Heinrich Mann

Gesammelte Werke


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seiner schleunigen Sorgen. Der alten Frau Heßling wurden nur schnell ein paar Tränen erlaubt, dann mußte sie wieder in das obere Stockwerk hinauf, wo früher nur das Dienstmädchen und die nasse Wäsche untergebracht waren und wohin Diederich jetzt seine Mutter und Emmi beseitigt hatte. Den Ruß von der [pg 401]Reise noch im Bart, begab er sich hintenherum zum Präsidenten von Wulckow, ließ darauf, nicht weniger unauffällig, Napoleon Fischer zu sich kommen und hatte inzwischen schon Schritte getan, um ohne Verzug eine Zusammenkunft mit Kunze, Kühnchen und Zillich zu bewirken.

      Der Sonntagnachmittag erschwerte das Unternehmen; der Major konnte nur mit Mühe seiner Kegelpartie entrissen werden, den Pastor mußte man an einem Familienausflug mit Käthchen und Assessor Jadassohn verhindern, und der Professor befand sich in den Händen seiner beiden Pensionäre, die ihn schon halb betrunken gemacht hatten. Schließlich gelang es, alle im Lokal des Kriegervereins zusammenzutreiben, und Diederich eröffnete ihnen ohne weiteren Zeitverlust, daß ein nationaler Kandidat aufgestellt werden müsse und daß nach Lage der Dinge nur einer in Frage komme, nämlich Herr Major Kunze. „Hurra!“ rief Kühnchen ohne weiteres, aber die Miene des Majors zog sich noch gewitterhafter zusammen. Ob man ihn denn für naiv halte, knirschte er hervor. Ob man glaube, er lechze nach einer Blamage. „Ein nationaler Kandidat in Netzig, was dem passiert, darauf bin ich nicht neugierig. Wenn alles so gewiß wäre wie der nationale Durchfall!“ Diederich ließ dies keineswegs gelten. „Wir haben den Kriegerverein, den wollen die Herren in Rechnung stellen. Der Kriegerverein ist eine unschätzbare Operationsbasis. Von ihr aus schlagen wir uns in gerader Linie durch, wenn ich so sagen darf, bis zum Kaiser-Wilhelm-Denkmal, und dort wird die Schlacht gewonnen.“ „Hurra!“ schrie Kühnchen wieder, die beiden anderen aber wünschten doch zu wissen, was es mit dem Denkmal sei, und Diederich weihte sie ein in seine Erfindung – wobei er lieber darüber hinwegging, daß das Denkmal [pg 402]der Gegenstand eines Paktes zwischen ihm und Napoleon Fischer sei. Das freisinnige Säuglingsheim, so viel verriet er, war nicht populär, eine Menge Wähler ließen sich zu der nationalen Sache herüberziehen, wenn man ihnen aus dem Nachlaß des alten Kühlemann ein Kaiser-Wilhelm-Denkmal versprach. Erstens wurden dabei mehr Handwerker beschäftigt, und dann kam Betrieb in die Stadt, die Einweihung solch eines Denkmals zog weite Kreise, Netzig hatte Aussicht, seinen schlechten Ruf als demokratischer Sumpf zu verlieren und in die Gnadensonne zu rücken. Dabei dachte Diederich an seinen Pakt mit Wulckow, über den er auch lieber hinging. „Dem Manne aber, der so unendlich viel für uns alle erreicht und errungen hat“ – er zeigte schwungvoll auf Kunze – „dem Manne wird unsere liebe alte Stadt ganz sicher auch dereinst ein Denkmal setzen. Er und Kaiser Wilhelm der Große werden einander anblicken –“ „Und die Zunge zeigen“, schloß der Major, der bei seinem Unglauben verharrte. „Wenn Sie meinen, die Netziger warten nur auf den großen Mann, der sie mit klingendem Spiel in das nationale Lager führt, warum spielen Sie dann nicht selbst den großen Mann?“ Und er bohrte sich in Diederichs Augen. Aber Diederich riß sie nur noch ehrlicher auf; er legte die Hand auf das Herz. „Herr Major! Meine wohlbekannte kaisertreue Gesinnung hat mir schon schwerere Prüfungen auferlegt als eine Kandidatur für den Reichstag, und die Prüfungen, das darf ich sagen, hab’ ich bestanden! Dabei hab’ ich mich nicht gescheut, als Vorkämpfer der guten Sache, allen Haß der Schlechtgesinnten auf meine Person zu laden, und hab’ es mir dadurch unmöglich gemacht, die Frucht meiner Opfer selbst einzustecken. Mich würden die Netziger nicht wählen, meine Sache [pg 403]werden sie wählen, und darum trete ich zurück, denn sachlich sein heißt deutsch sein, und lasse Ihnen, Herr Major, neidlos die Ehren und die Freuden!“ Allgemeine Bewegung. Kühnchens Bravo klang tränenfeucht, der Pastor nickte weihevoll, und Kunze starrte, sichtlich erschüttert, unter den Tisch. Diederich aber fühlte sich leicht und gut, er hatte sein Herz sprechen lassen, und es hatte Treue, Opfersinn und mannhaften Idealismus ausgedrückt. Diederichs blond behaarte Hand streckte sich über den Tisch, und die braun behaarte des Majors schlug zögernd, doch kräftig hinein.

