. Zwei Stunden vergingen, die Passanten wurden häufiger, eine Schildwache war hinter ihrem Haus hervorgekommen, in einem der beiden Portale bewegte sich ein Portier, und mehrere Personen gingen ein oder aus. Diederich ward unruhig. Er machte sich näher an die Fassade heran, strich langsam vorbei, gespannt ins Innere spähend. Bei seinem dritten Erscheinen führte der Portier, ein wenig zögernd, die Hand an den Hut. Als Diederich stehenblieb und zurückgrüßte, ward er vertraulich. „Alles in Ordnung“, sagte er hinter der Hand; und Diederich nahm die Meldung mit einer Miene des Einverständnisses entgegen. Es schien ihm nur natürlich, daß man ihn über das Wohlergehen seines Kaisers unterrichtete. Seine Fragen, wann der Kaiser ausfahren werde und wohin, wurden anstandslos beantwortet. Der Portier verfiel von selbst darauf, daß Diederich, um den Kaiser zu begleiten, einen Wagen brauchen werde, und er schickte danach. Inzwischen hatte ein Häuflein Neugieriger sich gebildet, und dann trat der Portier beiseite; hinter einem Vorreiter, im offenen Wagen, erschien, unter dem Blitzen seines Adlerhelms, der blonde Herr des Nordens. Diederichs Hut flog schon, Diederich schrie, wie aus der Pistole geschossen, auf italienisch: „Es lebe der [pg 392]Kaiser!“ Und gefällig schrie das Häuflein mit ... Diederich aber, ein Sprung in den Einspänner, der bereitstand, und los, hinterdrein, den Kutscher angefeuert mit rauhem Schrei und geschwungenem Trinkgeld. Und sieh: schon hielt er, dahinten nahte erst der Allerhöchste Wagen. Als der Kaiser ausstieg, war wieder ein Häuflein da, und wiederum schrie Diederich auf italienisch ... Wache gehalten vor dem Haus, worin sein Kaiser weilte! Die Brust heraus und angeblitzt, wer sich in die Nähe traute! Nach zehn Minuten war das Häuflein neu vervollständigt, der Wagen entrollte dem Tor, und Diederich: „Es lebe der Kaiser!“ – und, im Echo des Häufleins, wildbrausend zurück zum Quirinal. Wache. Der Kaiser im Tschako. Das Häuflein. Ein neues Ziel, eine neue Rückkehr, eine neue Uniform, und wieder Diederich, und wieder jubelnder Empfang. So ging es weiter, und nie hatte Diederich ein schöneres Leben gekannt. Sein Freund, der Portier, unterrichtete ihn zuverlässig, wohin man fuhr. Auch kam es vor, daß ein salutierender Beamter ihm eine Meldung machte, die er herablassend entgegennahm, oder daß einer Direktiven zu erbitten schien – und dann erteilte Diederich sie in unbestimmter Form, aber gebieterisch. Die Sonne stieg hoch und höher; vor den brennenden Marmorquadern der Fassaden, hinter denen sein Kaiser weltumspannende Unterredungen pflog, litt Diederich, ohne zu wanken, Hitze und Durst. So stramm er sich hielt, war es ihm doch, als sinke sein Bauch unter der Last des Mittags bis auf das Pflaster herab und als schmelze ihm auf der Brust sein Kronenorden vierter Klasse ... Der Kutscher, der immer häufiger die nächste Kneipe betrat, empfand endlich Bewunderung für das heldenhafte Pflichtgefühl des Deutschen und brachte ihm Wein mit. [pg 393]Neues Feuer in den Adern, machten sich beide an das nächste Rennen. Denn die kaiserlichen Renner liefen scharf; um ihnen vorauszukommen, mußte man Gassen durchjagen, die aussahen wie Kanäle und deren spärliche Passanten sich schreckensvoll gegen die Mauer drückten; oder es hieß aussteigen und Hals über Kopf eine Treppe nehmen. Dann aber stand Diederich pünktlich an der Spitze seines Häufleins, sah die siebente Uniform aussteigen und schrie. Und dann wandte der Kaiser den Kopf und lächelte. Er erkannte ihn wieder, seinen Untertan! Den, der schrie, den, der immer schon da war, wie Swinegel. Diederich, federnd vor Hochgefühl über die Allerhöchste Aufmerksamkeit, blitzte das Volk an, in dessen Mienen heiteres Wohlwollen stand.

