Clara Viebig

Der Vielgeliebte und die Vielgehaßte


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      Clara Viebig

      Der Vielgeliebte und die Vielgehaßte

      Roman

      Saga

      Clara Viebig wurde 1860 in Trier geboren, verbrachte ihre Jugend in Düsseldorf und in Westpreußen und lebte seit 1883 in Berlin. Sie war verheiratet mit dem Verlagsbuchhändler Fritz Th. Cohn. Während der Naziherrschaft war sie bis zum Tod ihres Mannes Verfolgungen ausgesetzt. Sie starb 1952 in Berlin. Ihre zahlreichen Romane und Erzählungen, die sie zu einer der meistgelesenen Autorinnen ihrer Zeit machten, sind vom Naturalismus geprägt.

      I

      Es ist heute ein trister Tag, wie der König denkt – eine große solennité funèbre, dieses Zurneigegehen der Natur. Der König geht gebückt, so, als suche er etwas auf der Erde. Die mageren Hände, über die die Spitzenmanschetten, achtlos zerknittert, fallen, hat er beide auf dem Rücken zusammengelegt, sie halten den Krückstock. Seine Stirn, hoch und gebietend, aber vergilbt vom Alter und gefurcht von vielen Gedanken, neigt sich noch tiefer. Sein Fuß scharrt in dem braunen, vom schon kalten Nebel der Nacht gefeuchteten, herb bitterlich riechenden Laub, das der Herbstwind zusammengetrieben hat hier vor dem Freundschaftstempel, den er der Schwester Wilhelmine, der Markgräfin von Bayreuth, zum Gedächtnis hat errichten lassen im Park von Sanssouci. Sie ist tot, er hat sie geliebt, sie hat ihn geliebt – wer liebt ihn noch? Er lächelt bitter: sein Volk? Ein Roß, das stolpert; man muß es zuweilen den Stock fühlen lassen, damit es weiß, es hat zu parieren. Und ‹ces gens-là?!› Sein Lächeln wird geringschätzig, die Winkel der schmal gewordenen, eingekniffenen Lippen ziehen sich herab. Er denkt an den Neffen, den Prinzen Friedrich Wilhelm von Preußen; der liebt ihn sicherlich nicht, hat auch keine Veranlassung dazu. In dessen Affären hat er mehr als einmal hineingespukt, ihn nicht im Potsdamer Stadtschloß wohnen lassen, sondern in einem Haus am Markt, hat den Prinzen von Preußen jeden Tag zur Parade befohlen, ihm die vielen Amüsements in Berlin erschwert – ‹eine Reise nach Berlin darf er nur mit meiner Permission antreten›. ‹Ces gens-là› – die Vertrauten wissen, wer damit gemeint ist, wenn der König das so wegwerfend sagt. Hat sich behängt mit Weibern, wie ein Schellenbaum hängt voller Schellen, trotzdem er schon zum zweitenmal verheiratet ist. Erst 65 die Braunschweigerin – Braunschweigerinnen bringen kein Glück. Der König denkt flüchtig an die seine von Braunschweig-Bewern: die saß nun schon seit vierzig Jahren im Schlößchen Schönhausen hinter Berlin. Zweimal im Jahr sieht er sie bei den großen höfischen Festlichkeiten, aber er richtet nicht einmal das Wort an sie. Jetzt hat der Prinz von Preußen – 69 geschieden – eine von Hessen-Darmstadt; Kinder genug da, ganz brave Frau, diese Friederike Luise, aber sie kann den Kopf nicht gradehalten, wackelt beständig mit ihm, und spricht sie, dann stockert sie, die Worte fallen ihr aus dem Mund wie Brocken. Und sie glaubt an Gespenster. Der König lächelt sarkastisch: es muß nicht sehr amüsant sein bei ihr. Desto amüsanter findet der Prinz es bei andern.

      Eine Welle von Zorn steigt in das alte Gesicht, dessen Haut sich wie dünnes vergilbtes Pergament über die Knochen spannt: da pokuliert er die Nächte durch, feiert Orgien, lautes Gelächter dringt bis auf die Straße, Zweideutigkeiten gelten für Witz; seine Schranzen lispeln: ‹Herrliche Zeiten, wenn soviel Leutseligkeit auf Preußens Thron kommt!› Des Königs Hände umkrampfen fester den Stock: Schmeichler, verlogene Gesellen! Und die Weiber? Huren!

      Wenn er diese Nächte und die Madames nicht läßt, wird der Thronfolger mit vierzig keine Haare mehr haben und keine Zähne. Er wird alt werden vor der Zeit. Über das eben noch höhnisch verzogene, fast boshaft erscheinende alte Gesicht legt sich tiefste Bekümmernis, in der es nicht fehlt an einer gewissen Reue: hätte er nicht mehr auf den Neffen achten müssen, sich den Nachfolger besser erziehen? Für Preußen erziehen. Für das Preußen, um das er selber so schwer gerungen hat, so viel gelitten, allein, ganz allein auf sich selber gestellt. Dessen Heer er vermehrt, dessen geringe Staatseinkünfte er auf viele Millionen Taler gebracht hat.