      Nach dem Herzen freilich ergriff bei allen vier Männern wieder die Vernunft das Wort. Der Major erkundigte sich, ob Diederich bereit sei, ihn zu entschädigen für die ideellen und materiellen Verluste, von denen er bedroht sei, falls er gegen den Kandidaten des freisinnigen Klüngels in die Schranken trete und ihm unterliege. „Sehen Sie wohl!“ – und er reckte den Finger gegen Diederich, der angesichts dieser Geradlinigkeit nicht gleich Worte fand. „So ganz koscher kommt Ihnen die nationale Sache auch nicht vor, und daß Sie mich durchaus ’rankriegen wollen, wie ich Sie kenne, Herr Doktor, hängt das mit irgendwelchen Fisimatenten Ihrerseits zusammen, von denen ich als gerader Soldat gottlob nichts verstehe.“ Hierauf beeilte Diederich sich, dem geraden Soldaten einen Orden zu versprechen, und da er sein Einverständnis mit Wulckow durchblicken ließ, war der nationale Kandidat endlich rückhaltlos gewonnen.... Inzwischen aber hatte Pastor Zillich es sich überlegt, ob seine Stellung in der Stadt es ihm erlaube, den Vorsitz des nationalen Wahlkomitees zu übernehmen. Sollte er die Zwietracht in seine Gemeinde tragen? Sein leiblicher Schwager Heuteufel war der Kandidat der Liberalen! Freilich, wenn man statt [pg 404]des Denkmals eine Kirche gebaut hätte! „Denn wahrlich, Gotteshäuser tun mehr denn je not, und meine liebe Kirche von Sankt Marien wird von der Stadt so sehr vernachlässigt, daß sie heute oder morgen mir und meinen Christen auf den Kopf fallen kann.“ Ohne Säumen verbürgte Diederich sich für alle gewünschten Reparaturen. Zur Bedingung machte er nur, daß der Pastor von den Vertrauensstellungen der neuen Partei alle diejenigen Elemente fernhalte, die schon durch gewisse Äußerlichkeiten berechtigte Zweifel an der Echtheit ihrer nationalen Gesinnung erregten. „Ohne in Familienverhältnisse eingreifen zu wollen“, setzte Diederich hinzu und sah Käthchens Vater an, der offenbar begriffen hatte, denn er muckte nicht.... Aber auch Kühnchen, der längst nicht mehr hurra schrie, meldete sich. Die beiden anderen hatten ihn, während sie selbst sprachen, nur mit Gewalt auf seinem Sitz festgehalten; kaum daß sie ihn losließen, riß er stürmisch die Debatte an sich. Wo mußte die nationale Gesinnung vor allem wurzeln? In der Jugend? Wie aber war das möglich, wenn der Rektor des Gymnasiums ein Freund des Herrn Buck war. „Da kann ich mir die Schwindsucht an den Hals reden von unseren glorreichen Taten im Jahre siebzig...“ Genug, Kühnchen wollte Rektor werden, und Diederich bewilligte es ihm großmütig.

      Nachdem dermaßen die politische Haltung auf der gesunden Grundlage der Interessen festgelegt war, konnte man sich mit gutem Gewissen der Begeisterung hingeben, die, wie Pastor Zillich erklärte, von Gott kam und auch der besten Sache erst die höhere Weihe lieh, und so begab man sich in den Ratskeller.

      In aller Frühe, als die vier Herren heimgingen, klebten an den Mauern zwischen den weißen Wahlaufrufen Heu[pg 405]teufels und den roten des Genossen Fischer die schwarzweißrot geränderten Plakate, die Herrn Major Kunze als Kandidaten der „Partei des Kaisers“ empfahlen. Diederich pflanzte sich so fest, als es ihm möglich war, davor auf und las mit schneidiger Tenorstimme. „Vaterlandslose Gesellen des aufgelösten Reichstages haben es gewagt, unserem herrlichen Kaiser die Machtmittel zu versagen, deren er zur Größe des Reiches bedarf.... Wollen uns des großen Monarchen würdig erweisen und seine Feinde zerschmettern! Einziges Programm: Der Kaiser! Die für mich und die wider mich: Umsturz und Partei des Kaisers!“ Kühnchen, Zillich und Kunze bekräftigten alles mit Geschrei; und da einige Arbeiter, die in die Fabrik gingen, erstaunt stehenblieben, drehte Diederich sich um und erläuterte ihnen das nationale Manifest. „Leute!“ rief er. „Ihr wißt gar nicht, was ihr für ein Schwein habt, daß ihr Deutsche seid. Denn um unseren Kaiser beneidet uns die ganze Welt, habe mich soeben im Ausland persönlich davon überzeugt.“ Hier schlug Kühnchen mit der Faust auf dem Anschlagbrett einen Tusch, und die vier Herren schrien hurra, indes die Arbeiter ihnen zusahen. „Wollt ihr, daß euer Kaiser euch Kolonien schenkt?“ fragte Diederich sie. „Na also. Dann schärft ihm gefälligst das Schwert! Wählt keinen vaterlandslosen Gesellen, das verbitte ich mir, sondern einzig den Kandidaten des Kaisers, Herrn Major Kunze: sonst garantiere ich euch keinen Augenblick für unsere Stellung in der Welt, und es kann euch passieren, daß ihr mit zwanzig Mark weniger Lohn alle vierzehn Tage nach Haus geht!“ Hier sahen die Arbeiter stumm einander an, und dann setzten sie sich wieder in Bewegung.

      Aber auch die Herren verloren keine Zeit. Kunze selbst [pg 406]ging auf steifen Beinen an die Aufgabe, den Mitgliedern des Kriegervereins den Standpunkt klarzumachen. „Wenn die Kerls glauben,“ erklärte er, „sie können künftig noch den freien Gewerkschaften angehören! Den Freisinn treiben wir ihnen auch