      Erst die Versicherung des Portiers, daß Seine Majestät nun frühstücke, erlaubte es Diederich, sich Gustes zu erinnern. „Wie siehst du aus!“ rief sie bei seinem Anblick und zog sich gegen die Wand zurück. Denn er war rot wie eine Tomate, völlig aufgeweicht, und sein Blick war hell und wild wie der eines germanischen Kriegers der Vorzeit auf einem Eroberungszuge durch Welschland. „Dies ist ein großer Tag für die nationale Sache!“ versetzte er mit Wucht. „Seine Majestät und ich, wir machen moralische Eroberungen!“ Wie er dastand! Guste vergaß ihren Schrecken und den Ärger über das lange Warten: sie kam herbei mit liebevollen Armen, und demütig rankte sie sich an ihm hinauf.

      Aber kaum das Stündchen zum Essen gönnte Diederich sich. Er wußte wohl, nach dem Mittagsmahl ruhte der Kaiser; dann hieß es, unter seinen Fenstern Wache stehen und nicht weichen. Er wich nicht; und der Erfolg zeigte, wie recht er tat. Denn noch hielt er seinen Posten, dem [pg 394]Portal gegenüber, nicht achtzig Minuten lang besetzt, als es geschah, daß ein verdächtig aussehendes Individuum unter Benutzung einer kurzen Abwesenheit des Portiers sich einschlich, sich hinter eine Säule drückte und im lauernden Schatten Pläne barg, die nicht anders sein konnten als unheilvoll. Da aber Diederich! Wie den Sturm und mit Kriegsgeschrei sah man ihn über den Platz tosen. Aufgescheuchtes Volk stürzte sofort hinterdrein, die Wache eilte herbei, im Portal lief Dienerschaft zusammen – und alle bewunderten Diederich, wie er einen, der sich versteckt hatte, wild ringend hervorzerrte. Die beiden schlugen dermaßen um sich, daß nicht einmal die bewaffnete Macht an sie herankam. Plötzlich sah man Diederichs Gegner, dem es gelungen war, den rechten Arm zu befreien, eine Büchse schwingen. Atemlose Sekunden – dann tobte die aufheulende Panik dem Ausgang zu. Eine Bombe! Er wirft!... Er hatte schon geworfen. In der Erwartung des Knalles lagen die nächsten, im voraus wimmernd, am Boden. Diederich aber: weiß auf Gesicht, Schultern und Brust stand er da und nieste. Es roch stark nach Pfefferminz. Die Kühnsten kehrten um und untersuchten ihn mit der Nase; ein Soldat unter wallenden Federn betupfte ihn mit dem benetzten Finger und kostete. Diederich verstand wohl, was er hierauf der Menge mitteilte und weshalb sogleich in alle Gesichter das heitere Wohlwollen zurückkehrte, denn seit einem Augenblick blieb ihm selbst kein Zweifel mehr darüber, daß er mit Zahnpulver beworfen war. Dessenungeachtet behielt er die Gefahr im Auge, der der Kaiser, dank seiner Wachsamkeit, vielleicht entronnen war. Der Attentäter suchte – ganz vergebens – an ihm vorbei das Weite zu gewinnen: Diederichs eiserne Faust überlieferte ihn den Polizeiwächtern. [pg 395]Diese stellten fest, daß es sich um einen Deutschen handelte, und baten Diederich, ihn zu inquirieren. Er unterzog sich der Aufgabe, trotz dem Zahnpulver, das ihn bedeckte, mit höchster Korrektheit. Die Antworten des Menschen, der bezeichnenderweise Künstler