      Die welken Hände, auf dem Rücken zusammengelegt, tun sich auseinander, sie fingern unruhig, bis sie sich abermals um den Krückstock zusammenschließen. Wenn er starb – und das konnte bald sein, war er denn nicht müde, müde comme un chien – was dann? Was dann?! Gearbeitet, immer gearbeitet, Kriege geführt! Erster schlesischer Krieg: das Land bis zur Oppa und die Grafschaft Glatz gewonnen, Bündnis mit Frankreich gegen Maria Theresia. Zweiter schlesischer Krieg: Preußen Großmacht geworden, und er selber, der kleine König, Friedrich der Große. Dritter schlesischer Krieg: berühmtester aller Monarchen, aber auch angefeindet von ganz Europa; Rußland mit Österreich im Bündnis gegen ihn, Preußen, von Frankreich und England im Stich gelassen, ganz isoliert. Überall geheime Abmachungen gegen Preußen, das ihnen zu mächtig zu werden schien. Sieben Jahre lang dann gekämpft, gekämpft und gelitten in Schweiß und Blut. ‹Ein Mensch bin ich und daher zum Leiden geboren, aber den Schlägen des Schicksals setze ich meine Standhaftigkeit entgegen›, hatte er so nicht einst an Wilhelmine geschrieben? Und jetzt?

      «Müde comme un chien», murmelt der alte König und bohrt den Blick tief in das braune verwesende Laub, das sich um Wilhelminens Gedächtnistempel häuft. «So fault alles dahin, das Laub und der Mensch – und wozu und warum das alles? Eine einzige große solennité funèbre das ganze Leben!»

      ‹Ich arbeite für Sie›, hatte er so nicht einst dem Thronfolger geschrieben? ‹Sie aber müssen daran denken, zu erhalten. Wenn Sie desinteressiert oder träge sind, wird nichts von dem bleiben, was ich mit so vieler Mühe zusammengetragen habe.› «Ach!» Der alte Mann seufzt. Er wird ihm nun nichts mehr schreiben und auch nichts mehr sagen. Doch alles umsonst. Fünfzig Millionen Taler werden sich nach seinem Tode im Staatsschatz finden – Tabaksmonopol und Kaffeesteuer sind einträglich, die Schnüffler, die den Weibern in den Kaffeetopf schnüffeln, passen gut auf – aber Feste über Feste, Weiber immer Weiber, Schulden über Schulden, wie lange werden da die Millionen vorhalten? Schmeichler haben das Vertrauen des Königs, Huren regieren. Ob Hertzberg, den er sich selber erzogen, mit all seinen Intentionen vertraut gemacht hat, ob dieser Minister nach dem Tod des alten Königs wohl den Mut haben wird, so vor den Neuen zu treten: – ‹Seine hochselige Majestät, der alte König, haben mir befohlen, Hochdero daran zu erinnern, daß Sparsamkeit dringend vonnöten ist, allzugroße Ausgaben und – bei allem untertänigsten Respekt – Schulden und Zuwendungen aller Art an Hochdero Demoisellen sind zu vermeiden. Es geht hier nicht allein um die ersparten Millionen, es geht um die Dynastie, es geht um Preußen!› – ob Hertzberg das wohl fertigbringen würde? Ein zweifelnder Zug zieht des Königs Mundwinkel abwärts: Menschen sind Menschen, mit aller Schwachheit angetan. Es gehört in der Tat viel Bravour dazu, eine größere als in der Bataille, vor Königsthronen unangenehme Wahrheiten zu sagen. Und wenn Hertzberg das wirklich über sich gewänne, ob der Neffe darauf hören würde, sich besinnen, daß Preußens Lage trotz allem noch nicht gesichert ist? Feinde überall. Das Heer noch vergrößern, unermüdlich vergrößern, sich ein schlagfertiges Heer halten! Aber das kostet Geld, viel Geld.

      Der König holt tief Luft und stößt mit dem Fuß unmutig in den Haufen herbstlicher Blätter, daß sie aufwirbeln, dahinfegen und verwehen. Soll denn alles dahingehen, was er geschaffen hat? Nein, noch lebt er, trotzt dem Tod immer wieder. Aber er muß eilen, daß er’s noch fertig bringt, den Bund der kleineren Reichsfürsten zu gründen, um so gegen die gefährliche habsburgische Politik einen Block zu bilden. Und Preußen, sein Preußen muß dessen Führung übernehmen!

      Der König atmet tief auf, versucht den gebückten Rücken grade zu richten: das wäre eine letzte Tat! Es muß ihm noch gelingen, die unsicher zaudernden kleinen Staaten unter den Fittichen des preußischen Adlers zu sammeln. Das war das, was er noch an Bedeutung seinem Nachfolger hinterließ, und dann konnte er schlafen gehen. Schlaf! Er streckt wie sehnsüchtig seine Hände aus, der Krückstock entfällt ihm: Schlaf ohne ein Auferstehn. «Le plus beau jour de la vie est celui, où l’on la quitte pour toujours», murmeln die dünnen Lippen.

      Ein plötzlicher Windstoß faucht den Einsamen an, ihn fröstelt. Er müht sich vergebens, den Stock aufzuheben, aber der Rücken, die Knie sind ihm zu steif. Er hätte doch besser daran getan, sich in der heut herbstlichen Kühle nicht so lange hier aufzuhalten. Die Gicht, die miserable Gicht – ein Malefizleben! Selle und Cothenius haben schon recht: nicht auf feuchtkaltem Boden stehen, von Sanssouci nach dem Potsdamer Stadtschloß übersiedeln. Ah bah, er denkt nicht daran, seine geliebte Vigne schon zu verlassen! Ärzte: